«Die Revolutionen des Proletariats werden Feste sein – oder sie sind von vorneherein gescheitert. Das Leben nämlich, das sie einleiten werden, wird selbst im Zeichen des Festes stehen: Genuss ohne Schranken und Leben ohne tote Zeit seine einzig anerkannten Regeln.»

Situationistische Internationale
(1966)

Was der Mayday alles ist…

Ein Anliegen des Mayday ist es, unterschiedliche Herangehensweisen an das Thema Prekarisierung aufzuzeigen, die Gemeinsamkeiten in den vielfältigen Erscheinungsformen von Prekarisierung erkennbar und verschiedene Überlebensstrategien im Prekären öffentlich zu machen, um gemeinsame Handlungsformen zu finden. Am Beginn des Mayday stand zudem die Überlegung, dass mit den herkömmlichen Mitteln am 1. Mai in Berlin politisch nichts mehr zu holen ist. Das Myfest hat seine Aufgabe erfüllt: Das vom Kreuzberger Bezirk und den dortigen Gewerbetreibenden organisierte Fest hat zur Befriedung der traditionellen 1. Mai-Krawalle wesentlich beigetragen. Die Beteiligung an den Demonstrationen der letzten Jahre nahm kontinuierlich ab und auch die Krawalle flackerten nur noch spärlich auf.

Der Mayday ist somit auch der Versuch, die Linke aus ihrem Feiertagsschlaf zu holen. Er ist aber noch mehr als das: Der Mayday schafft für all jene Unzufriedenen, die sich auf dem Bier-und-Würstchengelatsche der Gewerkschaften oder den Kreuzberger Jungmänner-Krawallen nicht repräsentiert fühlen, einen Ort, ihren Protest auszudrücken.

Am 1. Mai 2006 ist der Mayday in Berlin vor allem als Demonstration sichtbar geworden. 6.000 TeilnehmerInnen aus einem breiten linken Spektrum protestierten, begleitet von sechs Wagen, gegen prekäre Arbeit und prekäres Leben. Neben der Musik, die viele bewegte, sich der Demo anzuschließen, gab es zwölf Redebeiträge verschiedener Gruppen, die sich jeweils mit bestimmten Aspekten von Prekarisierung auseinandersetzten. Die unterschiedlichen Zugänge waren im Konzept der Demo angelegt: Die drei Themenschwerpunkte – Migration, Arbeit und Stadtumstrukturierung – waren bewusst gewählt, um aufzuzeigen, welche Lebens- und Arbeitssituationen, trotz aller Unterschiedlichkeit, von den Betroffenen als prekär im Sinne von verunsichernd, unsicher und unzumutbar erlebt werden. Auch im vorbereitenden Bündnis engagierte sich ein Spektrum von Gruppen und Einzelpersonen, die in dieser Form in Berlin zuvor noch nicht zusammengearbeitet hatten. Der offene Anspruch des Mayday war auf der Parade deutlich sichtbar und auch in der Bündnisarbeit angelegt. Die Einladung wurde mit Bedacht über die Grenzen des linken Szene-Tellerrands hinaus verteilt und die Vorbereitungstreffen standen explizit allen Interessierten offen. Auf das Verwenden von altbekannten Schlagwörtern wurde im Aufruf und in Flugblättern bewusst verzichtet. Dass diese Offenheit auch ihre Grenzen hatte, ist uns dabei durchaus bewusst: Wurden die ersten Einladungen und Diskussionspapiere beispielsweise noch in mehrere Sprachen übersetzt, so ließ sich dies aus Kapazitätsgründen nicht durchhalten. Erst auf der Parade selbst konnte der Aufruf wieder in sechs Sprachen verteilt werden.

Was das Schaffen von Öffentlichkeit für die Mayday-Parade (und den im Rahmen dessen thematisierten Zustand der Prekarisierung) im Vorfeld des 1. Mai betrifft, waren wir erfolgreich: In allen Berliner und auch in einigen überregionalen Zeitungen konnten Berichte zum Mayday platziert werden, die häufig mit einer Begriffsklärung (»Was ist Prekarisierung?«) oder Hintergrundberichten verbunden waren. Das ausgiebige Medienecho ist in erster Linie unserer Mayday-Presse-AG zu verdanken, doch auch der Neuigkeitswert sowie der internationale Kontext des Mayday, die massenhaften Proteste in Frankreich gegen angekündigte Arbeitsmarktreformen und die Diskussion um die »Generation Praktikum« dürften ihren Teil zum medialen Interesse beigetragen haben. War die Berichterstattung im Vorfeld noch beachtlich, so fiel sie nach der Parade eher miserabel aus. Die Artikel konzentrierten sich auf die brennenden Mülltonnen auf der Oranienstrasse und vernachlässigten – wie üblich – andere Protestformen. Hartnäckig geistert hingegen der Begriff Prekarisierung weiterhin durch die Medien. Mit Hilfe des Mayday Konzeptes wollten wir linksradikale Politik in einem größeren Rahmen diskutieren und vor allem neue BündnispartnerInnen finden. Die Interessierten zu Beginn des Bündnisprozesses reichten von Linken aus dem Kulturspektrum und migrantischen Gruppen über Attac bis hin zu Linksradikalen. Als die Mayday-Parade näher rückte, und die lange Diskussionsphase durch die Aktionsphase abgelöst wurde, veränderte sich das Bündnis deutlich: Während sich einige Gruppen leider zurückzogen, fühlten sich nun verstärkt linke Kulturinitiativen und beispielsweise auch die Berliner Ortsgruppe der Falken angesprochen. Die Mehrheit der anfangs Interessierten verharrte in »beobachtender Teilnahme« und brachte sich in die Vorbereitung und Ausgestaltung des Mayday nicht aktiv ein. Das hatte mehrere Gründe: Zum einen bestand/besteht eine große Skepsis gegenüber dem Versuch, den 1. Mai in Berlin politisch neu zu besetzen. Zum anderen wurde der Mayday im Vorfeld teilweise den Erwartungen nicht gerecht – eine umfassende inhaltliche Begleitung des Mayday-Prozesses in Form von Veranstaltungen, Aktionen und Diskussionen konnte von uns personell nicht geleistet werden. Ein weiterer negativer Faktor ist organisatorischer Art: Vielen war es nicht möglich, sich wöchentlich einen zusätzlichen Abend für das Bündnistreffen zu reservieren, insbesondere dann wenn noch andere politische Aktivitäten parallel liefen. Zukünftig müssen hier Organisationsstrukturen geschaffen werden, die trotz knappen Zeitbudgets eine gemeinsame Praxis ermöglichen. Das Bündnis hat hier erste Schritte unternommen, indem in den Einladungen ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass die Mitgestaltung der Parade auch dann machbar sei, wenn eine Arbeit im Bündnis nicht möglich oder nicht gewünscht sei. Wir haben versucht das Demo-Konzept bereits im Vorfeld so flexibel zu gestalten, dass auch ein »Quereinstieg« am Tag der Parade selber möglich war. Dies senkte auf der einen Seite die Hürden für eine Teilnahme und ermöglichte eine größere Vielfalt auf der Parade. Auf der anderen Seite wurde jedoch der verbindende Charakter des von uns anvisierten, gemeinsamen Organisierungsprozesses – der ohnehin schon unter dem Zeitdruck litt – weiter geschwächt.

Der Mayday lebt davon, dass verschiedenste Formen von Prekarisierung und der Protest dagegen sichtbar gemacht werden. Gleichzeitig ist er ein Raum, der von den Beteiligten selbst gefüllt werden muss. Wie gut dies funktionieren kann, hat sich auf der diesjährigen Parade gezeigt: Nicht nur, dass die Teilnehmerzahl unsere Erwartungen weit übertroffen hat, noch beeindruckter waren wir von der Art und Weise, wie sich viele den Mayday angeeignet haben, um ihrem individuellen Protest Ausdruck zu verleihen. Die Parade war bunt, laut und sie hat Spaß gemacht. Es gab einiges zu sehen: mal mehr, mal weniger fantasievoll gestaltete Wagen, eine Sambaband, vielfältige Verkleidungen, Transparente oder auch die Umbenennung eines Schleckermarktes in »prekäre Zone«. Aber auch viele neue Gesichter waren zu finden, ebenso solche, die schon lange nicht mehr auf Demos gesichtet worden waren. Was das Bündnis selber noch nicht leisten konnte, hat spätestens auf der Parade eindrucksvoll funktioniert.

Nicht ist…

Der Mayday ist kein Allheilmittel und vor allem auch kein Selbstläufer. Wer dem Mayday aber vorwirft, nicht schon morgen zur Revolution zu führen, hat sich mit dem Konzept nicht auseinander gesetzt (und außerdem die letzten 20 Jahre verpennt). Oder um doch noch mal mit Marx zu sprechen: »Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.« Die bestehenden Voraussetzungen sehen aber alles andere als rosig aus. Nur weil auf dem Mayday Musik läuft und Leute tanzen heißt das noch lange nicht, dass die TeilnehmerInnen nicht wissen, dass der Kapitalismus nicht das Ende vom Lied ist. Und es ändert nichts an der Unzufriedenheit der TeilnehmerInnen mit ihrem Job, ihrer fehlenden Sozialversicherung oder ihrem ARGE-Sachbearbeiter. Uns ist wiederholt vorgeworfen worden die auf dem Mayday aufgestellten Forderungen seien reformistisch. Geschenkt! Wir sind der Überzeugung, dass Forderungen der Linken, die nicht an den konkreten Bedürfnissen der Menschen ansetzen, sondern sie auf die Revolution vertrösten, zahnlos bleiben müssen. In bewegungsarmen Zeiten gilt es, Protest sichtbar und Utopien überhaupt wieder vorstellbar zu machen. Eine Möglichkeit kann darin bestehen, Forderungen aufzustellen, die auf Elemente einer zukünftigen Gesellschaft hinweisen, aber trotzdem an die Probleme der hier lebenden Menschen anknüpfen. Die Forderungen des Mayday-Bündnisses sollten vermittelbar sein und zugleich die Grenzen des Machbaren in den bestehenden Gesellschaftsverhältnissen aufzeigen. Grenzen, die gesprengt und Verhältnisse, die überwunden werden müssen, weil in ihnen kein Leben in Würde möglich ist.

Sein könnte…

Die Erfahrungen des ersten Mayday in Berlin und der Arbeit im Mayday-Bündnis lassen sich auf zwei wichtige Erkenntnisse zuspitzen: Erstens haben wir mit der Mayday-Parade eine Protestform eingeführt, auf die viele Menschen aus verschiedenen Zusammenhängen offensichtlich gewartet haben. Zweitens hat sich gezeigt, dass die Etablierung eines Bündnisses, das dem offenen Anspruch des Mayday-Konzepts gerecht wird, viel mehr aber vor allem vielleicht anderes Engagement als die »szeneüblichen« linksradikalen Bündnisse verlangt. Das liegt auch daran, dass die bloße Diskussion des Begriffs Prekarisierung und die Bezugnahme auf prekäre Lebenssituationen weit davon entfernt sind, durch Anknüpfung an reale soziale Kämpfe ein gemeinsames politisches Moment aufzuzeigen. Das und nicht weniger ist jedoch der Anspruch des Mayday. Für die Zukunft bedeutet dies, dass wir die Menschen, die an der Mayday-Parade teilgenommen haben, verstärkt auch zur Gestaltung dieser Protestform auffordern und einladen müssen. Nur mit breiterer und aktiverer Beteiligung kann das Mayday-Bündnis mehr sein als eine Vorbereitungsgruppe für ein jährliches Event. Nur dann sind auch dieinhaltlichen Auseinandersetzungen und die notwendigen Diskussionen um Gemeinsames und Trennendes möglich, die zu einer noch stärkeren Politisierung der Protestform Mayday-Parade führen können. Diese Politisierung und auch Radikalisierung ist aus unserer Sicht unbedingt notwendig, wenn der Mayday nicht innerhalb kürzester Zeit in den Kanon der bekannten Veranstaltungen eingereiht und stillgelegt werden soll, ist es doch das Ziel, in diesem Rahmen gemeinsam weitere Praxisformen zu entwickeln. Und dies ist ein Prozess, der nicht durch (linksradikales) Diktat verordnet oder durch das Engagement einiger weniger getragen werden kann. Eine Mayday-Parade wird es 2007 aus unserer Sicht nur geben, wenn sich mehr Leute und Gruppen einbringen. In diesem Sinne: macht mit – macht’s besser!