arranca!: ¿Ihr habt jüngst eine Vortragsreihe unter dem Titel Organisation der Emanzipation veranstaltet? Was hat euch dazu bewogen, mal wieder die Organisationsfrage zu stellen?
Elfi: Die Organisationsfrage kam nicht plötzlich, sie wird seit Jahren immer wieder gestellt. In der jour fixe initiative war das Thema der Organisation schon lange im Gespräch für eine Reihe. Im den letzten Jahren schien die Diskussion wieder allgemeiner geführt zu werden, auch in unserem Umfeld – Interventionistische Linke, Ums-Ganze-Bündnis, NaO-Prozess, das sind drei Versuche, wieder größere Organisationsformen zu versuchen. Komischerweise ging das Thema in unserer Gruppe selbst mit mittelschweren Organisationsproblemen einher, ob dies ein Zufall ist, wissen wir nicht.
Titus: Die Organisationsfrage haben wir auch innerhalb der Finanzkrise, der Wirtschaftskrise gestellt, die zur realen, zur politischen Krise geworden ist. In Deutschland haben die Linken daraus leider gar nichts machen können. Eigentlich traurig, dass die Organisationsgfrage gestellt wird, wenn es eine Krise des Kapitalismus gibt. Nicht dann wenn der Laden boomt, wenn es wirklich etwas zu verteilen gibt.
Elfi: Aber es gab ja die linksradikalen Organisationsversuche ...
Titus: Aber das blieb auf die radikale Linke begrenzt. Obwohl im Feuilleton – insbesondere dem der FAZ von Frank Schirrmacher – Kapitalismuskritik wieder auftauchte und die Frage gestellt wurde, ob die Linke nicht eigentlich Recht hatte, konnte die Linke dies nicht für sich nutzen, um in weiteren Teilen der Bevölkerung Einfluss zu gewinnen.
Bini: Schade auch, dass die Organisationsfrage in der Regel in der Krise der Linken gestellt wird, also in dem Moment, in dem die Bewegungen einen Niedergang erfahren. (Die O-Frage wird gestellt, weil man eben die Erfahrung der Niederlage gemacht hat.) Etwa in der Organisationsdebatte nach 1968. Hier wollten wir eher kontrazyklisch diskutieren ...
Elfi: Obwohl sich dieses Phänomen auch in der Gegenwart wieder beobachten lässt, wenn auch nicht in Deutschland. Eine zentrale Frage war schon, wie denn die sozialen Bewegungen, die wir ja auch seit 2011 wieder verstärkt gesehen haben, verstetigt werden konnten. Wie verhindert werden kann, dass die Bewegungen nach einem kurzen Aufflammen wieder verschwinden.
Kruno: Die Organisationsfrage ist für radikale Linke eine Legitimitätsfrage, eine Frage, deren Antwort darauf abzielen muss, die eigene Existenz zu legitimieren. Wenn sie sich damit begnügt, in abgeschlossenen Zirkeln und marginalen, zumeist informellen Zusammenhängen intellektuelle Fingerübungen zu betreiben und lediglich über dieses und jene zu debattieren, dann verspielt sie ihre gesellschaftliche Relevanz. Die Organisationsfrage muss unabhängig von kapitalistischen Krisen oder Aufschwüngen, ja sie muss permanent gestellt werden, denn nur so kann sich auch eine Organisationsform herausfiltern, die zum einen nicht in die alten dogmatischen Hierarchien des Parteikommunismus abdriftet und zum anderen einen klaren ideologischen „Wertekanon“ einer radikalen Linken definiert. Im ehemaligen Jugoslawien, genauer in Serbien, führt die Desorganisiertheit und gesellschaftliche Marginalität der radikalen Linken dazu, dass einige linke Gruppierungen den Schulterschluss mit Nationalisten, teilweise sogar aktiven Faschisten suchen – denn diese hätten, so die voluntaristische Vorstellung, einen besseren Draht zur vermeintlich national gestimmten Arbeiterklasse. Solche ideologischen Verheerungen sind das Resultat der verpassten Fragestellung: Wie organisiert sich die radikale Linke?!
Stefan T.: Interventionistische Linke, Ums Ganze oder NaO sind eher traditionelle Organisationsansätze, die immer wieder innerhalb der Linken seit Jahrzehnten vorkommen. Diese Organisationen versuchen, Kampagnen zu politischen Brennpunkten zu organisieren oder einen Bezugspunkt für freischwebende Linke darzustellen, die damit eine Anlaufstelle bekommen. Die interessanteren Organisationsansätze liefern seit einiger Zeit die Flüchtlinge, die sich trotz aller Widrigkeiten und Unterschiede gut organisieren und soviel Öffentlichkeit wie nie zuvor in der BRD haben und spektakuläre Aktionen machen. Und sie hören nicht auf!
Bini: Ich halte ebensfalls die Selbstorganisierung von Geflüchteten für die bedeutendste politische Organisierung im aktuellen Deutschland – neben der Organisierung von Mieterinnen gegen Verdrängung und Zwangsräumung, insbesondere von Kotti & Co. Die Proteste gegen die polizeiliche Besetzung der Gegend um die Ohlauer Straße in Kreuzberg im Juni 2014 haben aber auch deutlich gemacht, welcher Organisationsmangel auf der Seite der Supporter_innen herrscht. Die Mobilisierung kam zwar nach einigen Tagen zäher Leere in die Gänge, aber die dann vorbeischlendernden Linken waren hauptsächlich damit beschäftigt, in Kleingruppen herumzustehen, das Geschehen zu kommentieren, über die Polizeistrategie zu spekulieren und sich über den Mangel an Organisation zu beschweren: Wo ist denn der Lauti? Hat denn niemand Flugblätter geschrieben? Wo sind denn die anderen? Es gab wenig Öffentlichkeitsarbeit, keine Taktiken im Umgang mit Uniformierten, die in Versammlungen reinrennen, oder überhaupt verbindliche Plena, Gruppenarbeit. Also auch kaum Weitergabe von Wissen durch erfahrene an weniger erfahrene Aktivist_innen. Mir schien sich hier ein neuer Typus einer großstädtischen linken Subjektivität zu zeigen: Politische Veranstaltungen werden vor allem individuell konsumiert, wobei die eigentliche Herausforderung darin besteht, zwischen der Vielzahl der Angebote medial zu koordinieren: „Ich kann heut nur kurz zum Plenum kommen, ich hab später noch ne Demo.“
Stefan T.: Es kann natürlich konsumistisches Verhalten bei Demo-Besuchen oder Rumstehen bei besetzten Häusern geben, aber die Aktivitäten rund um die Ohlauer Straße haben auch ganz neue junge Menschen erreicht und waren damit ein Angebot, welches nicht „schwierig“ war, sich zu engagieren. Die Schüler und Schülerinnen haben aus den Aktivitäten rund um die Ohlauer gelernt und dann einen Schülerstreik mit Bezug auf die Flüchtlingslage organisiert. Seitdem gibt es spezielle Netzwerke, in denen sich die Schüler gegenseitig informieren und zu Demos und Aktivitäten verabreden. Ganz ohne Plenas. Ich weiß dies alles von meinem Sohn, der seitdem politisiert ist.
¿Von der Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit eher „traditioneller Organisationsansätze“ scheint ihr nicht recht überzeugt zu sein. Darauf komme ich nochmal zurück. Wie aber würdet ihr die Lehren und Erfahrungen aus dem jüngsten Bewegungszyklus seit 2011 bilanzieren? Der ist ja anscheinend erstmal mehr oder weniger zu Ende, auch wenn einzelne Kämpfe und Kampagnen weitergehen, wie etwa die der Refugees oder die Blockupy-Aktionen. Haben nicht auch die Krisenproteste und Platzbesetzungen der letzten Jahre gezeigt, dass spontane Bewegungen allein nicht in der Lage sind, die fortgesetzte neoliberale Offensive abzuwehren? Von der Durchsetzung eines grundlegenden Richtungswechsels, einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformation ganz zu schweigen?
Titus: Ich möchte dieser negativen Einschätzung widersprechen. Die fundamentale Krise der kapitalistischen Verwertung, die 2007/08 offensichtlich wurde, ist weit davon entfernt, im Sinne der Herrschenden gelöst zu sein. Vielmehr erscheint es mir sinnvoll, von einer „Permanenz der Krise“ zu sprechen: Schuldenkrisen, Wirtschaftskrisen, Flüchtlingskrisen, Ökokrisen. Sie setzten den enger werdenden Rahmen für die Politik, sie regieren uns, ein nicht enden wollender Ausnahmezustand, der auch die bisherige feste Verbindung zwischen Demokratie und Kapitalismus unterspült. Vor diesem Hintergrund entstanden weltweit Protestbewegungen, deren Vehemenz vielleicht abgenommen hat, die auch Niederlagen erfahren haben, aber beendet sind diese Bewegungszyklen eben so wenig wie die Krisenzyklen.
Darüber hinaus erscheint mir beachtlich, dass wir es hier mit einer globalen Protestwelle zu tun haben. Vom Tahir-Platz, New York, Madrid, Brasilien oder in Hongkong gehen die Menschen auf die Straße, um ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen und sich gegen eine Politik der Krisenverwaltung zu wehren. Sie lassen sich nicht einreden, dass es keine Alternative gibt. Dies scheint mir grob gesagt eine Schnittmenge der natürlich ganz unterschiedlichen Proteste zu sein. Mich erinnern diese globalen Protestbewegungen, die Ereignishaftigkeit des Widerstands, die neuen Formen der Politik wie zum Beispiel bei Occupy sehr stark an die Ereignisse 1968. Auch damals gingen weltweit Millionen auf die Straße, die kein Parteibuch in ihren Parkern trugen, die sich selbst organisierten, weil sie die gesellschaftlichen Verhältnisse als erdrückend empfunden haben.
Ich sehe momentan eher eine Atempause dieser Geschichte als das Ende eines Bewegungszyklus, denn nichts hat sich geändert, nichts ist gelöst, die Krise wurde verschoben. Die millionenfach gemachten Erfahrungen von Widerstand und Solidarität, die die Menschen auf den Plätzen gemacht haben, lassen sich nicht rückgängig machen, existieren weiter. Sie werden auf lange Sicht die Gesellschaften im arabischen Raum und im Maghreb verändern.
Auch wenn sich mit dem Filter „tiefgreifende gesellschaftliche Transformation“ gerade ein ernüchternder Zwischenstand konstatieren lässt, stellt sich mir die Frage, welches Ereignis die Proteste wieder aufflammen lässt, wann diese Erfahrungen der Protestierenden reaktiviert werden. Denn so schnell sie verschwunden sind, so unerwartet werden sie woanders auftauchen, um ihren Bedürfnissen nach einer ganz anderen Gesellschaft Gehör zu verschaffen.
Bini: Ich schließe mich an. Eine Zwischenbilanz, drei Jahre nach der revolutionären Wiedereröffnung der Geschichte 2011, ergibt ein ambivalentes Bild. An einigen Orten erscheinen die Resultate der Rebellionen als revidiert. So wird in Ägypten der Freispruch Mubaraks als symbolische Restauration interpretiert, die allerdings selbst neue Proteste provoziert. An anderen Orten wie etwa in Tunesien hat die revolutionäre Dynamik reaktionäre Kräfte an die Macht gespült, deren Position aber keinesfalls gesichert ist. In der Ukraine, wo die Maidan-Bewegung sich ebenfalls der Codes der vorangegangen Platzbetzungen bediente, ließ sich von Anfang schwerer eine emanzipatorische Linie ausmachen – bereits die Suche nach einer solchen wird aber auch durch die dominante Konfrontation staatlicher Großmächte fast verunmöglicht. Meist hat die Militarisierung der politischen Auseinandersetzungen den demokratischen Manovrierraum zerrieben, doch selbst im syrischen Bürgerkrieg taucht in Rojava eine Kraft auf, die nicht nur antifaschistisch/anti-islamistisch emanzipatorisch ist – auch wenn der kurdische Neoanarchismus vermutlich nur wenig mit dem Arabischen Frühling zu tun hat. Dass aber noch im Herbst 2014 das Occupy-Gespenst plötzlich – und ausgerechnet – in Hongkong wiederkehrt, zeigt wie unberechenbar diese Welle der globalen Revolte verläuft. Sie ist auch in Südeuropa, insbesondere in Griechenland und in Spanien keineswegs abgeschlossen. Allerdings hatte ich auf den Blockupy-Tagen im November 2014 den Eindruck, dass sich einige der Akteurinnen deiner skeptischen Einschätzung anschließen und ihre Hoffnungen auf Syriza und Podemos zu richten beginnen. Dabei könnte es zu einer problematischen und aus der Geschichte bereits allzu bekannten Entwicklung kommen, in welcher nicht die Parteien die Bewegungen unterstützen, sondern andersherum die Bewegungen für die Regierungswerdung der Parteien instrumentalisiert werden.
Elfi: Die Bilanz beurteile ich ähnlich wie Bini und Titus. Ich glaube allerdings, dass es weniger darum geht, dass die existierenden spontanen Bewegungen (wobei es in Ägypten und auch in Tunesien auch gewachsene Strukturen gegeben hat) als spontane Bewegungen versagt haben, sondern dass die Frage der Verstetigungen von Bewegungen oder erlangten Erfolgen so leicht nicht zu beantworten ist. Auch kann sie nicht in binären Kategorien spontan versus organisiert, oder Bewegungen versus Parteien gedacht werden.
Historisch gesehen gibt es mit beiden Konzepten genügend schlechte Erfahrungen, um das eine gegen das andere auszuspielen. Das Neue wird häufig als das Erlösende oder Überlegene betrachtet, dabei fängt frau/man ja immer mittendrin an, auch wenn jede Generation ihre eigene Erfahrung macht. Spontane Bewegungen haben genau wie gestandene Organisationsstrukturen das Problem einer Verstetigung von Aufstandsbewegungen und Revolten. Wir wissen aus dem Scheitern der kommunistischen Bewegung, dass die Verstetigung nicht autoritär zu lösen ist. Wir wissen aber auch, dass die Macht uns nie vergisst und dass es nicht reicht, ihr die Räume einfach zu nehmen, wie es manch akutelles Manifest behauptet, sondern dass Räume gehalten werden müssen, ohne dass die Revolutionär_innen dabei ihren emanzipatorischen Habitus verlieren. Der aktuelle Bewegungszyklus besteht aus sehr heterogenen Einzelteilen, mehrheitlich handelt es sich um politische Aufstände, denen häufig ein sozialrevolutionärer Inhalt fehlte oder der nicht zum Tragen kam. In Spanien und Griechenland ist das anders, da geht es um beides. Allerdings gibt es in beiden Ländern auch den Versuch einer Neugründung von Organisationen, die Straße und Parlament zusamenbringen wollen. Es muss nicht unbedingt damit enden, dass die Bewegungen von den Parteien instrumentalisiert werden, sondern dass die neuen Bündnisparteien von den sie tragenden Bewegungen kontrolliert werden und auch, dass verbindliche Strukturen innerhalb der Bewegungen geschaffen werden, die das ermöglichen.
Stefan T.: Ich kann mich in großen Teilen meinen Vorredner_innen anschließen. Die erwähnten Bewegungen des arabischen Frühlings sind noch lange nicht am Ende, wie schon auf Ägypten verwiesen, kann der provokante Freispruch Mubaraks und seiner Söhne die herrschenden Militärs wieder mit Demonstationen und Aufständen konfrontieren. Die ersten Nutznießer der arabischen Aufstände, die Islamisten sind in der Region geschwächt. Sie haben realpolitisch versagt und sind offensichtlich nicht der Lage gewesen, die Lebensbedingungen und Freiheitsbedürfnisse auch nur ansatzweise zu verbessern.
Den Verstetigungsbegriff auf Bewegungen zu übertragen ist nicht möglich. Feste Organisationen mit Personal sind auch nicht in der Lage, irgendetwas von sozialen und politischen Bewegungen zu verstetigen. Die Erfahrung der BRD-Bewegungen hat doch gezeigt, dass keine feste Organisation, von SPD, Grünen, Linken oder Gewerkschaften eine Bewegung auch nur annähernd verstetigen konnte. Die inhaltliche Weiterentwicklung und Mobilisierungskraft dieser Organisationen ist in Bezug auf Bewegungen gleich null. Sie können sich nur anhängen.
¿Zumindest die Protestbewegungen im südlichen Europa haben ja nicht nur die millionenfache Erfahrung von Widerstand und Solidarität gemacht, wie Titus gesagt hat, sondern auch die Erfahrung machen müssen, dass der herrschende Machtblock sich selbst von millionenfachem Widerstand ziemlich unbeindruckt zeigt: Das scheint mir auch der – verständliche – Grund zu sein, warum viele Menschen nun ihre Hoffnungen auf Syriza und Podemos richten. Und da sehe ich auch die Gefahr, dass das bürgerlich-parlamentarische System einen starken Anpassungs- und Intergrationsdruck ausübt und staatliche Politik – jedenfalls ohne fortgesetze, breite gesellschaftliche Mobilisierungen – nur über sehr begrenzte Möglichkeiten verfügt. Was dann dabei herauskommen kann (vielleicht nicht muss), haben ja besonders abschreckend die Grünen vorgeführt. Wie könnten und müssten denn euerer Ansicht nach Organisationsformen aussehen, die einerseits nicht blindlings in die Parlamentarismus-Falle tappen und der Staatslogik erliegen und die andererseits über die manisch-depressiven Bewegungszyklen hinaus Widerstand auf Dauer stellen, Gegenmacht entwickeln und auch noch Perspektiven jenseits des Kapitalismus aufzeigen? Oder ist die Frage falsch gestellt: Funktioniert Emanzipation auch ohne Organisation?
Titus: Neben zahlreichen Protestformen und der Urbanität der Proteste ist eine inhaltliche Schnittmenge dieses weltweiten Protestzyklus 2010 die Forderung nach „wahrer Demokratie“, was im Zusammenhang mit den weltweiten, neoliberalen Umgestaltung der Gesellschaften steht. Während die Menschen im arabischen Raum gegen die despotischen Regime revoltierten, wand mensch sich in der westlichen Welt gegen die repräsentative, kapitalismuskonforme Demokratie. Verstärkt von der Krise 2007/08 wird Politik als Anpassung an die Erfordernisse der globalen Wirtschaft gesehen, die über alle Parteiengrenzen hinweg immer das Label „alternativlos“ trägt. Mit dem Angriff auf Arbeiter_innenrechte und soziale Errungenschaften ist diese Politik aber ein Klassenkampf von oben. Erinnert sei hier nur an die Krisenpolitik der so genannten Expertenregierungen und der Troika in Griechenland und Italien, wo sich nicht mal die Mühe einer demokratischer Legitimation gemacht wurde. Der Widerstand richtete sich aber nicht nur gegen die konkrete Austeritätspolitik und deren sozialen Härten, wobei hierbei besonders die Rolle der Gewerkschaften in Südeuropa zu betonen ist, sondern vielmehr gegen eine Verwaltung von oben, die scheinbar nur die Sachzwänge der Krise exekutiert. In den Zeltstädten der Plätze setzten die Demonstrant_innen dieser Politik ein egalitäres, horizontales Politikverständnis mit direktdemokratischen Entscheidungsmechanismen von unten entgegen. Folgerichtig werden politische Führungsfiguren und Programme abgelehnt sowie vertikal strukturierte Organisationen wie Parteien und Gewerkschaften mit Argwohn betrachtet. Die Protestler_innen lebten ihre Vorstellung von wirklicher Demokratie, was mensch nicht an eine Repräsentant_in delegieren kann. In diesem Fall funktioniert Emanzipation ohne eine übergeordnete Organisation. Ich bin davon überzeugt, dass dieser globale Protestzyklus noch nicht zu einem Ende gekommen ist. Den Sieg des herrschenden Machtblocks zu konstatieren, halte ich angesichts der immer wieder aufflammenden Proteste und der schwelenden Krise für verfrüht. Vielmehr sehen wir beispielsweise in Griechenland, wie die Demokratieerfahrungen des Syntagma-Platzes in den Alltag zurückfließen, wenn die Menschen selbstverwaltete Betriebe, Nachbarschaftszentren und Solidaritätskliniken gründen. Alternativ zum oft gescheiterten Versuch, mithilfe einer Partei die politischen Ziele übers Parlament umzusetzen (du nennst in deiner Frage ja schon zentrale Probleme des „Marsches durch die Institutionen“), kann es auf diese Weise zu einer Verstetigung der Bewegung und langfristig auch zu einer gesellschaftlichen Transformation kommen. Hierbei könnte natürlich eine Partei wie Syriza organisatorisch oder finanziell hilfreich sein, wenn sie sich als Unterstützerin der Bewegung, der horizontalen Demokratie und der Selbstorganisierung der Menschen versteht und diese nicht für das „Spiel um die politische Macht“ instrumentalisiert.
Elfi: Ich glaube nicht, dass emanzipatorische Verhältnisse ohne Organisierung der Kräfte, die diese wünschen und versuchen durchzusetzen, zu erreichen sind. Bei den Grünen lag es neben vielen anderen Gründen auch daran, dass Kontrollmechanismen, Rotationsprinzipien irgendwann außer Kraft gesetzt wurden und die sozialen Bewegungen aus denen die Grünen hervorgegangen sind, keine Durchsetzungsmacht mehr innerhalb der Partei besaßen. Deshalb sind die Grünen vielleicht ein ganz gutes Beispiel, um deutlich zu machen, wie es nicht funktioniert. Die Schere zwischen der Partei im Parlament und den außerparlamentarischen Bewegungen wurde im Laufe der Zeit immer größer, und es existierten keine Strukturen, um die Begehren der Bewegungen innerhalb der Partei durchzusetzen, auch deshalb, weil die Bewegungen diese Strukturen verweigerten. Deshalb ist für eine erfolgreiche linke Dialektik von Organisierung und demokratischer Kontrolle durch die Bewegungen, auf die sich bezogen wird, unentbehrlich. Was in der Frage „manisch-depressive Bewegungszyklen“ genannt wird, das passiert, wie mir eine tunesische Feministin erzählte, wenn „du ein Jahr täglich auf die Straße gehst, sich eine Müdigkeit einstellt, du willst, dass der herrschenden Macht etwas entgegengesetzt wird, aber diejenigen, die dir politisch gefallen, sich weigern Strukturen zu bilden, die deine Aktivität versuchen, gemeinsam mit dir zu verstetigen.“ Wie es mit der tunesischen Revolution weiter ergehen wird, wissen wir im Moment noch nicht so genau, aber der Mai 68 ist in Frankreich daran gescheitert, dass die Angst in die Parlamentsfalle zu tappen, die radikalen Linken dazu bewog, keine Partei oder ein Bündnis zu gründen, das die Neue Linke des Mai organisatorisch versammelt hätte – und parallel dazu wegen der Unmöglichkeit, die Mobilisierung der 10 Millionen durch den Generalstreik länger aufrecht zu erhalten. Entscheidend hinzu kam die Organisierung der Gegenseite, der herrschenden Macht gegen die vorrevolutionäre Situation.
Bini: Ist der der Mai 68 wirklich an der linken Angst vor Parteien gescheitert, Elfi? Gab es wirklich zu wenig Parteiorganisierungsversuche oder nicht vielleicht zu viele? Gabriel und Daniel Cohn-Bendit schrieben in Linksradikalismus – Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus bereits im Spätsommer 1968, dass viele Militante „von einer revolutionären Heilsarmee in die andere gegangen und immer wieder desertiert sind, […] ohne zu wissen, dass die IV. Internationale fünf verschiedene Führungen hat, oder dass die UJCML sich auf Mao Tse-tung beruft, während sich die PCMLF auf Mao Tse-tung beruft. […] Bei dieser Sabotagearbeit in der Partei oder den Gewerkschaften vergessen die Mini-Avantgarden jedoch nicht, sich voneinander zu distanzieren, sich gegenseitig auszuschließen, anzugreifen und die Schwachen oder die Kollaborateure zu exkommunizieren […]“ (S. 85). Sofern jede dieser „Parteien“ einen alleinigen Wahrheits- und Repräsentationsanspruch verkörperte, hatten diese Organisierungsversuche eher desorganisierenden Charakter. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung erscheint mir erstmal das Projekt Solidarity-for-All plausibler, das zwar Syriza nahesteht, aber explizit versucht, auf jeden Führungsanspruch zu verzichten. Stattdessen will es lediglich ein organisatorisches Netzwerk zur Verfügung stellen, durch das sich die vielfältigen Initiativen der solidarischen Ökonomie in Griechenland relativ horizontal verbinden können – und zwar über ihre Praxis. Denn als voneinander getrennte, autonom vor sich hin Arbeitende müssen sie notwendig auf dem Markt untergehen.
Elfi: Natürlich nicht nur an der linken Angst vor Parteien, Bini, das war ein Aspekt, es gab jede Menge Organisationen, entstanden in Opposition zur kommunistischen Partei Frankreichs, vor 68 und nicht danach wie in der BRD. Aber es gab diverse Versuche, die Akteur_innen des Generalstreiks und der Bewegung organisatorisch zusammen zu bringen, was nicht gelang. Cohn-Bendit gehörte mit einigen Maos und Trotzkis zur Bewegung des 22. März, die ein Versuch dazu war. Die PSU (Parti Socialiste Unifié) war ein anderer. Als sich die radikale Linke nicht entschließen konnte, sich irgendwie organisatorisch zusammen zu raufen, hatte die institutionelle Linke längst einen Kompromiss vorgeschlagen, und die letzten Streiks im Juni wurden genauso brutal beendet, wie die Repression gegen die vereinzelten Gruppen vorging.
Stefan T.: Die alte Frage nach parlamentarische Repräsentanz und außerparlamentarischer Opposition lässt sich nicht grundsätzlich beantworten. Das ganze Dilemma kommt auch daher, dass sich die Organisationsfrage nicht groß theoretisieren lässt. Marx Hinweis auf gesellschaftliche Widersprüche war eng an diepolitische Ökonomie angebunden. Die Produktivkraftentwicklung verändert den gesellschaftlichen Überbau. Die Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen zu begreifen, haben nach 68 nur die Operaisten versucht und sie mit weiteren theoretischen Kategorien aufgeladen. Und sie hatten bei den Klassenkämpfen in den großen Fabriken oft das richtige theoretische Werkzeug, um die Geschehnisse zu begreifen, aber sie waren nie der Ansicht, dass sie Klassenauseinandersetzungen mit festen Organisationsformen verlängern oder intensivieren könnten. Wann gesellschaftliche Widersprüche zur Bewegung werden, haben selbst die Bolschewiki nicht kapiert, sie haben auch nur mitgemacht und die Macht, die auf der Straße lag, an sich gerissen. Emanzipation oder Klassenbewusstsein entsteht in Bewegungen und nicht in festen Organisationen. Organisationen können nur Bewegungsforderungen aufgreifen und institutionell weiterverarbeiten. Organisationen werden dann von außen unter Druck geraten, wenn sie die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nicht mehr repräsentieren, wie bei den schon erwähnten Bolschewiki, den erwähnten Grünen, aber auch der kleinen NPA (Nouveau Parti anticapitaliste) in Frankreich, die sich im parlamentarischen Wahlkampf völlig verausgabt und zur Bedeutungslosigkeit verkommt.
¿In dieser arranca!-Ausgabe geht es vor allem um den bundesweiten Organisierungsprozess der Interventionistischen Linken, also einer basisdemokratischen, staatskritischen, für immer und ewig außerparlamentarischen, allgemeinpolitischen, linksradikalen Organisation, die mehr sein soll, als nur ein loses Netzwerk. Auch wenn Ihr in Bezug auf die Organisations- und Strategiedebatte in der IL keine Expert_innen sein mögt: Seht Ihr in diesem Unterfangen irgendeinen Sinn? Oder haben sich solche Organisationen Eurer Ansicht nach historisch erledigt?
Bini: Die von uns wiederholte Kritik der staatsozialistischen Organisierungstradition hat ja selbst eine lange Tradition. Spätestens mit den weltweiten Revolutionswellen von 1968 – ermöglicht durch den antikolonialen Befreiungskampf und die chinesische Revolution – wird diese Kritik in der Westlinken hegemonial. Einige ihrer organisatorischen Einsichten können als bleibende bewahrt werden: Die Partei hat nicht immer Recht, der Zweck heiligt nicht die Mittel, die Eroberung und Ausweitung der Staatsmacht führt nicht zum Absterben des Staates. Aber ungefähr ein halbes Jahrundert nach 1968 ist es ein Leichtes festzustellen, dass auch die undogmatische Kritik des marxistischen Dogmatismus kritikwürdige Effekte hatte. So wie die Gleichheits- und Einheitszentrierung der Traditionslinken in einer totalitär-staatlichen Wiederbelebung des Stalinismus mündete, so wurde die Orientierung auf Freiheit und Differenz der Neuen Linken in die vereinzelnde Flexibilisierung des Neoliberalismus gewendet. Im IL-Zwischenstandspapier zur Organisationsfrage taucht letztere etwa als „sprichwörtliche autonome Unverbindlichkeit“ auf, erstere als „formalisierte Struktur, die zu Bürokratismus und Erstarrung neigt“. Aus dieser historischen Perspektive begrüße ich zunächst weitergehende emanzipatorische Organisierungsbemühungen. Denn wir haben nicht nur von den bürokratischen Organisationen genug gesehen, sondern auch von der konsumistischen Desorganisation.
Elfi: Nachdem Bini die Gefahren jedweder Struktur treffend benannt hat, möchte ich meinem Beitrag ein Zitat aus der gerade übersetzten politischen Autobiographie von Daniel Bensaïd Die langsame Ungeduld voranstellen:
„Der Argwohn gegenüber den Logiken der Macht ist zweifellos heilsam. Aber kann man, bis zu einer neuen Ordnung, sich eine Politik ohne Autorität, ohne Macht, ohne Organisationen, ohne Parteien vorstellen? Das wäre eine Art Politik ohne Politik. Die modischen Diskurse über die Krise der „Parteiformen“ sind vor allem eine Form, der Frage nach Inhalten und Projekten auszuweichen. Vielleicht ist der Aufbau einer revolutionären Organisation so notwendig wie unmöglich, wie die absolute Liebe bei Marguerite Duras. Was noch niemanden daran gehindert hat, sich zu verlieben.“
Mir ist der Versuch der IL genauso sympathisch, wie der von NaO oder auch Ums Ganze, weil er einem gesellschaftlichen Bedürfnis nach unmittelbarer Veränderung entspricht. Die Notwendigkeit, sich zu organisieren angesichts der herrschenden Verhältnisse, halte ich für wichtiger als jeder verbindlichen Organisationsform auszuweichen, wie es der interessantere Teil der Neuen Linken nach ’68 versucht hatte. Allerdings eiert das Zwischenstandspapier der IL um den heißen Brei herum: Wie sieht denn genau die Struktur dieser werdenden Organisation aus? Aufgrund der bolschewistischen und der weniger schillernden grünen Erfahrung wissen wir um die Bedeutung demokratischer Strukturen und Regelwerke innerhalb jedweder Organisation. Welches Verhältnis haben in der IL die lokalen Basisinitiativen zum koordinierenden Gremium? Wie werden Entscheidungen getroffen, welche Kampagnen geführt und welche abgelehnt werden? Vielleicht klingt das zu konkret, aber der Erfolg eines weiteren oder mehrerer paralleler Organisationsversuche hängen von der Transparenz ihrer Entscheidungen ab. Das Ziel, die radikale Linke in der BRD innerhalb eines politischen Bündnisses auf organisatorische Art zusammen zu bringen, hängt selbstverständlich auch von programmatischen Inhalten ab. Das fehlende linke Programm der Grünen hat wie ihr parlamentarischer Eifer zum Zerfall ihrer demokratischen Regelwerke beigetragen.
Wenn Syriza Bestand haben sollte und es schafft, linke Politik konkret werden zu lassen, wird die gesamte europäische Linke davon profitieren und sich daran ein Beispiel nehmen. Falls Syriza verliert oder sich kompromittiert, werden auch andere Organisationsversuche darunter leiden.
Bini: Solche Organisationsprozesse sind von einer Reihe von Gefahren bedroht. Die im Falle linksradikaler Organisierungsversuche in Deutschland offenkundigste ist, dass diese Bemühungen einfach wieder versanden, die Organisationen entschwinden und vergessen werden. Eine andere Gefahr ist die der Integration in den Staat oder den Markt. Die Aufgabe besteht hier darin, eine Organisation zu erhalten, die weder als Partei in der parlamentarischen Staatspolitik verschwindet noch als NGO oder Gewerkschaftsapparat die Form der Lohnarbeit annimmt. Hinzukommen die Gefahren der Arbeitsteilung und organisatorischen Subjektivierung. In unserer Veranstaltungsreihe Organisation der Emanzipation hat Michael Koltan erzählt, dass der Organisationsprozess der Weiberräte in den frühen 1970er Jahren auch daran scheiterte, dass ein Großteil der Aktivistinnen ihre Energie auf die lokalen Kämpfe und Projekte richtete, während die bundesweite Organisation das Interesse einer Minderheit von Intellektuellen darstellte. Es ist eine große Gefahr für Organisierungen, dass in ihr Organisationskader, Spezialist_innen für das Allgemeine entstehen.
Kruno: Das von der IL veröffentlichte Zwischenstandspapier verdeutlicht zwei zentrale Momente der radikalen Linken in der BRD: zum einen den gegenwärtig leider sehr ernüchternden politischen Organisationsgrad der radikalen Linken, und zum anderen den permanenten Versuch ihrer Neuorganisierung. Ich denke, es gehört kein allzu großer politischer Weitblick dazu, um konstatieren zu können, dass die radikale Linke als politisch-eingreifendes Kollektiv höchstens partiell existiert, dass sie keinerlei gesellschaftliche Verankerung aufweist und überwiegend selbstreferentiell kommuniziert. Vor diesem Hintergrund, und da schließe ich mich meinen Vorredner_innen an – ist der von der IL unternommene Versuch einer Bündelung der Kräfte positiv und grundsätzlich unterstützenswert. Wie könnte es auch anders sein! Jeder und jede, der/die sich als Teil der radikalen Linken versteht, hat eine bewusste politische Entscheidung getroffen, und diese Entscheidung impliziert aktive Teilnahme: „Es ist ihre Pflicht“, um Agnes Heller zu zitieren, „gemeinsam mit allen zu denken, die konkrete Konflikte zu lösen trachten und Möglichkeiten des optimalen Handelns in konkreter Situation suchen.“ In welchen Organisationsformen sich das gemeinsame Denken jedoch abzuspielen hat, wie optimales Handeln organisiert werden und nach außen als Forderung getragen werden kann, darüber herrscht keine Einigkeit und darüber schweigt sich auch das Zwischenstandspapier der Il weitestgehend aus. Über durchaus bekannte Allgemeinplätze der Notwendigkeit einer Allianzen schmiedenden, auf Partizipation und Transparenz ausgerichteten, verbindlicheren Struktur, die „um politische Hegemonie ringt und Gegenmacht organisiert“ geht der Text leider nicht hinaus. Vielleicht ist das im Moment auch zu viel verlangt, und ich möchte die prinzipielle Notwendigkeit der hier angestoßenen Debatte auch gar nicht verwässern. Aber neben den von Bini, Titus und Elfi vorgetragenen Kritikpunkten, denen ich mich überwiegend anschließen kann, möchte ich zusätzlich auf eine schlecht beleumundete Organisationsform hinweisen, über die sich das Papier nahezu vollständig ausschweigt, zu der eine radikale, interventionistische Linke aber unbedingt eine klare, kritische und eben eingreifende, interventionistische Position einnehmen muss: der Partei. Es ist sicherlich richtig, dass die Partei nicht immer Recht hat, vielleicht ist sie sogar häufiger im Unrecht als im Recht. Doch das entbindet eine radikale, außerparlamentarische Linke nicht von der Pflicht, sich zu ihr zu äußern – und zwar nicht zynisch, sondern konstruktiv in Sinne von Agnes Heller. Die historische Erfahrung mit Parteien, so scheint mir, wird hauptächlich aus dem Blickwinkel ihrer absoluten Deformation heraus betrachtet. Und das ist ein guter Teil ihrer Geschichte. Doch genauso waren gerade die Parteiorganisationen der radikalen Linken bisher auch die poltisch erfolgreichsten Organisationsformen. Sowohl die SPD bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs als auch der Spartakusbund und die KPD bis zur Stalinisierung, und eben auch die Bolschewiki zu Zeiten der Revolution und der unmittelbaren, nachrevolutionären Periode. Auch in der Jetztzeit muss die radikale Linke Position beziehen gegenüber den parteiorganisierten GenossInnen, z.B. in der LINKEN – nicht als zynische Besserwisser, sondern als aktives Korrektiv. Darüber schweigt sich das Zwischenpapier bisher leider aus.
Stefan T.: Die letzte Frage bewegt mich zu ähnlichen Antworten, wie schon zuvor gegeben. Der Organisationsprozess von Il, NaO und Ums Ganze ist davon beseelt, dass wir Linksradikalen ohne Parteiaufbau nicht klarkommen und dass wir dann mehr gesellschaftlichen Einfluss bekommen würden. Beides muss nicht zusammen gehören! Gesellschaftliche Bewegungen finden außerhalb der Parteien statt, wie schon oft in diesem Interview dargestellt. Die Dialektik zwischen gesellschaftlichen Bewegungen und Organisation wird auch nicht dadurch lebendig und dynamisch, wenn man „revolutionär“ davorsetzt, wie uns Daniel Bensaïd weismachen will. Das Schicksal der NPA, an dessen Aufbau Bensaïd maßgeblich beteiligt war, zeigt dass die NPA und die sozialen Bewegungen in Frankreich in keinem dialektischen Verhältnis zueinanderstehen. Allein die Tatsache dass die deutschen Linksradikalen gleich wieder drei Organisationen aufbauen wollen, zeugt von einem irritierenden Unverständnis der politischen Situation und Möglichkeiten. Wenn keine revolutionäre Bewegung in Sicht ist, gründen wir einfach mal eine paar „revolutionäre Organisationen“ in der Hoffnung, dass es dann schon besser wird.
Titus: Natürlich erscheint das in die Zukunft projizierte Bild einer geeinten, politisch schlagkräftigen radikalen Linken in Deutschland, in der europäischen Höhle des Löwen, verlockend. Wer möchte hier nicht Teil einer wachsenden Bewegung sein? Und doch kann mensch sich nicht so einfach aus dem Dilemma einer politischen Organisierung herausstehlen. Einerseits bedürfen politische Geschlossenheit, Schlagkraft und das Stellen der Machtfrage einer vertikalen Organisation, die aber durch die historischen Erfahrungen linker Parteien und des Staatssozialismus zurecht desavouiert ist. Anderseits mangelt es den dazu entwickelten alternative Modellen einer horizontalen Organisierung von Widerstandsbewegungen, in denen Freiheit, Individualismus, Antibürokratismus und die Anerkennung des Andersseins dominieren, strukturell an politischer Kontinuität und Durchsetzungsvermögen. Bestenfalls werden sie von der Seite der Macht ignoriert, atomisiert, absorbiert, schlimmstenfalls gewaltsam zerschlagen. Diesem Dilemma muss sich die radikale Linke, auch in ihrer hiesigen Minderheitenposition, theoretisch und praktisch stellen. Hierfür müssten meines Erachtens zwei historische Organisationserfahrungen miteinander diskutiert werden: zum einen der basisdemokratische Rätegedanken, einer konsequent dezentral, von unten nach oben strukturierten Organisation, zum anderen ganz praktisch das demokratische Regelwerk der Grünen bei ihrer Gründung, wodurch Hierarchien, formelle sowie informelle Macht- und Führungsstrukturen strukturell verhindert werden sollten.
Vor dem Hintergrund der antiemanzipatorischen Erfahrungen mit vertikalen Organisierungsformen der Linken, wie sie Bini schon skizziert hat, ist die breite und zum Teil eigenwillige Rezeption der Foucault’schen Analyse der Mikrophysik der Macht in der bundesdeutschen Linken zu verstehen, in der die „List der Macht“ auf die emanzipatorischen Bewegungen zurückfällt. Ich möchte weder hinter diese Kritik zurückfallen, noch den einbalsamierten Lenin wach küssen, sondern für eine nach außen wie nach innen emanzipatorische und basisdemokratische Organisation der radikalen Linken plädieren, die gleichzeitig im Handgemenge der Macht durchsetzungsfähig ist.
Wir danken sehr herzlich für das Gespräch!