Zu Recht stehen Militante Untersuchungen derzeit hoch im Kurs – die letzte arranca! war ihnen sogar komplett gewidmet. Eine gerade angelaufene (Pilot-)Untersuchung unter der Leitfrage »Was macht uns krank?«, die in der letzten arranca! von Thomas Seibert vorgestellt wurde, stammt von der Initiative Globale Soziale Rechte (GSR).
Klinikbeschäftigte, LehrerInnen und Studierende, SeniorInnen in einem Wohnheim, Flüchtlingsfrauen und migrantische LandarbeiterInnen sind die Zielgruppen in den ersten Pilot-Projekten, die in sieben Städten durchgeführt werden. Die Befragungen sollen interaktiv sein, die Beteiligten zur Mitgestaltung bewegen, ihre häufig individualisierten Leiden als kollektive Erfahrung spürbar machen und insofern »Wut und Mut erzeugen«. Das unmittelbare Ziel heißt Empowerment. Was einem besseren Leben im Weg steht, soll parallel in verschiedenen sozialen Feldern anhand von gesundheitlichen Problemen zur Sprache gebracht werden. In manchen Befragungen werden Gruppengespräche in der Tradition des Motivational Interviewing geführt, welches davon ausgeht, dass die Quelle und Motivation für Veränderungen bei den Betroffenen selbst liegt. Andererseits kommen Methoden des Gesundheitsmappings zum Einsatz. Dieses beginnt in der Regel mit großen Körperbildern, die an der Wand befestigt werden und auf denen die Beteiligten zunächst ihre Schmerzpunkte selbst lokalisieren sowie sich gegenseitig erläutern können. Darüber ins Gespräch gekommen geht es in den nächsten Schritten um Gemeinsamkeiten, um Ursachen und um kurz- wie auch längerfristige Veränderungsvorschläge.
Zum Beispiel in Hanau
In den folgenden Eindrücken aus zwei Befragungsrunden mit einer kleinen Gruppe junger Flüchtlingsfrauen in Hanau zeigen sich die Stärken des Körpermappings beim Schaffen einer Gesprächsatmosphäre, die tatsächlich Mut und Wut erzeugt. Aber auch die Schwierigkeiten in Sachen Aktivierung wurden deutlich.
»Wir haben eine Menge erlebt«, sagt eine der jungen Frauen. »Wir haben über viele Jahre keine Zukunft gehabt. Wir wussten nicht, ob es morgens um halb sechs an der Tür klingelt und sie uns holen. Das Minimum, was ich erwarte, ist Respekt vor meiner Geschichte! Niemand fragt mich, warum ich morgens manchmal im Bett sitze und einfach nicht aufstehen kann, weil die Gedanken in meinem Kopf kreisen! Alle sagen immer: Jetzt hast du doch kein Problem mehr. Sie verstehen nichts! Ich trage meine Geschichte mit mir.« Respekt ist ein Wort, das häufig fällt. Die Erwartungen werden von den vier jungen Frauen scharf und präzise formuliert. Sie kennen sich bereits aus einem Bündnis für Bleiberecht, in dem 24 Familien gemeinsam um Bleiberecht kämpften. Sie kommen aus Kenia, Kongo und Kurdistan. Sie sind alle hier zur Schule gegangen und haben einen großen Teil ihres Lebens hier verbracht. Zwei haben es geschafft und eine Aufenthaltserlaubnis in der Tasche, zwei kämpfen sich noch immer von einer Duldung zur nächsten.
An der Wand hängen die Bilder eines Körpers. Die vier jungen Frauen haben auf den Bildern ihre Schmerzpunkte gesetzt. Über dem Kopf eine Wolke. Sie steht für alle Beschwerden, die sich nicht direkt körperlich verorten lassen. In ihr bilden sich Rastlosigkeit und Angst ab, Schlaflosigkeit und Depression, aber auch Wut. Die Wolke der Sorgen über dem Kopf sitzt auch in den Schmerzpunkten im Körper. Vor allem im Nacken. Wie ein Schwarm übersäen sie den Schulterbereich. Und beim Beschreiben der Schmerzen und ihrer Ursachen greift die Wolke nach und nach auf den restlichen Körper über. Der Magen, die Kopfschmerzen, die Schmerzen in der Brust »wie Stromschläge an dem Herzen« – abgesehen von den Schmerzen im Knie aufgrund einer alten Operation gibt es kaum Beschwerden, die nicht im Zusammenhang mit den vielfältigen Alltagssorgen stehen.
Da ist die Angst vor der Abschiebung, mit der alle vier lange gelebt haben, bei zweien ist der Aufenthalt noch immer extrem prekär. Da sind die Probleme in der Familie: »Ich will gleiche Rechte wie mein Bruder! Zum Beispiel selbst bestimmen können, wann ich rausgehen möchte.« Und immer gibt es zu viel Arbeit für immer zu wenig Geld. Zumal bei zweien die letzte Chance für einen gesicherten Aufenthalt an einem Härtefallantrag hängt, dessen Voraussetzung die Nichtabhängigkeit von Sozialleistungen ist. Die Duldung, die keine Arbeitserlaubnis beinhaltet und auch die schulische Weiterbildung behindert. Die Langeweile und die Perspektivlosigkeit. Die vierte ist vor allem überfordert vom Zeitmanagement: alleinerziehend mit kleinem Kind und dann noch mal Schule, damit vielleicht irgendwann mehr Geld rumkommt. Die Sorgen um andere wiegen trotzdem oft schwerer als die eigenen: »Wie geht es mit meinem Bruder weiter, der nach der Abschiebung eine Odyssee hinter sich hat?« – »Meine Mutter kann eigentlich nicht mehr.«
Von der Befragung zur Selbstuntersuchung und zurück – die Grenzen verschwimmen
Das Gespräch gewinnt eine eigene Dynamik. Das ursprüngliche Konzept verändert sich in seinem Verlauf. Die Zusammenhänge erschließen sich beim Beschreiben der umwölkten Schmerzpunkte auf dem Körper wie von selbst. Zugleich verändert sich die Gesprächsstruktur. Die Befragten werden phasenweise zu Fragenden, die Moderatorinnen werden aufgefordert, selbst ihre ›Sorgen‹-Schmerzpunkte zu setzen. Vor allem als das ›Sorgen um andere‹ ins Blickfeld gerät, entsteht plötzlich eine Situation, in der die ursprünglichen Rollen aufgehoben sind und sich alle Frauen auf gleicher Augenhöhe befinden. Für einen Moment scheint über die Parallelen weiblicher Sozialisation die Distanz der differenzierten Lebenssituationen zu schwinden. Wir befragen uns gemeinsam selbst. Die vier nehmen ab diesem Zeitpunkt die Befragung mit in die Hand: gegenseitig, vertrauensvoll und intensiv. Manchmal ist die Überwindung sichtbar, mit einem Ruck fassen sie sich ein Herz und sprechen aus, was sichtlich schwer fällt. Sie sind behutsam miteinander, die vorher ausgemachten Regeln des respektvollen Umgangs müssen nicht in Erinnerung gerufen werden. Wenn eine stockt, hakt eine andere nach, bietet eine Formulierung an, wenn die Worte fehlen.
Das Geld ist ein großes Problem: »Zehn Millionen im Lotto! Das würde alles andere lösen. Damit kriegst du hier auch jeden Aufenthalt.« Auf eine offene Arbeitserlaubnis und gute Arbeit für gutes Geld wird diese Maximalforderung von einer anderen heruntergebrochen. Aber: Was tun? Die Kernprobleme sind sehr verschieden, was das Geldverdienen und Arbeiten betrifft. Für die eine wäre der wichtigste Schritt, nicht mehr 50 Stunden die Woche unbezahlt im Döner-Laden ihres Bruders zu stehen. Der anderen reichen ihre vier Euro die Stunde nicht: 400 Euro für 25 Wochenstunden, daneben noch das unbezahlte Praktikum in der Ausbildung. Wir finden erstmal keinen gemeinsamen Ansatzpunkt: zu zersplittert sind die Verhältnisse. Vor dem Kampf um bessere Löhne steht oft die Notwendigkeit des Jobs für den Aufenthalt. Und solange die Ausbeutungs- und Familienstrukturen miteinander verwoben sind, verengen sich die Handlungsspielräume noch weiter.
Nein-sagen lernen wird dabei zum großen Wunsch. Wie kann ich in der Familie Grenzen setzen, ohne ganz mit ihr zu brechen? Ein wenig räumlichen Abstand finden und etwas Raum für mich. Eine dauerhafte Gratwanderung und auch hier wieder das Ringen um Respekt. Sich dem Druck entziehen können, kleine Verschiebungen erreichen. Zugleich nicht verlieren wollen, was in all den unsicheren Verhältnissen zumindest ›zu Hause‹ ist.
Der prekäre Aufenthalt bleibt zentral: Der Gang zur Ausländerbehörde schlägt sich schon Tage vorher im Körper nieder. Im Nacken sitzt die Sachbearbeiterin bei der einen. Die andere kann nichts essen vorher. Die dritte isst, um sich abzulenken. Alle haben die Erfahrung gemacht, dass kämpfen sich zwar lohnt. Denn alle glauben, dass sie längst nicht mehr hier wären ohne den gemeinsamen Kampf ums Bleiberecht. Trotzdem geht es zugleich auch um Überforderung und den starken Wunsch zu vergessen, wenn die ständige Konfrontation mit der eigenen Geschichte zu viel wird. Die politischen Aktivitäten verlangen viel – in der wenigen Zeit, die noch bleibt, wird jede geforderte Verbindlichkeit zur zusätzlichen Belastung. Und doch formuliert eine den Wunsch: lieber weniger arbeiten und mehr Zeit haben zum Kämpfen. Alle bedrückt das auch nach zähem Ringen noch nicht Gewonnene. Die abgeschobenen FreundInnen sind noch nicht zurückgekehrt. Erreichtes zu feiern geht darüber oft verloren. Wir denken über ein Fest nach, bei dem trotz allem die ›gewonnenen‹ Bleiberechtskämpfe gefeiert werden könnten.
Was tut uns gut? Das sind auch die kleinen Dinge. Wahrscheinlich würden es zunächst auch 20 Euro am Tag tun statt der utopischen zehn Millionen, sagt eine. Und: »Mir selbst Geschenke machen tröstet mich!« Einen Moment lang Prinzessin sein. Nicht zu viel Ruhe – sonst kreisen die Gedanken. Und immer wieder die Suche nach Orten, an denen andere über »meine Geschichte und meine Probleme« wissen. Und trotzdem kein Mitleid haben. Sie suchen nach kleinen Oasen, Orten der Begegnung im Alltag, um Kraft zu sammeln fürs weitere Durchwurschteln und vielleicht auch wieder, um gemeinsam laut zu werden. Keine der vier hat je in ihrem Leben Urlaub gemacht: einer der größeren kleinen Wünsche für die Zukunft!
Zurück in den Alltag
Wir verabreden uns: zuerst zwei Tage später für eine SMS. Denn zwei haben einen Termin bei der Ausländerbehörde, vor dem sie große Angst haben. Begleitung ist organisiert, wir schicken Umarmungen per SMS. Der Termin wird unversehrt überstanden. Der Urlaub soll zunächst mit einem eintägigen Picknick am See beginnen, für mehr reicht die Zeit nicht. Schon gar nicht, wenn alle zusammenkommen sollen. Am Sonntag zum verabredeten Salsa-Tanzen kommen dann nur zwei. Eine hat Kopfschmerzen und die vierte hat es seit Donnerstag wieder vergessen. ›Gemeinsam‹ ist schwer, wenn du von einem Tag auf den nächsten lebst und längerfristiges Planen lange aussichtslos war …
Die vier würden gerne weiterreden. Aber für wie viele kleine Grüppchen reicht die Zeit? Lassen sich diese Prozesse vertiefen und gleichzeitig erweitern? In Hanau entsteht gerade ein kleiner Verein Gemeinsam – für Wellen der Gerechtigkeit, der lauten Protest und die leisen Momente von gegenseitiger Hilfe und alltäglichem Durchschlagen als Kämpfe benennt. Akzeptiert sein mit meiner Geschichte im Gepäck, das war einer der Wünsche. In ihm lässt sich erahnen, dass es um nicht weniger als das ganze Leben geht.
Gesundheitsmapping weltweit
»Ein Bild sagt mehr als tausend Worte«, so lautet der Titel eines Leitfadens von TIE (einem weltweiten Netzwerk linker GewerkschafterInnen), der sich nicht nur auf zahlreiche positive Erfahrungen bei Beschäftigten in hiesigen Industriebetrieben bezieht. Das Gesundheitsmapping, das wir in der Hanauer Befragung abgewandelt ausprobiert haben, ist ursprünglich vor allem in Kanada und Brasilien entwickelt worden und hat sich dort als gewerkschaftliche Organisierungsmethode bewährt. In Brasilien arbeitet TIE seit 2003 mit über 130 Gewerkschaften des Dachverbandes CUT in acht Bundesstaaten. Dort haben bis zu 10000 Beschäftigte an den Befragungen teilgenommen. Das Befragungskonzept findet mittlerweile auch in Nigeria und Mozambique Nachahmung. Und in us-amerikanischen Worker Centers – jenen meist außergewerkschaftlichen Anlaufstellen für prekäre ArbeitsmigrantInnen – wird das Mapping ebenfalls erfolgreich für Empowerment-Prozesse eingesetzt: Es gehört dort zum holistic approach, also einer ganzheitlichen Herangehensweise, die unter anderem über Gesundheitsfragen die Ausbeutungs- und Aufenthaltssituation der MigrantInnen problematisiert und kollektive Veränderungsprozesse in Gang zu bringen versucht.
In den Gesundheitsmappings, die von TIE in hiesigen Betrieben durchgeführt werden, geht es zunächst um Veränderungen am Arbeitsplatz. Ganz konkret werden Gesundheitsbeschwerden und Gefährdungsanalysen aufgelistet. So stellte sich zum Beispiel in der Wäscherei bei Daimler Chrysler heraus, dass etwa 80 Prozent der Beschäftigten über dauerhafte oder zeitweilige Schmerzen im Rücken klagen. Ein erster Schritt ist die Umstellung von zwei Schweißmaschinen, die bisher den Einsatz rückenschonender Hubneigegeräten erschwerten. Das klingt nach Win-Win. Die ArbeiterInnen haben weniger Gesundheitsprobleme, der Betrieb läuft dafür geschmierter. Ob die Befragung darüber hinaus aktivierende und politisierende Momente entfalten, hängt nicht zuletzt an den beteiligten BetriebsrätInnen. Einer erklärt: »Der Mapping-Prozess ist auch eine Chance für uns als Betriebsräte. Selten kann man so viel hören, was die Kollegen bewegt. Der Prozess hat die Kollegen für ihre Interessen aktiviert. Sie haben dadurch für sie entscheidende Veränderungen erreicht. Die Kollegen werden sich auch zukünftig eher wehren, denn sie haben gemerkt, dass es sich lohnt etwas zu tun. Und es wurde für alle deutlich: Die Arbeit endet nicht am Fabriktor. Sie hat Auswirkungen auf unser Leben, auf unsere Träume und Wünsche.«
Für das bisher eher diskursorientierte Globale Soziale Rechte-Projekt sollen die Pilotprojekte der Gesundheitsbefragungen auch »den Sprung ins Praktische« ermöglichen. Über weitere Schritte wird sich in einem offenen Austauschtreffen im Juli in Frankfurt verständigt. Auch TIE, medizinische Flüchtlingshilfen sowie weitere ›neue‹ Interessierte aus dem Pflege- und Gesundheitsbereich haben zugesagt mitzudiskutieren, ob und wie sich verschiedene Ansätze und Erfahrungen aufeinander beziehen und womöglich in einer übergreifenden Kampagne bündeln lassen.