Zwischen Herbst 2003 und Spätsommer 2004 hat es im sozialen Bereich Bewegung gegeben, von denen in den Jahren zuvor kaum jemand zu träumen wagte. Zwar ist es nach diesem... na ja Tischfeuerwerk des Protests erstmal wieder ruhiger geworden, aber Unzufriedenheit und Protestpotential sind nach wie vor vorhanden, wie zahlreiche Konflikte auf betrieblicher Ebene und die anständig besuchte Demonstration gegen Sozialabbau am 3. Juni 2006 in Berlin belegen. Bevor es also in die nächste Runde geht, bleibt gerade etwas Zeit, um einen Rückblick auf die in den letzten Jahren gesammelten Erfahrungen zu wagen. Wir wollen an dieser Stelle einige der Versuche unter die Lupe nehmen, mit denen wir in den vergangenen Jahren versucht haben, in Sachen soziale Kämpfe aus dem Quark zu kommen: Es geht um Berlin umsonst, den Pinken Punkt und die Überflüssigen. In einem weiteren Artikel beschäftigen wir uns mit dem – etwas aktuelleren – Euromayday-Experiment.

Berlin umsonst

Die Planungen für die Kampagne Berlin umsonst begannen Anfang 2003. Im Jahr zuvor hatten wir mit der Sozial-AG (von FelS) erste stadtpolitische Gehversuche unternommen. Hintergrund war der Berliner Bankenskandal und der daraufhin vom rot-roten Senat verordnete strikte Sparkurs für Berlin. Wir glaubten, dass es notwendig sei, neue offensive Aktionsformen auszuprobieren. Diese sollten sowohl die Betroffenen der Sparpolitik ansprechen (und Handlungsmöglichkeiten im Alltag aufzeigen) als auch linke Gruppe inspirieren, denen Demonstrationen gegen den Haushalt zu langweilig waren. Unser Ziel war es, die Verzichtsideologie anzugreifen, die als Begleitmusik zu Sozialabbau und Sparpolitik auf Bundesebene und in Berlin erklang. Wir wollten dagegen halten und auf dem legitimen Bedürfnis nach einem schönen Leben bestehen, uns kollektiv nehmen, was uns zusteht: gemeinsam schwarz mit der Bahn fahren, umsonst ins Schwimmbad gehen oder gutes Essen kostenlos beschaffen und gemeinsam verzehren. Diese Haltung haben wir »Aneignung« genannt (siehe auch arranca! Nummer 28 und 29). Wichtig war uns, dass unsere Aktionen soziale Widerstandsformen aufgriffen, die auch sonst weit verbreitet waren (Schwarzfahren, Klauen, über-Zäune-klettern) – auch wenn sie ohne das Bewusstsein unternommen werden, dass es versteckte Formen des Widerstands sind. Wir erklärten sie für legitim und inszenierten sie als bunte, öffentliche Regelverletzung. So wollten wir den Alltagsverstand unserer Zielgruppe ansprechen und eine der grundlegenden Spielregeln des Kapitalismus in Frage stellen: Produkte gibt’s nur gegen Geld. Erfolgreiche Aneignungsaktionen sollten zeigen, dass man diese Spielregeln außer Kraft setzen kann und dass gemeinsame Organisierung etwas bringt. Wir hofften auf das weit verbreitete schlummernde Wissen, dass mit dem Kapitalismus etwas faul ist.

Bei den Aktionen haben wir darauf geachtet, sie möglichst bunt und freundlich zu gestalten, um zum Mitmachen zu animieren. Den Angestellten, auf die wir getroffen sind (BVG-Personal, VerkäuferInnen etc.), sollte das zeigen, dass sich der Protest nicht gegen sie richtet und dass sie keine Angst zu haben brauchen. Beliebte Mittel waren Blumensträuße oder Pralinen für Angestellte, die mit uns konfrontiert waren.

Wir haben eine ganze Menge probiert: kostenlose Bahnfahrten und (U-Bahn-)Partys, eine Fahraddemo zu Berliner Freibädern, gemeinsame Schwimmbad- und Ausstellungsbesuche zum Nulltarif, der versuchte Sturm aufs Buffet des Arbeitgebertages oder ein kostenloser Weihnachtsbummel durch ein großes Kaufhaus am Kudamm sind Beispiele.

Berlin umsonst sollte neue Aktionsformen für die Linke entwickeln und ein Motto schaffen, das linke Gruppen nutzen könnten, um eigene Aktionen zu machen. Unsere Zielgruppe waren einerseits alle Betroffenen von Sozialabbau und Sparpolitik, die wir erreichen konnten. Andererseits waren die Aktionen so angelegt, dass sie vor allem junge Leute ansprechen sollten. Letzteres hat einigermaßen geklappt, am besten während der Studentenproteste in Berlin im Winter 2003/04. So sind nach dem versuchten Sturm aufs Arbeitgeberbuffet mehrere hundert begeisterte Protestierende durch die Innenstadt getobt und haben die Polizei einen ganzen Abend lang an der Nase herum geführt. Auch bei einigen anderen Berlin-umsonst-Aktionen hatten wir ein junges »Stammpublikum« von 50 bis 150 Leuten. Unsere dritte Zielgruppe war die radikale Linke. Sie sollte zur Beteiligung an Sozialprotesten aufgefordert, in der linken Diskussion eine Position der Aneignung verankert werden. Auch das hat teilweise funktioniert. Natürlich hätten sich viele Linke 2004 auch ohne uns an den aufkommenden Sozialprotesten beteiligt, doch haben wir mit dem Thema Aneignung frühzeitig Orientierungspunkte gesetzt, auf die sich dann viele bezogen haben. Auch heute noch ist »Alles für alle – und zwar umsonst« die meistgerufene sozialpolitische Parole auf linken Demos. Und es gab in mehreren Städten Aktionen unter dem Umsonst-Motto sowie Umsonst-Gruppengründungen.

In Berlin hat sich der Ansatz entgegen unseren anfänglichen Erwartungen nicht verselbständigt. Allerdings hat es eine halbe Handvoll Beispiele gegeben, wo kleine Grüppchen oder Freundeskreise unter Zuhilfenahme der Parole Berlin umsonst kostenlose Konzertbesuche gewagt haben (sowas hatten wir uns ungefähr unter Verselbständigung vorgestellt).

Eine Überraschung war für uns die große Beachtung, die die umsonst-Idee in anderen Städten gefunden hat. Diese hat sich sowohl in Gruppengründungen und Umsonst-Aktionen gezeigt als auch an der breiten thematischen Bezugnahme auf die Kampagne. Offenbar bestand Bedarf an Orientierung, was Handlungsmöglichkeiten in Sozialprotesten oder an sozialen Themen angeht; in diesem Sinne hatte Berlin umsonst eine wichtige Funktion als Impulsgeber.

Ein Problem, das Berlin umsonst von Anfang an begleitet hat, war die Unklarheit bezüglich der Zielsetzung. Ein wesentliches Spannungsfeld war immer wieder die Frage, ob wir in erster Linie tatsächlich erfolgreiche Aneignungsaktionen machen wollten (d.h. das Aneigungsziel wird erreicht), die dann nachgeahmt werden können, oder ob es v. a. um öffentliche Wahrnehmbarkeit geht. Man kann dieses Problem auch an der Frage diskutieren, ob eine Aktion alltagstauglich sein muss oder ob der Happeningcharakter wichtig ist, ob es um (Selbst-)Organisierung geht oder um Sichtbarkeit von Protest. Diese Unklarheit über die Aktionsziele hat sich praktisch ausgewirkt, wenn zum Beispiel entschieden werden musste, ob wir eine Aktion vorher öffentlich ankündigen (wie beim Besuch der MoMA-Ausstellung, der Fahrraddemo von Schwimmbad zu Schwimmbad oder dem Sturm aufs Arbeitgeberbuffet) oder nicht (wie beim erfolgreichen Weihnachtsspaziergang durch ein Kaufhaus am Kudamm, zahlreichen Umsonstfahrten mit der BVG oder der Enteraktion des Badeschiffs in der Spree). Im ersten Fall konnten sich Interessierte beteiligen und es stand am nächsten Tag etwas in der Zeitung, dafür konnten wir die Aktionsziele nicht erreichen. Im zweiten Fall konnten wir zwar erfolgreiche Aktionen machen, aber die öffentliche Resonanz war gering und die Mobilisierungs– und damit auch die Beteiligungsmöglichkeiten waren eingeschränkt.

Berlin umsonst lebte davon, dass wir immer wieder Aktionen machten, die Sache am Laufen hielten. Das hat uns zwar in die Lage versetzt, auch in ruhigen Zeiten Handlungsfähigkeit zu bewahren. Als im Sommer 2004 dann aber die Erwerbslosen in Bewegung kamen, haben wir viel zu schwerfällig reagiert. Bereits geplante Aktionen durchzuziehen, war uns wichtiger als spontan auf die Protestdynamik reagieren zu können. Dadurch haben wir die Sozialproteste fast völlig verschlafen, die Reaktionsfähigkeit von FelS herab gesetzt (wo wir ja quasi für das Thema zuständig waren). Auch im Rahmen von ACT!, das sich um ein Eingreifen in die Sozialproteste bemühte (etwa in Form von Demoblöcken und Aufrufen etc.), waren wir kaum präsent.

Die Sozialproteste haben unseren Ansatz dem ersten richtigen Realitätstest ausgesetzt, und den haben wir schlecht bestanden. Auf den Montagsdemos stießen unsere Transparente und Parolen größtenteils auf Unverständnis; auch im Gespräch waren wir selten in der Lage, unsere Kampagne zu vermitteln, obwohl auf den Demos ein breites Interesse dafür da war. Hier kam einerseits eine weit und auch bei uns verbreitete linke Kommunikationsunfähigkeit zum Tragen; andererseits bot unser Ansatz tatsächlich kaum Anknüpfungspunkte für den Hausgebrauch: Um bei Berlin umsonst mit zu machen, ist ein Maß an Organisierung voraus gesetzt, das kaum jemand mitbringt. Und außer den Verweis auf die Machbarkeit von umsonst-Aktionen hatten wir nicht viel anzubieten, keine heißen Tips für den Alltag, keinen Treffpunkt, zu dem man hätte hinkommen können etc.

Pinker Punkt

Um Berlin umsonst weiter zu entwickeln, haben wir den Pinken Punkt ins Leben gerufen.1 Das war im Winter/Frühjahr 2005. Gerade waren die Sozialproteste abgeebbt, Berlin umsonst wusste nicht weiter, die anderen sozialpolitischen Bündnisse der Stadt ebenso wenig. In unserer Diskussion spielte der Gedanke eine große Rolle, dass die Linke in den Sozialprotesten nicht nur Parolen und Aktionen mit Happening-Charakter einbringen könnte, sondern dass nach Methoden für soziale Gegenwehr im Alltag gesucht werden müsse. Da Hartz IV die Verarmung der unteren Schichten zur Folge haben würde, gerade in Berlin bzw. im gesamten Osten, müssten linke Aktionen, um glaubwürdig zu sein, den Betroffenen materielle Vorteile verschaffen können. Nur so wäre eine Organisierung im Alltag und auch jenseits von Politik-Events erreichbar. Das war unsere Überlegung. Die Aufgabe bestand darin, diese Überlegung in einem Bereich für den Alltagsgebrauch umzusetzen. In unserem Fall sollte es der öffentliche Nahverkehr sein. Es sollte ein Modellversuch werden, den wir bei bestandener Tauglichkeitsprüfung anderen anbieten bzw. auf andere Bereich übertragen wollten.

Anlass für den Pinken Punkt war die Abschaffung des Semestertickets an der FU für das Sommersemester 2005.2 Dieses Problem wollten wir zum Aufhänger zu nehmen, um eine Verbreiterung unserer Aktionen zu versuchen und Selbstorganisierungsprozesse anzustoßen. Die Idee bestach durch Einfachheit: Ein Semester lang haben die FU-Studierenden kein U-Bahnticket, um raus nach Dahlem zu fahren. Also versuchen wir, gemeinsame Umsonstfahrten mit breiter Beteiligung zu initiieren. Auch hier hatten wir die Hoffnung auf Verselbstständigung der Initiative, aber dieses Mal wollten wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass das auch gelingen kann.

Unser Konzept sah vor, potentielle UmsonstfahrerInnen mit einem Erkennungszeichen auszurüsten (dem Pinken Punkt), das ihnen – gut sichtbar getragen – ermöglichen sollte, auf dem Bahnsteig/in der Bahn Gleichgesinnte ausfindig zu machen und so in Gruppen ohne zu bezahlen an die Uni zu kommen. Sobald sich eine Gruppe gefunden hat, die groß genug ist, sollte sie in die Bahn einsteigen (in den ersten Wagen) und Mitreisende darüber informieren, dass sie umsonst fährt und man sich ihr anschließen kann. Da die PinkfahrerInnen immer im ersten Wagen unterwegs sind, können auf der Fahrt weitere zahlungsunwillige Fahrgäste zusteigen. Wenn Kontrolleure den Wagen betreten, wird ihnen erklärt was los ist, und die Gruppe verweigert kollektiv die Kontrolle. Entweder müssten die Kontrolleure ergebnislos weiter ziehen, oder die Gruppe würde gemeinsam den Ort des Geschehens verlassen und die Reise mit einem späteren Zug fortsetzen. Unsere Hoffnung war, dass mit der Zeit einige dieser pinken Fahrgruppen mehr oder weniger regelmäßig unterwegs sind und es den Kontrolleuren nicht gelingt, das wirkungsvoll zu unterbinden (weil man zu mehreren eigentlich immer davon kommt). Wenn sich das rumspräche, könnten sich abenteuerlustige Studenten anschließen und umsonst zur Uni gelangen, und wir können darauf verweisen, dass Selbstorganisierung was bringt, dass es auch im Konflikt mit der BVG funktioniert. Mit dieser Erfahrung im Rücken könnten wir allgemein für das Projekt Berlin umsonst bzw. für selbstorganisierten Widerstand im Alltag werben.

Mit massenhaft Material und äußerst dünner Personaldecke zogen wir Anfang April 2005 in die Schlacht gegen die BVG. Eine Veranstaltung an der Uni und eine weitere in der Stadt bildeten den Auftakt, eine Ubahnparty, mehrere öffentliche Umsonstfahrten (unter anderem eine Pinker-Punkt-Stadtrundfahrt quer durch Berlin mit zahlreichen Zwischenstops) und schließlich eine bestens besuchte Party für den Pinken Punkt gehörten ebenfalls zum Programm. So ist es uns gelungen, eine relativ große Aufmerksamkeit an der Uni (etwa zwei Wochen lang hatten wir täglich mehrere hundert Zugriffe auf die Webseite) und eine kleinere in den Medien zu erzielen. Leider hatten wir nicht genug Aktivisten, um in der gleichen Intensität weiter zu machen; die Beteiligung der anderen am Bündnis beteiligten Gruppen hielt sich ebenfalls sehr in Grenzen, und so stand uns die Energie, die wir zum Anschieben der Aktion brauchten, nicht mehr zur Verfügung, als es ans Organisieren der täglichen Fahrten ging. Unsere wenigen beteiligten FU-StudentInnen waren ausgebrannt, die übrige Studentenschaft wunderte sich (wenn überhaupt), dass es so wenig bekannte Treffpunkte gab bzw. dass sie auf so wenig Pinkfahrgruppen traf – und blieb bei den bekannten Rezepten: Ticket kaufen oder mit dem Fahrrad zur Uni fahren. Immerhin hat sich heraus gestellt, dass das gemeinsame Umsonstfahren schon zu fünft gut funktioniert, wenn man ein paar einfache Regeln beachtet (siehe unsere Webseite). Trotzdem ist der Funke nicht übergesprungen – aus mehreren Gründen.

Zum einen haben wir unser Klientel und unsere eigenen Möglichkeiten falsch eingeschätzt. Man könnte auch überschätzt sagen. Täglich praktizierte Umsonstfahrten setzen viel Disziplin voraus. Es müssen Treffpunkte bekannt gegeben werden; feste Fahrgruppen müssen sich finden, ohne die eine Kontinuität nicht gewährleistet werden kann. Die Beteiligten müssen mit der gleichen Bahnlinie unterwegs sein, pünktlich zu den Treffpunkten erscheinen, sich gegenseitig informieren, wenn sie nicht können usw. usf. Diesem Aufwand steht das Bedürfnis der meisten Studenten entgegen, in Ruhe und ohne Verzögerung ihre Strecke zur Uni und zurück zu absolvieren. Hinzu kommt, dass keine Beständigkeit garantiert war. Vielleicht findet sich tatsächlich eine Gruppe für die Hinfahrt, aber keine für die Rückfahrt. Dann muss eine Umsonstfahrt durch den Kauf einer Fahrkarte für die zweite Fahrt subventioniert werden. Und schließlich ist die Kontrolletti-Dichte in Berlin enorm, die Wahrscheinlichkeit, bei zwei langen Fahrten einmal kontrolliert zu werden, ist hoch. Auch beim Pinken Punkt bedeuten Kontrollen ja Stress, möglicherweise Verspätungen etc. Das Ausmaß der zu erwartenden Konfrontation und der möglichen Repression war für die AktionsteilnehmerInnen schwer kalkulierbar,3 die Bereitschaft, solche Risiken einzugehen, ist gering.

Zwar ist es einfach und relativ sicher, als Gruppe umsonst zu fahren, aber um für den Pinken Punkt hätte es einer massenhaften Umsonst-Fahrpraxis bedurft. So etwas kann gelingen, wenn ohnehin viel in Bewegung ist. So aber war der organisatorische Aufwand zu groß für unsere schmalen Schultern. An dieser Stelle hätten wir abspecken, das Vorhaben der täglichen Fahrten aufgeben und uns auf das öffentlichkeitswirksame Inszenieren exemplarischer Umsonstfahrten beschränken müssen. Aber bei dem ganzen Aufwand, den wir betrieben haben, um endlich eine alltagstaugliche Form der Aneignung zu entwickeln, fiel uns der Abschied von unserem Plan schwer...

Nichtsdestotrotz haben wir gesehen, dass es technisch klappt, das Pinkfahren, dass die Studies mit gut gemachten Flyern zu einem Klick auf die Webseite zu bewegen sind, und sowieso wäre im Winter alles anders geworden: Keine Fahrradsaison = Studirevolte in der U-Bahn!

Die Überflüssigen

Im Gegensatz zu den beiden oben genannten Initiativen ging es bei den Überflüssigen in erster Linie darum, durch spektakuläre Aktionen ein Maximum an öffentlicher Aufmerksamkeit zu erzielen. Die Aktionsidee ist im Bündnis der an den Sozialprotesten beteiligten linken Gruppen Berlins »Ende der Bescheidenheit« entstanden.

Den Hintergrund für die Initiative bildeten die Montagsdemos und Proteste gegen die Hartz-Gesetze. In dieser Situation wurde nach Möglichkeiten gesucht, in den Sozialprotesten linke Schlaglichter zu setzen. Das gelang mit den Überflüssigen ganz gut. Im Oktober 2004 besetzten zwei dutzend Überflüssige in roten Pullis und mit weißen Theatermasken vermummt die Berliner Landeszentrale der Arbeiterwohlfahrt, um gegen die Einrichtung von 1-Euro-Jobs durch die AWO zu protestieren. Im Dezember besuchten etwa 30 Überflüssige das Nobelrestaurant Borchardt, verteilten selbstgedruckte Menüs, auf denen die Preise der Borchardt-Speisekarte den monatlichen Mitteln von Hartz-IV-EmpfängerInnen gegenüber gestellt wurden. Sie bedienten sich von den Tellern der Restaurant-Gäste, bis sie vom Personal vor die Tür gesetzt wurden. Diese Aktion schaffte es sogar auf die Titelseite der Berliner Boulevardblätter.

Die Überflüssigen hatten ein klares Aktionskonzept: Mit punktuellen spektakulären Aktionen sollte ein Höchstmaß an Medienaufmerksamkeit erreicht werden. Das verbindende Thema waren die Sozialproteste, in denen linke Positionen öffentlich sichtbar gemacht werden sollte. Die Verantwortlichen und Profiteure von Kapitalismus und Sozialabbau wurden offensiv angegangen, es ging darum, die Hartz-Reformen und die verschärfte gesellschaftliche Ungleichheit zu skandalisieren. Das optisch einheitliche Auftreten sorgte für Wiedererkennbarkeit, die weißen Masken stellten die Verbindung zu sozialen Kämpfen weltweit her.4

Auch im weiteren Verlauf der Sozialproteste meldeten sich die Überflüssigen zu Wort: Ob als rotweißer Block beim Agenturschluss, des Nachts vor dem Wohnhaus des Berliner AWO-Chefs oder bei der Kürung der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft »Reformer-des-Jahres« durch den Unternehmerverband Gesamtmetall. Und zunehmend wurden Überflüssige an anderen Orten aktiv. Im brandenburgischen Jüterborg, in Luckenwalde, aber auch in Darmstadt, Dortmund, Lüchow, Lüneburg, Wittenberg und Wuppertal zogen sich SozialprotestlerInnen die Roten Pullis über und besuchten unangemeldet Arbeitsämter oder einzelne besonders schikanöse Sachbearbeiter, deren Büros »zwangsgeräumt« wurden, oder trugen ihren Protest auf andere Art vor.

Vielen von uns hat das Überflüssigen-Konzept zunächst nicht gefallen. Das fing schon beim Namen an: Einen Namen zu wählen, der Verzweiflung und Handlungsunfähigkeit ausdrückt – auch wenn dieser Eindruck in den Aktionen relativiert wird – schien uns die falsche Haltung zu sein. Wir fanden es sinnvoller, selbstbewusst die eigene Daseinsberechtigung und die eigenen Fähigkeiten zu betonen, die Befriedigung unserer Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen und so mit dem Entmündigungsdiskurs zu brechen, mit dem Arbeitslose und »Überflüssige« von Politik und Medien permanent angesprochen und diskriminiert werden. Wir wollten unsere eigene Lebenssituation zum Ausgangspunkt nehmen und mit unseren Bedürfnissen offensiv umgehen. So war das bei Berlin umsonst gedacht, eine ähnliche Haltung haben übrigens auch die Hamburger Superhelden angenommen. Die Überflüssigen haben sich dafür entschieden, die öffentliche Stigmatisierung von Arbeitslosen als Opfer zum Ausgangspunkt ihres Handelns zu machen. Das fanden wir eine schlechte Botschaft, denn es leistete der Darstellung von Arbeitslosen als Loser Vorschub, wie sie in Politik und Medien ständig betrieben wird, fanden wir.

Wir müssen aber einräumen, dass die Überflüssigen-Symbolik von der Zielgruppe, den Betroffenen von Sozialabbau, um einiges besser aufgenommen wurde als die Berlin umsonst-Rhetorik. Das mag an der Wahl der Aktionsorte und an der Aktionsdurchführung liegen, die oft sehr gut waren.5 Auch das Prinzip, dass »wir hier unten« den Protest zu »denen da oben« tragen, wurde besser verstanden als Berlin umsonst, wo sich der Protest an Orten des Alltags abspielte. Auch wenn die Argumentation moralisch und das Auftreten ein klassischer Fall von Stellvertreterpolitik war. Der deutliche Bezug auf die Hartz-Reformen und 1-Euro-Jobs erleichterte die Kommunikation der Überflüssigen. Sie reihten sich zumindest in der Anfangszeit auf besonders effektvolle Weise in die damals laufenden Sozialproteste ein.

Letztlich glauben wir, dass es gerade die Verlierer-Symbolik war, die wesentlich zum Erfolg der Überflüssigen (bei der Zielgruppe) beigetragen hat. Die Hartz-IV-Betroffenen haben sich im Namen der Überflüssigen besser wieder gefunden als in offensiveren Selbstbezeichnungen. Die Überflüssigen klingen nach dem letzten Aufstand der Verzweifelten – das traf möglicherweise das Empfinden vieler. Jedenfalls eher als studentisch angehauchte Selbstverwirklichungs-Visionen à la Berlin umsonst.

Fazit

So. Was haben wir nun aus all dem gelernt? Zunächst mal wollen wir ein paar Fähnchen hochhalten: Wir finden es nach wie vor richtig, dass wir mit Berlin umsonst unter dem Motto Aneignung einen subjektiven und offensiven Zugang gewählt haben. Es war richtig, den Wunsch nach einem schönen Leben in den Mittelpunkt bzw. an den Anfang unserer Aktivitäten zu stellen. Das hat uns in die Lage versetzt, soziale Widersprüche in alltäglichen Situationen anzugehen, anstatt nur auf sozialpolitische Verschärfungen reagieren zu können – auch das ist ein Aspekt der Selbstermächtigung, der in der Berlin umsonst-Kampagne lag.

Auch die Argumentation war in Ordnung: Es ist legitim und notwendig, die Verhältnisse von den eigenen Bedürfnissen ausgehend zu kritisieren. Das hat man früher einmal einen sozialrevolutionären Ansatz genannt. Ob das in der Umsetzung in jedem Fall gut geglückt ist, ist eine andere Frage; da kann man sicherlich viel Kritisches finden (haben wir ja auch, s.o.). Aber letztlich haben wir den Versuch unternommen, nicht nur politische, sondern auch soziale und kulturelle Antworten auf verschärfte Lebensbedingungen zu finden.6 Ein solcher Versuch war Anfang 2003 in Berlin (und darüber hinaus) auch dringend nötig. Unsere Aktivitäten haben in dieser Situation dazu beigetragen, der radikalen Linken Handlungsmöglichkeiten zu verschaffen. Das war wichtig, und dafür war das Experimentieren mit neuen Aktionsformen, Forderungen und Ausdrucksmöglichkeiten notwendig.

Trotzdem nehmen in dem stark subjektiven Ausgangspunkt auch ein Großteil der Schwierigkeiten der Kampagnen Berlin umsonst und Pinker Punkt ihren Anfang. Bei beiden war nicht klar, ob wir uns in erster Linie politisch Gehör verschaffen, oder Selbstorganisierung anstoßen wollten. Diese Unklarheit hat dazu geführt, dass wir den politischen Zusammenhang der Kampagnen vernachlässigt haben. So schön es ist, sich mal gemeinsam zu nehmen, was man gerne haben möchte, aber allein nicht bekommen kann – dass es am Ende um antikapitalistische Bewegung, um Klassenkampf von unten geht, erklärt sich eben trotzdem nicht von allein. Das ging in der strikten Spaßorientierung von Berlin umsonst manchmal unter. Den Überflüssigen ist es etwas besser gelungen, weil sie ernsthafter aufgetreten sind. Doch auch bei ihnen war der Gesamtzusammenhang nicht immer klar, weil die Auseinandersetzung mit konkreten Verschärfungen im Vordergrund stand.

Doch auch wenn es in der Durchführung und Vermittlung einiger Aktionen gehakt hat, soll war deshalb noch nicht der Ansatz falsch. Berlin umsonst ist mehrfach der Vorwurf gemacht worden, die Kampagne sei nicht – oder wie es immer so hübsch hieß: verkürzt – antikapitalistisch. Sie greife den Kapitalismus nur in der Zirkulationssphäre an, die Produktion aber bleibe ausgeklammert. Abgesehen davon, dass die Rechnung je-dichter-an-der-Produktionssphäre-desto-antikapitalistischer ohnehin nicht aufgeht, weil Produktion nur dann einen Sinn hat, wenn die Produkte erfolgreich in die Zirkulation geworfen werden können, wenn sie als Waren am Markt den Besitzer wechseln, trifft der Vorwurf aus mehreren Gründen völlig am Ziel vorbei. 1. ging es uns mit Berlin umsonst nie darum, eine theoretisch lupenreine Kapitalismuskritik in eine politische Praxis umzusetzen. Maßstab für politische Praxis ist nicht die Reinheit ihrer theoretischen Grundlage sondern die Frage, ob es gelingt, etwas gegen die herrschenden Verhältnisse in Bewegung zu setzen. 2. haben wir nie behauptet oder auch nur den Eindruck erweckt, den Dreh- und Angelpunkt zur Bekämpfung des Kapitalismus gefunden zu haben. Uns ist schon klar, dass Berlin umsonst nicht the one and only way ist, keine Kämpfe am Arbeitsplatz ersetzt oder unwichtig macht. 3. findet auch der Klassenkampf, den sich die KritikerInnen hoffentlich herbei gewünscht haben, nicht nur am Arbeitsplatz statt. LohnabhängigeR bleibt man auch, wenn sich die Fabriktore hinter einem geschlossen haben, der Staub von der Arbeit abgeduscht und die Zähnchen geputzt sind: beim Einkaufen, beim Ausgehen, beim Fernsehen oder beim Schlafen. Jemand ist ProletrarierIn, weil er oder sie gezwungen ist, seine/ihre Arbeitskraft zu verkaufen, nicht nur in dem Moment, wo die verkaufte Arbeitskraft gerade in Anspruch genommen wird. Und selbst wenn der Einwand aus taktischen Gründen gemacht worden ist (von wegen am Arbeitsplatz hat der/die ProletarierIn die größte Macht), so läuft er leer. Die italienischen Operaisten z.B. haben schon in den Kämpfen der 60er und 70er Jahre erkannt, dass sie nicht gewinnen können, wenn sie auf die Fabrik beschränkt sind. Sie haben also die Kampfzone über die Fabrik hinaus ausgeweitet in die Wohnviertel, indem sie proletarisch einkaufen gingen, Miet- und Stromzahlungen selbstständig herabsetzten (»Autoriduzzione«) etc. An der Richtigkeit dieser Einsicht hat sich in Zeiten von Globalisierung, erhöhter Kapitalmobilität, Massenarbeitslosigkeit und Deregulierung sicher nichts geändert. Nach wie vor muss nach Möglichkeiten des Klassenkampfs gesucht werden, die sich nicht allein auf die Position am Arbeitsplatz stützen.

Von einem weiteren Fallstrick des Aneignungsansatzes haben wir oben bereits ausführlich berichtet: Wir sind nicht zurecht gekommen mit dem Widerspruch zwischen öffentlichen/politischen Aktionen und dem Wunsch danach, soziale Organisierungsprozesse entlang alltäglicher Lebensverhältnisse anzustoßen. Nun macht es keinen Sinn, das Entstehen oder Ausbleiben solcher Organisierungsprozesse zum Maßstab für die Bewertung von Aktionen mit Event-Charakter zu machen (so geschehen im Falle Berlin umsonst und beim Pinken Punkt). Wenn man wirklich Gegenmacht im Alltag organisieren will, dann muss man gewerkschaftliche bzw. gewerkschaftsähnliche Arbeit oder Stadtteilpolitik etc. machen, aber das ist etwas anderes als eine Kampagne à la Berlin umsonst. Wir sind mehrfach mit dem Versuch gescheitert, eine Bewegung anzustoßen oder zu simulieren, wo keine war. Das Paradebeispiel war der Pinke Punkt. Umgekehrt waren unsere Aktionen am wirkungsvollsten, wenn sie von einer Bewegung aufgegriffen wurden (der Sturm auf das Arbeitgeberbuffet, an dem sich die protestierenden Studies beteiligt haben etwa). Da der Einfluss auf das Entstehen von Bewegungsdynamiken äußerst gering ist, lautet die Schlussfolgerung: In bewegungsarmen Zeiten ist es sinnvoll, punktuelle Aktionen zu machen, die Aufsehen erregen, über die berichtet und geredet wird. Umgekehrt ist die Bereitschaft erforderlich, das eigene Projekt ruhen zu lassen, wenn spontan relevante Bewegungen entstehen. Das haben wir (hoffentlich) aus der verpassten Chance im Protestsommer 2004 gelernt: Man muss dort aktiv sein, wo sich gerade etwas tut, sonst wurschtelt man an den eigentlichen Ereignissen vorbei (und verhält sich derbe unmaterialistisch!). Nach wie vor steht das Experiment mit Aktions- und Organisierungsformen auf der Tagesordnung. Bei der weiteren Suche sind die Erfahrungen der bisherigen Ansätze hoffentlich von Nutzen.

Soweit unser Beitrag zum Thema »Aus Erfahrung lernen – Fehler vermeiden«. Ob sich diese späten Einsichten für aktuelle(re) Projekte nutzen lassen – wie den Euromayday – wird dann die Zukunft zeigen. Oder der Artikel Nummer zwei, der sich mit diesem hochinteressanten Ereignis befasst. Wir sagen: Bis zum nächsten Mal, tschüß und hat Spaß gemacht.


Eure FelS Sozial AG!