„Wie können die Bewegungen also gerade ein zugleich globalisiertes und radikal vereinzeltes Alltagsleben zum Möglichkeitsspielraum ihrer Autonomie machen, ein Alltagsleben, das nicht nur in seiner Arbeits-, sondern auch in seiner ,Freizeit‘ dem Kapitalkommando unterworfen ist?“
Thomas Seibert: „The People of Genova, Plädoyer für eine post-avantgardistische Linke“, 2003
Was die Frage nach unserem konkreten Organisationsmodell in der neuen IL betrifft, so bestätigen die im Zwischenstandspapier getroffenen Festlegungen den Trend der letzten Jahre: Am Ende des Fusionsprozesses soll ein Vereinsapparat mit einheitlichem Logo, „Aufnahmekriterien“ für Mitglieder, Ortsgruppen („Basiseinheiten“) und einem „Koordinierenden Gremium“ als Leitungsstruktur stehen. So lässt sich unschwer erkennen, dass die in den ersten Jahren des IL -Prozesses durchaus lebhaft geführte Diskussion um die Frage „(feste) Organisation oder (loses) Netzwerk?“ damit nun endgültig entschieden ist: Mit der neuen IL soll das klassische avantgardistische Parteimodell der kommunistischen Bewegung eine weitere Chance erhalten.
Ein Blick zurück
Dass damit nun ein Rückfall in die allenfalls formaldemokratischen Organisationsstrukturen der K-Gruppen der 1970er Jahre droht, steht eher nicht zu befürchten. Immerhin soll all das Vereinsbrimborium nicht zuletzt auch dem Zweck dienen, die neue IL „von unten nach oben“ zu denken und zentralistische Entscheidungen so weit wie möglich zu unterbinden. Informelle Hierarchien sollen abgebaut und durch einen transparenten Organisationsaufbau ersetzt werden. Für demokratische Entscheidungsprozesse sollte also gesorgt sein. Applaus hat die Fantasielosigkeit, die in der Wahl dieses Parteimodells zum Ausdruck kommt, aber trotzdem nicht verdient. Schließlich hatte es seinerzeit auch abgesehen vom notorischen Demokratiedefizit kommunistischer Gruppen einige gute Gründe dafür gegeben, der „revolutionären Partei“ eine endgültige Absage zu erteilen (vgl.: Maoismus als Organisierungsmodell der westdeutschenradikalen Linken). Dies betrifft nicht zuletzt auch die anachronistischen Vorstellungen von linkem Aktivismus, die hierbei Pate stehen. Das Aktivist*innenbild, das einer solchen Organisationsvision zu Grunde liegt, stammt im Kern immer noch aus dem Mai 1968. Es ist das Bild von leidenschaftlichen jungen Menschen, die Tag für Tag wütend ihre Fäuste über brusthohe Transparente recken und Lieder von internationaler Solidarität singen. Von Menschen, die bereit sind, ihr gesamtes Student*innenleben in den Dienst der revolutionären Sache zu stellen, weil die Uni warten kann und sich ihr Freizeitbedürfnis beschränkt auf ein paar Biere nach dem Gruppenplenum und einige eilig ausgetauschte Zärtlichkeiten in der gemeinsamen Polit-WG. Menschen, die keine Elternsorgen, keine Vollzeitarbeit und keine Bandscheibenvorfälle kennen. Der enorme Aufwand, den der laufende Betrieb einer Großorganisation wie der neuen IL mit sich bringt, ficht solche Menschen nicht an. Dass da wöchentliche AG-Treffen und monatliche Vollversammlungen ebenso besucht werden wollen wie mindestens quartalsweise auch überregionale Zusammenkünfte mit stundenlanger An- und Abreise, ist für solche Vollzeitaktivist*innen ebenso selbstverständlich wie der darüber hinaus für die eigentliche politische Arbeit nötige Zeitaufwand, den zum Beispiel Bündnistreffen und Demonstrationsvorbereitungen oder die zu alledem gehörende Werbung und Textarbeit Woche für Woche beanspruchen.
Ein Blick in die Gegenwart
Gibt es solche Menschen noch? Gewiss. Allzu viele dürften es aber nicht mehr sein. Die Bologna- und Hartz-Reformen haben dafür Sorge getragen, dass eine materielle Grundlage für ein Leben als Vollzeitaktivist*in nur noch für wenige Jahre zur Verfügung steht. Die neuprotestantischen Diskurse, die diese Reformen flankieren, verleiden es den meisten linken Aktivist*innen zunehmend, die ohnehin engen Grenzen eines solchen Lebenswandels überhaupt auszureizen. Dass viele Genoss*innen heute bereits lange vor ihrem 30. Geburtstag ihr Studium abschließen und sich in ein mehr oder weniger prekäres Erwerbsleben stürzen, ist daher nur ein weiterer Beleg für die eigentlich ja recht banale Weisheit, dass auch linke Kader*innen nicht nur von Luft und Leidenschaftleben, sondern ebenso den herrschenden Verhältnissen unterworfen sind, wie fast alle anderen Menschen auch.
Nun ist es auch in der Interventionistischen Linken keine neue Erkenntnis, dass es mit der Vollzeiterwerbs-arbeit, der Kleinfamiliengründung und den ersten gesundheitlichen Einschränkungen immer schwerer wird, den oben beschriebenen Anforderungen an unsere Mitstreiter*innen gerecht zu werden. Schließlich sind in der IL derzeit fast alle Altersgruppen vertreten. Die „Ausschlüsse“, die mit unserer Arbeits- und Organisations-weise einhergehen, werden daher oft beklagt. Leider verharrt diese Debatte bislang aber meist auf einer rein moralischen Ebene. In Ermangelung zeitgemäßer linker Ikonen wird die Lebenssituation der meisten Genoss*innen über 30 nicht als Selbstverständlichkeit, sondern als eine Unzulänglichkeit, als eine Art Handicap behandelt. Zwar wird den betroffenen Genoss*innen in der IL heute nur noch selten mit Vorwürfen („Rückzug ins Private“), sondern eher mit Mitgefühl begegnet, die grundsätzliche Frage nach der Daseins-berechtigung eines Organisationsansatzes, der langfristig nicht einmal den Arbeits- und Lebensbedingungen der meisten eigenen Mitglieder gerecht zu werden vermag, wird aber nicht gestellt.
Ein Blick nach vorn
Wir brauchen kein Mitleid. Wir brauchen ein Update unserer überkommenen (Selbst-)Bilder von linkem Aktivismus. Wir dürfen nicht länger so tun, als sei die Sorbonne noch besetzt. Wenn unsere „postautonomen“ Theorie- und Praxisansätze nicht einfach eine Negierung, sondern eine Weiterentwicklung autonomer Politik sein sollen, dürfen wir dem Jahr 2015 nicht einfach eine demokratische Version der Organisationsformen der 1970er Jahre überstülpen. Wir müssen einen modus operandi finden, der all die Wut über die schmerzhaften Widersprüche unseres Alltags im neoliberalen Kapitalismus für linke Politik fruchtbar macht, statt unsere Sorgen über unbezahlte Überstunden, teure Kitaplätze und leere Krankenhausflure einfach zur Privatsache zu erklären und als Hindernis bei der Vorbereitung der nächsten Großkampagne zu behandeln. Statt uns als Avantgarde („rebellische und widerständige Minderheit“) zu gerieren, müssen wir die früher bei einigen IL -Gruppen so beliebte alte operaistische Frage nach der Klassenzusammensetzung neu stellen und untersuchen, welche moderne „Rebellionsweise“ unsere zeitgenössische „Produktionsweise“ (heute eher: die Gesamtheit unserer Arbeits- und Lebensbedingungen) nach sich zieht. Erst dann können wir auch die Organisationsfrage beantworten und Strukturen schaffen, die nicht nur für am Reißbrett entworfene Stellvertreterpolitik-kampagnen taugen, sondern auch für die tagtäglichen Kämpfe um bezahlbaren Wohnraum in der Innenstadt, um ungehinderte Migration, um menschenwürdige Arbeitsbedingungen oder um die Vergesellschaftung der Pflegearbeit. Dafür müssen wir aber endlich akzeptieren, dass wir nicht neben der Gesellschaft stehen und beginnen, die isolierten Kämpfe unseres eigenen prekären Alltags im kapitalistischen Wahnsinn zu unseren gemeinsamen Kämpfen zu machen, statt stets nur verschämt im Namen anderer die Stimme zu erheben. Wir müssen die Stadt als unsere Fabrik und uns selbst als die Subjekte der Rebellion begreifen, die die herrschenden Verhältnisse in Frage stellen soll.
Fragwürdige Vorteile einer bundesweiten Struktur
Der avantgardistische Stellvertreterpolitikansatz klassischer kommunistischer Organisationen hilft uns dabei ebenso wenig weiter wie die im IL Zwischenstandspapier vorgesehene Vereinsmeierei. Die „bundesweite Handlungsfähigkeit“, die die geplante Strukturstraffung verspricht, wird sich nur da positiv bemerkbar machen, wo die IL als „gut geölte Kampagnenmaschine“ ohnehin bereits bestens funktioniert – bei der Vorbereitung der zunehmend megalomanischen IL-Großkampftage. Hier wird sich freilich auch die enorme Größe positiv bemerkbar machen, die die IL durch die Fusion ihrer Vorgängergruppen nun erreicht hat. Nachdem die Sachwalter*innen der europäischen Austeritätspolitik in den vergangenen Jahren aber mehr als einmal gezeigt haben, dass es ihnen völlig egal ist, ob 4 000 oder 40 0000 menschen auf Europas Straßen demonstrieren, sollte spätestens jetzt auch klar sein, dass zahlenmäßige Größe alleine heute kein Qualitätsmerkmal für erfolgreiche linke Politik mehr ist. Diese Art von „Handlungsfähigkeit“ ist daher nur ein schwacher Trost.
Vor Ort in Berlin erweist sich der bereits in den letzten Jahren enorm gestiegene Arbeitsaufwand, der mit der Pflege einer bundesweiten Struktur und der damit korrelierenden Bauchnabelschau einhergeht, schon jetzt eher als Bremse für interventionistische Politik. Hier war es zuletzt auch den engagiertesten IL-Genoss*innen nur unter großen Anstrengungen möglich, beispielsweise bei der Unterstützung des Oranienplatzcamps, bei der Verteidigung der besetzten Gerhardt-Hauptmann-Schule oder beim Widerstand gegen die Zwangsräumung der Familie Gülböl eine aktive Rolle zu spielen – weil dafür neben all den bundesweiten Kampagnentreffen schlicht und einfach kaum Zeit bleibt.
Und auch was die positiven Berliner Gegenbeispiele hierzu betrifft – zu nennen wäre hier etwa die kontinuierliche Stadtteilpolitik der hiesigen Avanti-Gruppe gegen die allgegenwärtige Gentrifzierung – so fragt man sich manchmal, ob diese Erfolge eigentlich wegen oder nicht vielmehr trotz der Zugehörigkeit der Genoss*innen zur Interventionistischen Linken möglich wurden. Zwar haben wir nicht in allen lokalen Bündnissen mit unserem schlechten Ruf als kurzweilige „Protestmanager*innen“ ohne langfristiges Interesse an der Vor-Ort-Arbeit zu kämpfen, der Mehrwert der Zusammenarbeit mit einer bundesweit aktiven linksradikalen Organisation erklärt sich aber auch ohne einen solchen Argwohn keineswegs von selbst – manchmal auch gar nicht. Auf viele Außenstehende dürfte die im Zwischenstandspapier zum Ausdruck kommende Exklusivität der Mitgliedschaft in der neuen IL sogar eher abschreckend wirken. Angesichts all dieser Widrigkeiten muss die Frage erlaubt sein, worin eigentlich der Sinn dieser strengen Organisationsform liegen soll. Die zahlreichen Allgemeinplätze und Formelkompromisse im programmatischen Teil des Zwischenstandspapiers lassen schließlich auch außenstehenden Leser*innen leicht erkennen, dass wir in analytischer und stilistischer Hinsicht bis heute ein ziemlich heterogener Haufen geblieben sind und uns eine Einigung auf zugespitzte politische Aussagen oft sehr schwer fällt. Wozu eine so bunte Truppe eine so verbindliche Vereinsstruktur braucht, bleibt unklar. Hierbei scheint die fragwürdige Hoffnung zum Ausdruck zu kommen, dass sich mit der einheitlichen Organisationsform mittelfristig auch ein geschlossenes Weltbild und eine einheitliche politische Praxis vor Ort einstellen werden. Das Risiko, dass in der IL künftig nur noch Texte formuliert und Aktionen geplant werden, „mit denen alle beteiligten leben können“ und dass das politische Profil der Organisation vor lauter Kompromissbedürfnis so immer weiter verflacht, wird dabei offenbar in Kauf genommen. es gibt also viele gute Gründe, die starre Struktur der neuen IL noch einmal grundlegend zu überdenken. Bis dahin bleibt nur zu hoffen, dass niemand die im Zwischenstandspapier getroffenen Festlegungen zum Organisationsmodell allzu ernst nimmt.