Auch wenn es manchmal populistisch formuliert wird: Im Zentrum der weltweiten Proteste vom globalen Aktionstag am 15. Oktober 2011 bis hin zu Occupy Gezi Park steht der sich verschärfende Widerspruch zwischen Demokratie und Profit. Diese Wahrnehmung ist längst nicht mehr auf Massenmobilisierungen oder die radikale Linke beschränkt.
Wie lässt sich aus linksradikaler Perspektive damit umgehen? Dient das Schlagwort «Demokratie» nicht der Legitimierung von parlamentarischem Ausverkauf und neo-imperialem Krieg? Kann sich eine um emanzipatorische Kämpfe bemühte Praxis positiv auf einen solchen Begriff beziehen? Wenn wir Marx darin ernst nehmen wollen, dass sich die Bedingungen der wirklichen Bewegung aus den jetzt bestehenden Voraussetzungen ergeben, dann sehen wir das Verlangen nach Demokratie als Gemeinsamkeit der existierenden Kämpfe. Daher sollten wir «Demokratie» auf ihre radikalen und emanzipatorischen Potentiale hin befragen.
Krise als kapitalistische Landnahme
«Stell dir vor, es ist Krise und alle reden vom Wetter», schrieb die arranca!-Redaktion im Juli 2010. Damals transportierten die hiesigen Mainstream-Medien die Botschaft, die Finanzkrise sei vorbei und wir könnten weiter machen als wäre nichts geschehen. In der EU konnten die herrschenden Kapitalfraktionen die Krise für massive Umstrukturierungen nutzen und neue Akkumulationsformen erschließen. Verwertungszwänge drangen seitdem noch tiefer in alle Schichten unseres alltäglichen Lebens ein, die Erschließung von immer neuen, immer schwieriger zu erreichenden Ressourcen wird in rasantem Tempo vorangetrieben. Im institutionellen Kontext der Europäischen (Währungs-)Union wurde die Krise politisch genutzt, um soziale Rechte abzubauen und die von Angela Merkel geforderte «marktkonforme Demokratie» durchzusetzen. In diesem Begriff wird die völlige Sinnentleerung des Konzepts der bürgerlichen Demokratie deutlich.
Im umkämpften Raum der Europäischen Union können sich immer wieder die Interessen einflussreicher Kapitalfraktionen wie des Finanzkapitals durchsetzen. Demokratische Kontrolle wird stetig weiter eingeschränkt und die Lebensbedingungen vor allem in den südlichen EU-Staaten durch neoliberale Sparpakete immer prekärer. Die politischen Eliten fahren damit blindlings fort, obwohl diese Art der Neoliberalisierung selbst nach ihren eigenen kapitalistischen Standards keine Lösung der Krise in Sichtweite rückt.
Niemand gesteht ein, dass die europäische Krisenpolitik in eine Sackgasse geführt hat. Auch den Versuch, Alternativen zu formulieren, unternimmt niemand mehr. Durch ihre ängstliche Haltung entfernen die politischen Eliten sich mehr und mehr von den Ideen und Praktiken der Bevölkerungen, die an vielen Orten aufstehen und diese Wahrheit aussprechen. Denn faktisch ist eine kollektive Artikulation von Widerstand, eine andere Erzählung am Entstehen. Krisenverwaltung als Strategie des Regierens wird immer häufiger als Enteignungsstrategie von oben entlarvt: «Diese Krise ist ein Betrug!» hieß es dementsprechend auf den Plätzen in Spanien und Griechenland.
Noch mehr Liberalisierung, Flexibilisierung, Privatisierung, Technokratisierung mit autoritären Tendenzen? – Diesen laut der there-is-no-alternative-Doktrin des europäischen Krisenmanagements unumgänglichen Maßnahmen folgt die Antwort der Millionen, die in den letzten Jahren auf die Straßen und Plätze gegangen: there can only be alternatives.
Von Transformationsstrategien und konstituierender Macht
FelS hat sich 2010 in zwei Ausgaben der arranca! mit Transformationsstrategien beschäftigt.1 Wir diskutierten das Fehlen und die Diskreditierung linker Utopien, den marktkonformen neoliberalen Individualismus und Unzulänglichkeiten einiger aus der globalisierungskritischen Bewegung geerbter Ideen wie die fast dogmatische Ablehnung von Institutionen. Um gesellschaftlich relevanter zu werden, sollte die Linke in existierenden Alltagskämpfen nach gemeinsamen Bedürfnissen und Wünschen suchen und diese organisieren, schrieben wir. Es sollte nicht um theoretisch erwünschte, sondern um die Auseinandersetzung mit realen Subjektivitäten gehen – darum, diese anzuerkennen und anzusprechen ohne dabei unsere eigene soziale Verortung aus den Augen zu verlieren. Wir identifizierten Wünsche nach Kollektivität, Würde und Sinn in existierenden gesellschaftlichen Kämpfen. Daraus schlossen wir, dass sich unsere Praxis stärker auf das Alltagsleben richten sollte, um Gegenentwürfe zu entwickeln, die mit konkreten Perspektiven verbunden sind. Solche Gegenentwürfe haben nur dann eine Chance auf gesellschaftliche Akzeptanz, wenn sie sich mit realen Machtstrukturen auseinandersetzen.
Nach 2010 haben die globalen Aufstände und Bewegungen begonnen, diese Herausforderungen von fehlenden linken Utopien, neoliberalem Individualismus und dogmatischer Ablehnung von Institutionen anzugehen. Trotz all ihrer Schwierigkeiten erscheinen uns die Praktiken, die sich aus der Bewegung der Platzbesetzungen entwickelt haben, als erste Anzeichen gesellschaftlicher Gegenentwürfe: Netzwerke solidarischer Ökonomie, die Aneignung sozialer Infrastruktur, direktdemokratische Praktiken von Nachbarschaftsversammlungen basieren auf partizipativer Organisation und sozialer Gleichheit, sie entwerfen Politikformen, die auf menschlichen Bedürfnissen und Wünschen aufbauen. Wir erfahren von neuen Subjektivitäten, die in der Produktion von neuen Formen des Gemeinsamen entstehen – in der spanischen 15M-Bewegung oder den griechischen Solidarstrukturen.
Dabei bleiben diese Bewegungen nicht beim Zurückweisen der bestehenden Institutionen stehen. Sie wollen Macht beanspruchen und aufbauen, Organisationsformen entwickeln, die aus Prinzipien und Praktiken der Bewegungen Institutionen entstehen lassen. An vielen Orten, am konkretesten wohl in Spanien, haben die gegenwärtigen Bewegungen konstituierende Räume eröffnet und begonnen, einen konstituierenden Prozess als Perspektive einer radikalen Transformation der Gesellschaft zu diskutieren.
Die Perspektive des konstituierenden Prozesses hat durch diese Bewegungen und ihre Suche nach Demokratie eine neue Bedeutung erlangt. Konstituierende Prozesse in Südamerika, allen voran der bolivarianische Prozess in Venezuela, waren dabei ein erster Anknüpfungspunkt. Mit der Idee, dass konstituierende Prozesse auch für den europäischen politischen Raum eine relevante Perspektive darstellen könnten, wurden wir im November 2012 konfrontiert. Einige von FelS nahmen an der Agora99 in Madrid teil, einem Treffen, bei dem Erfahrungen aus den Aufständen und Mobilisierungen im euro-mediterranen Raum ausgetauscht wurden. Hier kamen wir in direkten Kontakt mit Aktivist_innen der 15M-Bewegung.
Unsere Gastgeber_innen in Madrid warben für einen konstituierenden Prozess: «Reset Europe!» Hintergrund war ihre Beteiligung an der massenhaften Umzingelung des Parlaments (25s) mit der Botschaft «Que se vayan todos!» – «Die sollen alle abhauen!» 25s nahm Impulse aus dem kreativen Widerstand auf, der sich in Argentinien nach der Schuldenkrise von 2001 entwickelt hatte. Zugleich stellte 25s eine Eskalation des Konflikts in einer Situation dar, in der 49 Prozent der spanischen Bevölkerung sich für «Reformen und tiefgreifenden Wandel» aussprachen und 77 Prozent den Argumenten der 25s-Koordinierung zustimmten, die «eine Entführung der Volkssouveränität durch Troika und Finanzmärkte, ausgeführt unter Beteiligung und Toleranz der meisten politischen Parteien» zur Begründung ihrer Forderung nach Auflösung des Parlaments nannten. «Wir besitzen die Möglichkeiten und die kollektive Intelligenz, Entscheidungen zu treffen und die Gesellschaft aufzubauen, die wir möchten. Wir brauchen keine falschen Vermittler, sondern kollektive Werkzeuge, die die politische Beteiligung aller an den gemeinsamen Themen aktiv ermutigen», verbreitete 25s die Idee eines konstituierenden Prozesses in der spanischen Gesellschaft.
Die Idee des konstituierenden Prozesses in Spanien besteht darin, Normen und Werte der Bewegung in eine Charta politischer und sozialer Rechte zu fassen. Dies könnte in einem Beratungsprozess geschehen, an dem die unterschiedlichen Organisierungsinstanzen der Bewegung beteiligt wären: Nachbarschaftsversammlungen, Plattformen wie die Pah, Belegschaftsversammlungen etc. Die Erfahrungen von 15M mit internetbasierten Instrumenten haben bei vielen den Eindruck hinterlassen, dass diese eine wichtige Rolle in einem solchen Prozess spielen könnten. Im Mittelpunkt stehen Befragungen um konstituierende Forderungen wie das Recht auf freie Bildung, reproduktive Rechte, Bewegungsfreiheit, Gesundheitsversorgung, Grundeinkommen, Gemeingüter, demokratische Beteiligung usw. In diesem Prozess könnte ein Dokument einer neuen Verfassung der Gesellschaft entstehen. Diese könnte eine radikal von einer bürgerlichen Fassung verschiedene Form annehmen sowie andere Konzepte von Eigentum entwickeln. Ein solcher konstituierender Prozess hätte formelle und materielle Dimensionen: Die materielle Macht der Bewegung würde den formalen Prozess stärken, die Formalisierung von Forderungen der Bewegung umgekehrt materielle Errungenschaften ermöglichen. Ein Prozess auf Grundlage der Organisationsformen von 15M würde eine gesamtgesellschaftliche Beteiligung unabhängig von Aufenthaltsstatus und Geschlecht ermöglichen. Er wäre offen, auf praktisches Ausprobieren und Lernen gerichtet, auf eine Kultur des Experimentierens, in der viele Fragen nicht von vornherein beantwortet wären.
Diese Vorstellung entstand in Spanien aus einer Situation heraus, in der breite Bevölkerungsschichten in der Mobilisierung gegen Troika und Regierung konkrete politische Praktiken entwickelten, aus denen neue Vorstellungen radikaler Demokratie entstanden sind. Die mobilisierte Bevölkerung wird als konstituierende Macht sichtbar, als gesellschaftliche Macht außerhalb der Regierungsinstitutionen, die soziale Normen und Beziehungen verändern kann. Eine transnationale Perspektive auf und in konstituierenden Prozessen ermöglicht auch einen alternativen Zugang zur Frage nach der Zustimmung oder Ablehnung zum Europa der EU.
Konstituierende Prozesse und Gemeingüter
Womit wir bei der Frage ankommen, ob konstituierende Prozesse auch in der Bundesrepublik, wo es keine mobilisierte Bevölkerung gibt, sinnvoll und wirkmächtig sein können. Die Bedingungen für einen konstituierenden Prozess sind hierzulande auf den ersten Blick kaum vorhanden. Auf einer konzeptionellen Ebene aber bietet der konstituierende Prozess eine konkrete Perspektive gesellschaftlicher Veränderung, die tief in Alltagspraktiken verwurzelt ist. Er stellt sich als historische Möglichkeit dar, die Forderungen und Artikulationsformen der globalen Aufstände auf vielfältige Weise zu verbinden. Von Orten zu lernen, an denen mehr in Bewegung geraten ist als hier, ermöglicht auch eine Weiterentwicklung unserer eigenen Praxis. Auch wenn ein konstituierender Prozess hier sicher nicht auf der gesellschaftlichen Tagesordnung steht, können wir konstituierende politische Ansätze aufspüren und uns zu ihnen ins Verhältnis setzen.
Konzeptionell entsteht konstituierende Macht gleichzeitig sowohl im Antagonismus zu bestehenden Institutionen des kapitalistischen Regimes als auch als innovative und inklusive gesellschaftliche Kraft. Sie entwickelt sich mit der wachsenden gesellschaftlichen Delegitimierung der bestehenden, als nutzlos empfundenen, Institutionen. Daraus entsteht die soziale Kraft, diese Institutionen zu umgehen und ausgehend von einer Organisierung sozialer Bedürfnisse neue Strukturen zu schaffen. Nur gemeinsam lässt sich ausreichend Druck aufbauen um Zugang zu Ressourcen zu beanspruchen, und nur gemeinsam können Räume für solidaritätsbasierte Produktion und Reproduktion geschaffen werden.
Was genau mit den bestehenden Institutionen geschehen soll, wie diese tatsächlich abgeschafft werden sollen – ob durch Wahlen oder andere Mittel, ob einige von innen her transformiert werden können – sind viel diskutierte und weiterhin offene Fragen. Es geht darum, die Werte und Praktiken der konstituierenden Macht in einem konstituierenden Prozess in formelle und materielle Realitäten zu übersetzen. Die konstituierende Macht muss dazu eine instituierende, das heißt eine Institutionen schaffende Kraft werden. Dabei bleibt zu fragen ob überhaupt Institutionen der konstituierenden Macht geschaffen werden können, oder ob Institutionalisierung vielmehr per se bedeutet, zu einer konstituierten Macht zu erstarren, die ständig wieder durch die konstituierende Macht unterbrochen werden muss.
In jedem Fall steht für uns die materielle Dimension eines konstituierenden Prozesses im Mittelpunkt. Die Interventionistische Linke diskutiert seit einiger Zeit «Vergesellschaftung» als Transformationsperspektive, international prägen «Commons» die Praxis und Debatten vieler Bewegungen. Um ihre Lebensbedingungen zu sichern, muss die konstituierende Macht über bürgerliche Eigentumsverhältnisse hinausgehen. «Commons» oder Gemeingüter beschreiben Formen von Eigentum jenseits der Dichotomie von privaten und öffentlich-staatlichen Gütern. «Commons» können von unterschiedlichen Leuten genutzt und erhalten werden, sie bleiben unveräußerliches Eigentum einer Gemeinschaft. Diese eignet sich die Kontrolle des Gemeinsamen direkt an, anstatt es staatlichem Management zu überlassen. Hier stehen wir vor dem Problem, dass diese Gemeinschaft im gegenwärtigen Kapitalismus fehlt. Der Aufbau von Gemeingütern muss deshalb mit einem konstituierenden Prozess einhergehen: Die konstituierende Macht muss sich erst formieren. In diesem Prozess entstehen Gemeinschaften, die selbst entscheiden, wie sie sich organisieren und zusammenleben wollen.
Möglichkeiten konstituierender Macht
Ist dies wirklich eine «neue» Perspektive? Stand die Entwicklung einer antagonistischen Macht von unten zur radikalen Veränderung der Gesellschaft nicht schon immer im Zentrum linker und emanzipatorischer Politik? Wenn wir den konstituierenden Prozess als Transformationsperspektive ernst nehmen wollen, bedeutet dies, in unserer politischen Praxis stärker über Proteste hinauszugehen und sie in eine konstituierende Richtung zu entwickeln.
Mit unseren unvollständigen Ideen zu diesen Fragen hoffen wir, weitere Diskussionen anzuregen. Während Rudi Dutschkes langer Marsch vorschlug, dass Revolutionär_innen in die Institutionen eindringen und diese von innen sprengen sollten, bleibt der zentrale Punkt des konstituierenden Prozesses der Fokus auf die konstituierende Macht. Diese muss sich nicht nur mit den bestehenden Institutionen auseinandersetzen, sondern neue schaffen. Dabei geht es nicht um Interventionen von Revolutionär_innen, sondern um soziale Macht und Kreativität von unten. Zwar kann innerhalb eines konstituierenden Prozesses die Entscheidung getroffen werden, die Forderungen der konstituierenden Macht auch innerhalb der bestehenden Machtapparate zu artikulieren. Der entscheidende Teil konstituierender Prozesse verbleibt jedoch stets außerhalb dieser Apparate und definiert sich durch deren Ablehnung.
Wo liegen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur autonomen Freiraumstrategie? FelS entstand aus der kritischen Auseinandersetzung mit der autonomen Bewegung – unter anderem aus einer Kritik an ihrer Unfähigkeit, kontinuierliche Formen politischer Organisierung oder gesamtgesellschaftlich relevante politische Perspektiven zu entwickeln. Während eine konstituierende Politik ein antagonistisches Verhältnis zu herrschenden Institutionen beinhaltet, basiert sie zugleich auf breiter gesellschaftlicher Beteiligung. Die offene Versammlung auf dem Platz ist konstituierend, der Rückzug in ein linksradikales Nischenprojekt ist es nicht. Hierbei ist auch die kulturelle Dimension von Bedeutung: In konstituierenden Prozessen geht es darum, zu lernen, mit heterogenen Gruppen und Individuen Politik zu machen, die die Gesellschaft bilden und eine Rolle in ihrer Veränderung spielen können – etwas womit die meisten Linksradikalen bisher wenig Erfahrung haben.
Wie verhält sich diese konstituierende Perspektive zur interventionistischen Strategie, die FelS im Rahmen der Interventionistischen Linken in den letzten Jahren verfolgt hat? Uns in bestehende soziale Konflikte einzumischen, Brüche auszuweiten, systemkritische Problemanalysen und Alternativen jenseits punktueller Reformen einzubringen.
Die IL verfolgte diesen Ansatz z.B. im Rahmen von Aktionen wie Dresden Nazifrei, Castor Schottern oder Blockupy Frankfurt. Diese Massenaktionen zivilen Ungehorsams produzieren individuelle und kollektive Ermächtigungserfahrungen und haben damit eine Komponente, die eine effektive Unterbrechung des Alltäglichen darstellt. Sie bleiben aber symbolisch und auf gesellschaftliche Diskursverschiebungen ausgerichtet.
Blockupy etwa stellt die Legitimität von Troika und Austeritätspolitik in Frage und zielt auf die Destabilisierung der hierzulande weiterhin hegemonialen herrschaftsförmigen Krisendeutung. Damit eröffnet die Aktion auch wichtige Debatten über demokratische Freiheitsrechte und die Legitimität ungehorsamer Protestformen. Ungehorsame Masssenaktionen bringen Menschen zusammen, sie schaffen jedoch nicht von selbst Räume für Austausch. Vor allem aber basieren sie nicht auf der Organisation von Bedürfnissen. Ein konstituierender Ansatz würde dagegen Identifikation, Ausdruck und Durchsetzung von Bedürfnissen in den Mittelpunkt politischer Praktiken rücken. Interventionistische und konstituierende Aspekte müssen sich dabei nicht ausschließen. In Berlin hat sich Blockupy daher als offene Plattform organisiert und dank unserer Intervention sollte die Demonstration in Frankfurt mit offenen Versammlungen enden – auch wenn dies vorerst der Polizeirepression zum Opfer fiel.
Die heutige Diskussion über konstituierende Forderungen erinnert uns an die Debatte um Richtungsforderungen innerhalb der IL. Diese sollen eine realpolitische Inanspruchnahme und autonome Aneignung von Rechten mit einem transformatorischen Überschuss verbinden. FelS hat zudem viel mit Befragungen und horizontalen Kommunikationsformen experimentiert: Auf der Mayday-Parade, bei der Berlinale und mithilfe einer militanten Untersuchung am Jobcenter Neukölln wollten wir Bedürfnisse, Widerstandsstrategien und mögliche gemeinsame Perspektiven herausfinden. Die AG Queerfeminismus versucht derzeit in einem Befragungsprojekt Realitäten von sozialer Reproduktion und Sorgearbeit in Erfahrung zu bringen und Wünsche und Bedürfnisse zu identifizieren. Bei der Beteiligung der Klima-AG am Berliner Energietisch geht es nicht zuletzt darum, im Hier und Jetzt, in den Grenzen des kapitalistischen Rechtssystems, die Möglichkeiten für soziale Auseinandersetzungen zu verbessern.
Ansätze für eine konstituierende Praxis sind also dennoch vorhanden. Doch sie müssten stärker in den Fokus unserer politischen Praxis gerückt werden: Welche Rolle kann linkradikale Organisierung in einer konstituierenden Perspektive spielen? Wie können Widerstands-und Organisierungserfahrungen weitergegeben und gleichzeitig ein gemeinsames Lernen ermöglicht werden? Radikale Perspektiven in neue Bewegungen einzubringen und reaktionäre Ansätze zurückzuweisen funktioniert jedenfalls nicht durch abstrakte Belehrung sondern nur durch gemeinsame Prozesse. Infrastruktur, Methoden und Erfahrungen bereitzustellen und neue Räume demokratischer Organisierung zu eröffnen könnte eine Aufgabe einer radikalen Linken sein, die dazu beitragen möchte, jene konstituierende Macht aufzubauen, die den herrschenden Zustand aufheben kann.