Zwei Krisen und ein Eisbär

Spot 1: Die Krise lernt laufen. Knapp 21 Monate sind vergangen, seit die Dominowelt des Finanzkapitalismus ins Wanken geriet. Noch im Herbst 2008 waren Notenbanker_innen, neoliberale Vordenker_innen, Manager_innen von Investmentfonds in heller Aufregung. Josef Ackermann, DAS Gesicht des Bankensektors in Deutschland, erklärte öffentlich, er habe das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Marktes verloren. Wenig später wurde eines der größten politischen Tabus der vergangenen Jahrzehnte gebrochen: Der Staat schoss Abermilliarden in den Bankensektor, legte Konjunkturpakete auf, machte Schulden, bezuschusste Unternehmen, steuerte, protegierte und regulierte, was das Zeug hielt – weltweit. Der Spiegel druckte den Nachruf auf das kapitalistische „Prinzip Gier“, das unsere Welt in die Krise gestürzt habe.

Ein Jahr später ist, als wäre nichts geschehen. Eine liberal-konservative Koalition hat die Bundestagswahl gewonnen – nicht trotz, sondern mit der Ankündigung massiver Steuergeschenke für Reiche und Unternehmen. Die Idee, dass die Wirtschaft brummt, wenn die Kosten des Kapitals gesenkt werden, scheint lebendiger denn je. Dass sich der Staat das verschenkte Geld und die Kosten der Bankenrettung irgendwo wiederholen muss, ist auch der größten politischen Abstinenzler_in klar. Bislang hat sich nur in Griechenland und Island Protest gegen große Sparpakete gerührt. In Deutschland und den meisten europäischen Ländern ist es weitgehend still geblieben. Statt zu Demonstrationen mobilisiert die städtische Bevölkerung zu Massen-Karaoke (London, Hamburg), Riesen-Flashmobs (Chicago) und Kissen- oder Schneeballschlachten mit tausenden Teilnehmer_innen (Berlin und über hundert Städte auf der ganzen Welt). „Tonight I‘m gonna party like it‘s 1929!“ Der Ruf „Menschen vor Profite“, der in den Jahren zuvor Zehntausende gegen die Alleinherrschaft des Neoliberalismus auf die Straßen brachte, ist verstummt.

Spot 2: Der Eisbär kriegt warme Füße – denn die Polkappen schmelzen. Dass der Klimawandel ein Ergebnis des kapitalistischen Wachstumszwangs ist, bestreitet ernsthaft niemand mehr. Doch als im Dezember 2009 die UN in Kopenhagen zusammenkam, um Klimaschutz-Maßnahmen zu beschließen, passierte, entgegen allen zuvor geschürten Erwartungen, weniger als nichts. Der Protest einiger tausend gegen diese Tragödie wurde von der Polizei erstickt. Zur selben Zeit strömten Millionen in die Kinosäle, um sich von der Revolutionierung des Films durch 3D-Technik zu überzeugen. Der Plot des teuersten Films aller Zeiten: Ein mystisches Naturvolk auf einem fernen Planeten verteidigt seine Lebenswelt erfolgreich gegen die Menschen, die die grüne Oase im All aus Profitgier zu verwüsten drohen.

Seit Beginn der Wirtschaftskrise erwarten viele Linke das Aufflammen von Protest. Dass zugleich die Klima-Krise auf die Tagesordnung drängt, verstärkt diese Erwartung noch. Die Übel des liberalen Kapitalismus treten deutlich hervor; auch seine Legitimationsgrundlage ist zerbröckelt, der Glaube an seine gestalterischen Fähigkeiten auf breiter Front zerstört. Warum also in Dreiteufelsnamen rührt sich nichts? Warum ist nicht nur die Linke, sondern die gesamte (nord-westliche) Gesellschaft wie erstarrt?

Drei Schatten und einige Fragen

Vor allem drei Schatten aus der Vergangenheit sind hierfür verantwortlich: die fehlende, weil nach wie vor diskreditierte Utopie der Linken, der marktkonforme Individualismus des neoliberalen Zeitalters und die (bewegungs-)politischen Traditionen der globalisierungskritischen Ära, die zwar noch das linke Denken bestimmen, zur Veränderung der aktuellen Lage aber wenig beitragen werden.

Das Verschwinden einer linken Vision von Gesellschaft, die Solidarität und gegenseitige Verantwortung umfasst, hat bereits lange vor 1989 den Weg freigemacht für die Vorstellung eines Individuums, das im Einklang mit den Gesetzen des Marktes und frei von beinahe allen gesellschaftlichen Bindungen nach Verwirklichung in Konsum und Arbeit strebt. Der neoliberale Mensch folgt dem Selbstbild einer Ware, die sich auf dem Markt gegen andere Waren behaupten, beständig an sich arbeiten und die eigenen Chancen optimieren muss. In diesem Bild ist für Kollektivität, politische Organisation und solidarisches Handeln wenig Platz. In den notorischen Jugenddiagnosen der letzten Jahre wurden die Heranwachsenden nicht von ungefähr als „Generation Praktikum“ oder „traurige Streber“ charakterisiert. Sie engagierten sich, so wussten die Soziolog_innen, sehr wohl für die Gesellschaft – aber auf eine Weise, die sich als Eintrag im Lebenslauf verwerten lässt. Projekterfahrung, vorzugsweise im Ausland, ist da gefragt. Alternative Gesellschaftsentwürfe sind es weniger.

Einen solchen zu reformulieren, ist der radikalen Linken auch deshalb nicht gelungen, weil sie es bislang versäumt hat, ihre eigene, realsozialistische Geschichte aufzuarbeiten. Stattdessen zitieren viele Linke noch immer die Symbole und Ausdrucksformen der autoritären parteikommunistischen Episode, mal unbewusst, mal kokettierend. Das hat zur Folge, dass nicht wenige der Vorstellungen, die sich nach 1989 eigentlich erledigt haben sollten, als linke Gespenster weiterleben – zum Beispiel die Vorstellung, ein kleines Grüppchen Erleuchteter könne der gesellschaftlichen Mehrheit politisches Bewusstsein (bei)bringen.

Anstelle einer bewussten Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und Gegenwart ist es – sichtbar vor allem in Theorie und Praxis der globalisierungskritischen Bewegung – zu einer anderen Reaktion gekommen: zur Ablehnung von institutioneller Organisation, ja von organisierter Macht überhaupt. Im Leitsatz John Holloways „die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ drückt sich diese Einstellung am prägnantesten aus. Diese Reaktion kann als Reflex auf die Tendenz kapitalistischer Gesellschaften, jeden Antagonismus profitabel zu integrieren, gedeutet werden – aber auch als Reflex auf die konservative Erstarrung der Institutionen-fixierten Linken.

Doch Macht ist eine grundlegende Eigenschaft menschlicher Beziehungen. Sie ist nicht bloß nebulös, sondern jede Machtgeographie verfügt über institutionelle Knotenpunkte – was in der Regel nicht heißt, es gäbe ein Machtzentrum, das man einfach erstürmen könnte. In diese Machtgeographien müssen linke Strategien eingreifen. Dass das und wie es unter den jeweiligen Bedingungen möglich ist, zeigen die Erfahrungen der jüngeren lateinamerikanischen Geschichte. In Venezuela, Bolivien, Brasilien und Ecuador versuchen Bewegungen ‚von unten‘ und staatliche Organisationen, ein produktives Wechselverhältnis einzugehen. Das ist nicht frei von Widersprüchen, hat aber bislang weder zur Erstarrung der politischen Basisprozesse geführt, noch dazu, dass die Ansätze von Poder Popular im Staat aufgegangen wären 1. Wir sollten diese Prozesse zum Anlass nehmen, über mögliche produktive Wechselverhältnisse zwischen außerparlamentarischer und institutionalisierter Politik nachzudenken.

Trotz allem hat die globalisierungskritische Bewegung der Linken wieder neues Leben eingehaucht. Das schlichte Beharren darauf, dass eine andere Welt möglich sei, war vielleicht verzweifelter Protest gegen einen übermächtig erscheinenden Gegner. Aber das Anwachsen dieser Bewegung um die Jahrtausendwende zeigte doch, dass das Beharren auf der Möglichkeit einer Alternative ein Bedürfnis von vielen auf der ganzen Welt war. Dieses Bedürfnis besteht, wie wir glauben, weiterhin, aber es lässt sich mit dem politischen Vokabular der globalisierungskritischen Bewegung nicht mehr abbilden. Ebenso wenig übrigens im simplen „Smash Capitalism“. Mit der großen Krise des neoliberalen Kapitalismus stecken auch die Begriffe seiner Kritik in der Krise. Die globalisierungskritische Periode ist vorbei. Wie der heutige Kapitalismus und die Suchbewegungen zur Regulation seiner Krisen zu kritisieren sind, ist noch reichlich offen.

Diese drei Lasten zusammengenommen lassen die Linke – und damit meinen wir die wie auch immer antikapitalistische – orientierungs- und machtlos erscheinen. Sie ist kein Pferd, auf das man setzen sollte. Sie vermag keine Perspektiven aufzuzeigen, keine Richtung zu weisen, noch hat sie nennenswerte Erweiterungen der Handlungsspielräume für alle, die es nötig haben, im Angebot. Im Angesicht der Krise setzt die neoliberal geprägte, politisch atomisierte gesellschaftliche Mehrheit daher – wenn sie überhaupt auf irgendjemand setzt – auf die Kräfte der alten Ordnung, die bislang erfolgreich den Eindruck zu erwecken wussten, sie hätten die Situation im Griff. Die Mehrheit der Bürger_innen hofft noch, nicht selber aktiv werden zu müssen, sondern durch Wegducken die Krise zu überstehen. Auch das ist eine Folge des neoliberalen Individualismus: Von gesellschaftlichen Fragen lässt man lieber die Finger.

Was heißt das oben Gesagte für die Linke? Zunächst einmal, dass wir einige Fragen zu stellen haben. Was für eine zukünftig mögliche Gesellschaft können wir, wenn auch nur in Umrissen, beschreiben? Dabei meinen wir nicht das farbenfrohe Ausmalen eines hübschen Nirgendwos, sondern das Bild einer glaubhaft möglichen anderen Gesellschaft. Wie können wir die kollektive Lähmung, die der neoliberale Individualismus erzeugt, überwinden? An welche Bewegungen und welche gesellschaftlichen Wünsche können wir dabei anknüpfen? Auf welche Kämpfe können wir uns dabei stützen? Und was bedeutet all das für unsere politische Praxis?

Eine Silhouette und zwei Maschinen

Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf die Silhouetten linker Utopie. Worin kann ein utopisches Projekt bestehen, worüber können wir uns (noch) sicher sein?

Sicher ist, dass wir ein gutes, würdiges und von ökonomischen wie politischen Zwängen so weit wie möglich freies Leben für alle Menschen anstreben, das zumindest insoweit rational organisiert ist, als es die ökologischen Grundlagen des Lebens nicht zerstört. Halten wir an der Annahme fest, dass der Kapitalismus einer der größten Gegner bei diesem Ziel ist, so bedeutet das nach wie vor: das Ende des Privateigentums und der Verhältnisse, die die kapitalistische Waren-Produktion und ihren Tausch bedingen und bedeuten, ein Ende der Ausbeutung, ein Ende des Wachstumszwangs.

Aber damit ist noch nicht alles gesagt. Ein wesentlicher Aspekt der Welt, in der wir leben, besteht darin, dass sie dem Einzelnen als Riesenmaschine gegenübertritt, als eine anonyme Apparatur, die übermächtig ist, aber keinen Aus-Knopf hat – und die wir scheinbar nicht verändern können. Der Kapitalismus – das hat schon good old Marx in seiner Analyse der Fetischformen von Ware und Geld gezeigt – lässt die gesellschaftlichen Abläufe als Sachzwänge und Naturgesetze erscheinen, denen der einzelne Mensch machtlos gegenüber steht. Er verschleiert, dass sie von Menschen geschaffen wurden und werden. Die kommunistischen Parteien des alten Jahrhunderts haben dem die Idee der Planbarkeit aller gesellschaftlichen Abläufe durch die Partei entgegen gestellt. Auch sie erschufen eine riesige Maschine, gegen die der Einzelne nichts war. An die Stelle der „unsichtbaren Hand des Marktes“, die die kapitalistische Gesellschaft steuern sollte, trat der Fetisch von Partei und Organisation.

Im kapitalistischen Westen veränderte die antiautoritäre Rebellion der 1968er Jahre, die sich gegen fordistische Disziplin und Konformismus richtete, die Gesellschaft. Der Kapitalismus nahm den in den Revolten von 1968 formulierten Wunsch nach Sinn und Selbstverwirklichung auf und integrierte ihn warenförmig. Auch auf diese Weise ist der Neoliberalismus entstanden. Der Realsozialismus schlug dieses Aufbegehren im Prager Frühling blutig nieder und schaufelte sich damit – Ironie der Geschichte – sein eigenes Grab.

Diese Erfahrung zeigt: Linke Politik darf nicht nur die Vision sozialer Gleichheit verfolgen, sie muss ebenso eine Vision der Partizipation und individuellen Entfaltung umfassen. Sie muss Kollektivität und Individualität verbinden, und sie darf das nicht erst irgendwann später erreichen wollen, sondern muss diese Prämisse an den Anfang ihrer Aktivitäten stellen. Sie sollte sich darüber Rechenschaft ablegen, dass ihre Organisations- und Umgangsformen einiges über die Gesellschaft verraten, die sie aufbauen wird, wenn man sie lässt: Dezentralität statt Zentralismus!

Daraus folgt auch: Die Linke kann nicht erst einheitliche Parolen ausgeben und dann möglichst viele Menschen oder Kämpfe hinter diesen versammeln wollen, sondern sie muss die Perspektive umkehren – wo liegt das Gemeinsame unterschiedlicher Kämpfe? Eine solche Fehleinschätzung lag vor einigen Jahren unserer Vorstellung zugrunde, eine gut begründete ‚Existenzgeldforderung‘ könne als Klammer unterschiedlicher Bewegungen dienen und diese zu einem gemeinsamen Kampf zusammenschweißen. Das ist aus guten Gründen nicht geschehen. Heute begehen die Anhänger_innen der 30-10-500-Parole (30 Stunden-Woche, 10 Euro Mindestlohn, 500 Euro Hartz IV Regelsatz) den gleichen Fehler. Auch sie entwerfen erst das Programm, um es dann ‚den Massen‘ anzubieten, anstatt sich zu fragen, welche Kämpfe es gibt und welche Anliegen sie ausdrücken. Es reicht nicht, die richtigen Ansichten und ‚Positionen‘ zu verbreiten. Wer darauf verzichtet, soziale Bedürfnisse zu ermitteln und zu organisieren, landet bei einer Politik der Verkündung und Besserwisserei; das Spektrum reicht vom Gegenstandpunkt bis ins antideutsche Lager.

Die Mayday-Bündnisse in Berlin und anderswo sind für uns eine Konsequenz aus dem Scheitern linker Ausdrucks- und Politikformen. Auf den Mayday-Paraden ging es um einen gemeinsamen Ausdruck als Prekäre – aber ebenso darum, die unterschiedlichen Widersprüche und Wünsche zu ermitteln und sichtbar zu machen, die von prekären Verhältnisse produziert werden. Dabei helfen uns alte linke Symbole wenig: weder der Schwarze Block, der mit den Widersprüchen der Prekarität nichts zu tun hat, noch das rote Fahnenmeer, das für die zentralistischen Formen der alten Arbeiterbewegung und ihre historischen Sackgassen steht. Aus diesem Grund geht der Mayday nicht in einer kämpferischen Parole auf, sondern hat Fragen gestellt und die Teilnehmer_innen ermuntert, ihre eigenen Anliegen zum Thema der Parade zu machen. Dass das gelungen ist, ist sein größter Erfolg.

Wenn der Kommunismus die „wirkliche Bewegung“ ist, die „den jetzigen Zustand aufhebt“, und sich die Bedingungen dieser Bewegung „aus der jetzt bestehenden Voraussetzung ergeben“ – wie Marx mal sagte –, dann muss sich eine erneuerte konkrete Utopie auch aus der aktuellen gesellschaftlichen Praxis ergeben, sie muss in den offenen und verdeckten Kämpfen und Bewegungen, die die Krise des Neoliberalismus begleitet oder bewirkt haben, zumindest schemenhaft erkennbar sein. Sonst bleibt sie ein abstraktes Modell, und solche Modelle „bleiben entweder schwelgerische Fantasien oder verwandeln sich in technokratische Projekte, wie sie für die sozialistischen Staaten charakteristisch waren: Die Linke hatte einen großen Entwurf und war von der historischen Aufgabe überzeugt, dieses Projekt realisieren zu müssen. Das heißt, sie hat es der Gesellschaft aufgeherrscht.“ 2

Dass diese Voraussetzung linker Politik es in der realexistierenden linksradikalen Szenerie so schwer hat, ist nicht zuletzt dem in den vergangenen Jahren prägenden Einfluss der antideutschen Strömung und ihrer Nachfolger_innen anzulasten. Paradigmatisch für diese Strömung ist, dass linkes Denken für sie nur aus der Erarbeitung abstrakter Wahrheiten und politischer Positionierungen zu bestimmten Fragen besteht, die dann der Allgemeinheit bzw. dem Rest der linken Szene um die Ohren gehauen werden.

Ob jemand zuhört oder etwas versteht, ist egal. Gesellschaftliche Bewegungen kommen dieser Strömung nur als Ausdruck falschen Denkens, als massenhaftes defizitäres Bewusstsein in den Sinn. Eine solche verbale Radikalität ist eine billige. Sie entbindet ihre Anhänger_innen von der Aufgabe, sich über gesellschaftliche Kräfteverhältnisse Gedanken zu machen, die eigenen Ziele und Methoden zu reflektieren und mit Nicht-Bekehrten zu diskutieren sowie solidarische Formen zu entwickeln, die man dem neoliberalen Alltag entgegen setzen könnte. Sie verschafft ihren Anhänger_innen ein Höchstmaß an radikaler Identität zum politisch-praktischen Dumpingpreis. In den letzten, an gesellschaftlichen Protesten armen, Jahren hat sich eine solche Haltung, die über den Dingen steht und nur mehr die Defizite von Bewegungen kommentiert, anstatt nach ihren Beweggründen und inneren Widersprüchen, an denen eine linke Intervention ansetzen könnte, zu fragen, weit in den linken Alltagsverstand vorgegraben.

Versteckte Wünsche und andere Motoren der Geschichte

Wir meinen, dass Ansatzpunkte für ein utopisches linkes Projekt in der gesellschaftlichen Praxis aufzufinden sein müssen. Genau aus diesem Grunde lohnt es sich, die offenen und die verdeckten Kämpfe und Bewegungen der vergangenen Jahre genauer zu betrachten. Wir möchten im Folgenden einige Vorschläge machen, die sich in erster Linie auf die kapitalistischen Länder Westeuropas und vor allem auf Deutschland beziehen. Die folgenden Vorschläge sind Schlaglichter, die die wirkliche Bewegung nicht erschöpfend beschreiben. Wir haben sie nicht ‚methodisch sauber‘ ermittelt – eher sind es Themen, auf die wir in Gesprächen in und außerhalb unserer politischen Praxis immer wieder stoßen. Doch gerade weil uns diese Themen immer wieder begegnen, glauben wir, dass es sich lohnt, darüber zu diskutieren:

Der Wunsch nach Kollektivität. Der Neoliberalismus hat das marktkonforme Individuum produziert, und er hat es einem immensen Druck ausgesetzt. Es muss sich permanent beweisen – die Gefahr des Scheiterns lauert hinter jeder Ecke. Die Gesellschaft hat sich aus der Verantwortung gestohlen. Das bekommt das akademische Prekariat ebenso zu spüren wie die sogenannte Unterschicht, die auf allen Kanälen mit Erziehungsformaten – Bewerbungstrainings, Sozialfahnder_innen, Super-Nannies, Aufstiegschancen im Big Brother-Haus, Topmodel- oder Superstar-Shows und und und – bombardiert wird, die ihr in den Kopf hämmern, dass sie selber Schuld ist, wenn‘s im Leben nicht läuft. Es ist bemerkenswert, dass die neoliberale Ideologie von Konkurrenz und Leistung sich vor allem über solche medialen Formate vermarktet, weniger über politische Diskurse oder Organisationen. Verbindliche nicht-privatwirtschaftliche Organisationsformen liegen der neoliberalen Ideologie schlecht.

Gegen den marktradikalen Individualismus haben sich in den vergangenen Jahren erstaunliche Bewegungen entwickelt, die das gemeinsame Erlebnis als solches ins Zentrum ihrer Aktivitäten stellen. Eingangs war bereits von Flashmobs, Freiluftkaraoke und Massen-Schneeballschlachten die Rede. Diese Liste ließe sich ergänzen um die Party-Szene, die das gemeinsame Erlebnis zum Programm erhob und es manchmal – zum Beispiel im Kampf gegen Mediaspree in Berlin – mit dem Kampf um öffentliche Räume und Orte verknüpfte. Damit ist nicht gesagt, dass das tagelange Feiern in illegalen Clubs oder zu unchristlichen Uhrzeiten schon per se eine rebellische Haltung ausdrückt. Eher könnte man es als temporären Ausstieg aus dem Alltag betrachten. Doch die Beispiele zeigen – so zumindest scheint uns – die Sehnsucht nach einem gemeinsamen, selbstbestimmten Ausdruck im Plural. Wir deuten das als nicht-bewusstes, aber gerade wegen ihrer scheinbaren Zweck- und Nutzlosigkeit trotziges Aufbegehren gegen den neoliberalen Individualismus, der die letzten Jahrzehnte beherrscht und die meisten kollektiven Orte in der Gesellschaft zerschlagen hat.

Der Wunsch nach Würde. Der Fall der Kaisers-Kassiererin Emmely erregte im Jahr 2009 die Gemüter. Emmely war nach 30jähriger Betriebszugehörigkeit gekündigt worden, weil sie Pfandbons im Wert von 1,30 Euro für sich behalten haben soll. Anders als in 99 Prozent solcher Fälle hat Emmely die Sache nicht auf sich beruhen lassen und vor Gericht auch keinem Vergleich zugestimmt, sondern den Fall publik gemacht und für ihr Recht gekämpft. Damit ist Emmely zu einem Symbol für den Kampf um Würde geworden. Weil sie als eine Vertreterin der vielen ‚kleinen Leute‘ auf ihrem Recht bestanden hat – im Gegensatz zu allen Kosten-Nutzen-Kalkülen, die gesagt hätten, das lohnt sich nicht, nimm lieber eine Abfindung – und weil sie auch nach 30jähriger Betriebszugehörigkeit als Person würdevoll und nicht wie ein Gebrauchsgegenstand behandelt werden will.

Wenn eben vom neoliberalen Individualismus die Rede war, dann ist das nur begrenzt als Freiraum für Individualität zu verstehen. Zwar griff der Neoliberalismus den in der antiautoritären 68er Revolte aufgebrachten Wunsch nach individueller Entfaltung auf, insofern es sich gegen den Konformismus und die gleichmachende Gewalt der Organisationen richtete. Doch die Richtung, in die er diesen Wunsch transformierte, war marktförmig. Das Ergebnis ist zwiespältig: Auf der einen Seite hat ‚der Markt‘ die Eigenschaft, den Menschen zu ent-individualisieren. Im Geschäft kauft man die Ware  – egal ob Gegenstand oder Dienstleistung –, aber sein_e Erschaffer_in bleibt unsichtbar. Auf der anderen Seite ist zwar der Spielraum für persönliche Lebensentwürfe größer geworden, aber in vielen Bereichen ist auch der Druck gewachsen, die Individualität mitzuverwerten, dem zu vermarktenden Produkt/Dienstleistung bestimmte Charaktereigenschaften zuzuweisen. Seifen von Lush machen nicht bloß sauber, sondern sind „tröstend, beruhigend und erfrischend“, „nehmen dich in den Arm“ oder „helfen dir, morgens in die Gänge zu kommen“. Wenn jemand selbstständig/kreativ tätig ist, steigt der Druck als individuell besondere Ware sichtbar zu werden. In eine solche Marken-Identität können jedoch nur die Seiten der Persönlichkeit einfließen, die auch am Markt verwertbar sind. Während also der Einzelne_n von allen Seiten angetragen wird, möglichst originell und individuell zu sein, wird Individualität auf ihre glänzenden Seiten reduziert. Die Persönlichkeit als Schaufenster – dieser Widerspruch hat es in sich.

Als Kompensation wird über den Konsum bestimmter Produkte oder ein bestimmtes Freizeitverhalten persönliche Identität zurückerstattet. Nicht umsonst ist es in den vergangenen 30 Jahren zu einer wahren Explosion der Jugend- und Subkulturen gekommen, die sich mit großem Eifer voneinander abgrenzen. Der Konsum von Identität ist umso bedeutsamer geworden, je mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens kapitalisiert wurden. Die ständige Arbeit an der eigenen Individualität – sei es in Jugendkulturen, bestimmten Konsummustern oder Krankheiten – begleitet die Unterwerfung der Gesellschaft unter den Markt.

Aktuell zeigt sich in den sozialen Netzwerken im Internet, welche Kraft der Wunsch, als Individuum sichtbar zu werden, hat. Unaufgefordert geben hunderte Millionen Menschen jeden Tag intimste Informationen aus ihrem Sozialleben einer halbanonymen Öffentlichkeit preis. Sie drängen aus der Unsichtbarkeit des (Arbeits-)Alltags ins Rampenlicht der Netzwerk-Öffentlichkeit. Für stundenlange Arbeit am eigenen Profil und eine geradezu beängstigende Freizügigkeit verlangen sie keine weitere Gegenleistung als die Bestätigung durch Kommentare und „Gefällt-mir“-Klicks. Entgegen der Annahme aus der Gründerzeit dieser Netzwerke, die Menschen würden sich schillernde Kunstidentitäten zulegen und fantastische Avatare erschaffen, zeigt sich: Die meisten Menschen möchten als diejenigen Personen, die sie sind, von anderen gesehen werden. Sicherlich wird das Bild häufig geschönt und es mischt sich mit der erlernten Prämisse, sich möglichst vorteilhaft (als Ware) darzustellen. Aber dass so viele so vieles von dem, was sie tun, quasi ungefiltert ins Netz laden, ist ein Hinweis darauf, wie stark der Wunsch ist, sichtbar zu werden und als Privatperson einen Wert zu erhalten – und wie wenig dieser Wunsch nach Bestätigung von der neoliberalen Gesellschaft erfüllt wird. Wir glauben, dass auch dieser Wunsch von einer linken Bewegung aufgegriffen und organisiert werden muss – sonst findet er andere Ventile. Der Nationalismus und neue Formen der Religiosität sind solche reaktionären Formen, Identität und Wert jenseits des Marktes zu erlangen.

Der Wunsch nach Sinn. Im Vorfeld der Berlinale 2008 hat unsere AG Soziale Kämpfe zusammen mit Leuten von Euromayday Hamburg prekär Beschäftigte auf dem Filmfestival interviewt. Das Ziel war, einige von ihnen für die Planung einer Aktion zu gewinnen, die die Prekarität der kulturellen Produktion ins Scheinwerfer-Licht der Berlinale rücken sollte, um dadurch Organisierungsprozesse anzustoßen. Wir hatten erwartet, dass die meisten Gesprächspartner die Schattenseiten ihrer Arbeit in den Mittelpunkt stellen würden: Stress, unzureichende Bezahlung, Überstunden, enttäuschte Erwartungen. Tatsächlich kamen all diese Punkte in den Gesprächen vor. Doch mindestens ebenso großen Raum nahmen die positiven Seiten der Tätigkeiten ein. Jeder unserer Gesprächspartner_innen – von der Dokumentarfilmerin bis zum Security Mitarbeiter – hat nach dem Sinn seiner Arbeit gesucht, darauf beharrt, dass seine oder ihre Aufgabe wichtig für das Gelingen des Festivals sei, und mit uns darüber gesprochen, was er oder sie an seiner oder ihrer Arbeit mag. Damit hatten wir nicht gerechnet. Wir schließen daraus, dass wir die inhaltliche Seite der Arbeit nicht so gering schätzen dürfen, wie wir zunächst dachten. Der Wunsch, eine sinnvolle und – auf welche Weise auch immer – erfüllende Tätigkeit auszuüben, ist ein Aspekt, der den meisten mindestens ebenso wichtig ist, wie eine angemessene Bezahlung – manchmal wichtiger. Und wenn wir ehrlich sind, geht es uns nicht anders. Schlecht bezahlte Jobs haben alle von uns schon gemacht und dass umso länger und bereitwilliger, je angenehmer und inhaltlich zufriedenstellender die Arbeit war. Kein Mensch kann über längere Zeiträume acht Stunden am Tag einen Teil von sich selbst abspalten, um zu funktionieren, und sich danach wieder neu zusammensetzen, ohne daran kaputt zu gehen. Identifikation mit der Arbeit ist eine fundamentale Überlebensstrategie, um seine Arbeitsexistenz auszuhalten, die Suche nach sinnvoller Arbeit zentraler Aspekt eines würdigen Lebens.

Wenn wir uns die sozialen Kämpfe der letzten Jahre ansehen, dann stellen wir fest, dass die oben genannten Bedürfnisse auf die eine oder andere Art in vielen dieser Kämpfe eine Rolle gespielt haben. Der Aufstand der Zapatista im Jahr 1994 war auch ein Kampf gegen die Unterdrückung von indigener Identität und Autonomie. In der Auseinandersetzung um queere Lebensweisen ging es zentral um die Anerkennung nicht-konformer Identitäten. Der Aufstand in den Banlieus französischer Städte vor gut zwei Jahren war eng mit der sozialen Misere verzahnt, in der ihre Bewohner leben. Doch die Rebellion erhob keine Forderungen, sie war vor allem ein sprachloser Aufstand gegen Ausschluss und Entwürdigung. Immerhin waren die meisten dieser Kämpfe aus linker Perspektive sichtbar. Wir haben gerade deshalb ‚unsichtbare‘ Artikulationen herausgestellt, da sich an ihnen besonders gut zeigen lässt, welche sozialen Wünsche wir bislang übersehen haben, gerade weil sie nicht als klassische Revolten oder Protestbewegungen daherkommen. Wir glauben, dass diese Wünsche aufgegriffen und von links thematisiert werden müssen, weil sie sich sonst andere Fürsprecher_innen suchen oder schaffen. Und das können leicht auch unsere Gegner_innen sein.

Objektiv und Subjektiv

Bislang haben wir versucht, einige der Punkte zu benennen, die der Entstehung von Bewegungen und Kämpfen gegen den kriselnden Kapitalismus entgegenstehen: die unaufgearbeitete Geschichte des Kommunismus und damit verbunden das Fehlen einer konkreten Utopie, der neoliberale Individualismus und die Erblasten der globalisierungskritischen Bewegung. Danach sind wir auf einige derjenigen gesellschaftlichen Wünsche eingegangen, die tendenziell im Widerspruch zur neoliberalen Logik stehen und die eine linke Politik unseres Erachtens aufnehmen muss. Kommen wir nun darauf zurück, was das für die strategischen Perspektiven der radikalen Linken bedeutet.

Vor etwa einem Jahr, Anfang 2009, bekam im Spektrum der ‚Krisen­proteste‘ ein Begriff von Rosa Luxemburg wieder Konjunktur: die ‚revolutionäre Realpolitik‘. Um den erwarteten Großangriff auf soziale Rechte abzuwehren, seien breite Bündnisse und die Zuspitzung auf mobilisierende Forderungen notwendig. Die Forderungen sollten, so schrieb etwa die Berliner Gruppe Soziale Kämpfe (GSK) vor einem Jahr (ak Nr. 536), mit Kapitalismuskritik und ersten Schritten in Richtung einer gesellschaftlichen Alternative verbunden werden. An die Stelle verbalradikaler Bekenntnisse sollten konkrete ‚Einstiegsprojekte‘ in eine nicht-kapitalistische Gesellschaft treten: etwa der Ausbau einer sozialen Infrastruktur, die Demokratisierung und gesellschaftliche Kontrolle wichtiger Wirtschaftsbereiche (wie des Bankensektors) etc. Doch die als Auftakt einer ganzen Protestwelle geplante Demonstration am 28. März vergangenen Jahres war eine Überraschung, insofern sich außer der ganzen Bandbreite der zu Demonstrationen mobilisierbaren Linken kaum jemand beteiligt hat.

Wir teilen vieles aus der Analyse der GSK vom vergangenen Jahr, zum Beispiel bezüglich der Frage öffentlicher Güter und der Notwendigkeit breiter Bündnisse. Trotzdem haben wir uns an den ‚Krisenprotesten‘ rund um den 28. März eher zurückhaltend beteiligt. Warum? Niemand hat die Frage beantwortet – oder auch nur gestellt – wie das Geplante gelingen soll, angesichts der Tatsache, dass die existierende Linke in einem desolaten Zustand ist. Noch weniger reflektiert wurde, dass es eine politisch weitgehend passive und apathische gesellschaftliche Mehrheit gibt, an die man noch so flammende Appelle richten kann, ohne größere Wirkung zu erzielen, weil sie nicht gelernt bzw. es verlernt hat, ‚sich selbst politisch zu mobilisieren‘. Die Montagsdemonstrationen gegen die Einführung von Hartz IV vor sechs Jahren waren die Ausnahme.

Nur weil wir uns ‚objektiv‘ in einer historischen Umbruchsituation befinden, ändert sich das nicht plötzlich. Man könnte auch sagen: Die oben dargestellte Analyse beruft sich auf im linken Lager relativ konsensfähige ‚objektive‘ Faktoren, lässt aber den subjektiven Faktor vollkommen außer Acht. Warum gehen Menschen auf die Straße? Weil es ein gemeinsames Anliegen und eine gemeinsame Sprache gibt. Eine Aufgabe linker Politik besteht darin, die neu entstehenden Kämpfe zu beobachten und nach ihren Motivationen zu fragen, ohne sich dabei von gewohnten Kategorien und Analyse-Rastern blind machen zu lassen.

Ein Trio mit vier Fäusten

Vor dem Hintergrund der oben angestellten Überlegungen ergeben sich vier wichtige Ebenen für eine linke Politik: Sie muss ‚Sinn‘ organisieren; sie muss kollektive Erfahrungen organisieren; sie muss Erfolgserlebnisse und Macht organisieren; und sie muss dem Wunsch nach Würde in ihren Kämpfen Raum geben. Wir wollen im Folgenden darauf eingehen, was das für eine linke politische Praxis bedeuten kann.

‚Sinn‘ organisieren

Der Kapitalismus ist nicht nur irrational, er schafft sich seine Krisen selber. Diese Irrationalität tritt in den aktuellen Krisen deutlich zu Tage. Doch die alltäglichen Deutungen der Welt, auf die wir in Gesprächen stoßen, strotzen nur so vor Widersprüchen: Ja, der Kapitalismus macht die Erde kaputt, aber er ist nun mal das effektivste System, das es gibt. Ja meine Kolleg_innen/Nachbar_innen/Freund_innen sind alle sehr hilfsbereit, aber der Mensch an sich ist egoistisch. Auch über die von Guido Westerwelle provozierte Hartz-IV-Debatte ließe sich ein solcher Satz bilden. Der italienische Marxist Antonio Gramsci hat das einmal den „bizarr“ zusammengesetzten Alltagsverstand genannt. Eine Aufgabe linker Politik ist es, alternative Deutungen zu liefern, die uns und unsere Gegenüber zu mehr Kohärenz in der Argumentation zwingen. Das ist auch deshalb notwendig, weil die beschriebene Inkohärenz und Irrationalität im Zusammenhang mit weit verbreiteten Existenzängsten Einfallstore für rassistische und ausgrenzende Diskurse und Positionen sind.

Das ist allerdings leichter gesagt als getan, denn die Durchsetzungs­fähigkeit bestimmter Deutungen ist immer auch eine Machtfrage. Solange der Neoliberalismus fest im Sattel saß, war seine Ideologie nur schwer zu beschädigen; heute sieht das anders aus. Die radikale Linke hat also die Aufgabe, mit ihren Deutungen an Punkten anzusetzen, an denen unser ideologischer Gegner schwach ist. Die Klimapolitik ist ein solcher Punkt. Wie eingangs gesagt, wird kaum jemand bestreiten, dass der Zwang zu Profitmacherei und Wachstum, also das Grundprinzip des Kapitalismus, die Hauptschuld an der rasanten Erderwärmung trägt. Allerdings zeigt sich hier auch die Grenze alternativer Deutungen. Solange sie keine Veränderungsperspektive aufzeigen können, bleiben sie folgenlos: Es mag ja sein, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise eine Ursache der Klimakatastrophe ist, doch unmittelbaren Einfluss auf ihre politische Bearbeitung haben nun einmal die Mächtigen in Politik und Wirtschaft.

Wenn unsere Deutungen Einfluss gewinnen sollen, brauchen wir daher nicht nur die besseren Argumente, sondern auch eine glaubhafte Alternative – womit wir wieder bei der Notwendigkeit wären, an einer erneuerten konkreten Utopie zu arbeiten. Es kommt aber noch ein dritter Faktor hinzu. Eine abstrakte alternative Vorstellung ist schön und gut, aber sie braucht eine Machtperspektive. Da die Linke nur mächtig ist, insofern sie es schafft, sich selbst und andere zum Handeln zu bringen, wir es gegenwärtig aber mit einer nicht handelnden bzw. zum Handeln nicht bereiten gesellschaftlichen Mehrheit zu tun haben, bedeutet das: Linke Deutungen der Welt müssen Ermutigungen zum Handeln enthalten.

Deshalb sehen wir es als eine Aufgabe linker Politik an, ermutigende Erzählungen zu schaffen, in denen die Menschen als handelnde Subjekte, nicht bloß als Objekte von Verwaltung und Opfer politischer Willkür auftauchen. Ein Beispiel für eine solche Erzählung sind die prekären Superheld_innen. Prekäre, so die ursprünglich im Rahmen der Mailänder Euromayday-Paraden entworfene Erzählung, sind allein durch ihre prekäre Existenz gezwungen, ‚Superkräfte‘ zu entwickeln, anders können sie nicht überleben. Diese setzen sie nun ein, um gegen Prekarität zu kämpfen. In Hamburg hat eine Gruppe von prekären Superheld_innen diesen Vorschlag aufgegriffen und aus einem Luxus-Lebensmittelgeschäft Delikatessen entwendet und kostenlos verteilt. Die Geschichte ging durch die Medien und hat allenthalben für klammheimliche Sympathie gesorgt.

Die Herausforderung besteht also darin, Ansatzpunkte für alternative Deutungen und linke Erzählungen zu finden, die auch in alltäglichen Auseinandersetzungen und Konflikten ermutigend wirken und Handlungsfähigkeit schaffen. Ein solcher Ansatzpunk kann der gesellschaftliche Sinn der Arbeit sein. Zum Beispiel im Gesundheitswesen. In der Tat haben es die Beschäftigten dort schwer zu streiken, denn darunter leiden die Patient_innen. Wenn sie nicht streiken, leiden die Patient_innen aber auch, weil unter dem Druck der Profitmacherei keine würdige Pflege möglich ist. Die Verantwortung für das Wohl Kranker kann ein Argument sein zu kämpfen – und ein Argument, sich mit dem Kampf zu solidarisieren. Die französische Gewerkschaft SUD hat sich diese Argumentation in ihren Mobilisierungen zu Eigen gemacht. Die Frage, wie die Pflege Kranker in der Gesellschaft organisiert sein soll, geht alle an – und ihre Antwort liegt jenseits der kapitalistischen Profitlogik. Die Kritik am Kapitalismus und das Gespräch über utopische Gegenentwürfe können und müssen wieder im Alltag geführt werden, damit das Gespräch über die Gegenwart in Gang kommt.

Kollektive politische Erfahrungen organisieren

„Liebe Freundinnen und Freunde, wir haben jetzt sichere Infos, dass alle anderen Zufahrtstraßen nach Heiligendamm auch blockiert sind. Wir schreiben gerade Geschichte!“ Das rief ein völlig euphorisiertes Mitglied unserer Gruppe am 7. Juni 2007 auf dem Blockadepunkt des G8-Gipfels in Reddelich in sein Megaphon. 3 Vielleicht wurde an jenem Tag im Juni nicht Geschichte geschrieben, aber für die Beteiligten fühlte es sich so an. Das zuvor erzeugte politische Umfeld und die massenhafte Beteiligung an den Blockaden – trotz rabiater Polizeieinsätze im Vorfeld – hatten eine Situation geschaffen, die es Politik und Polizei ratsamer erscheinen ließ, die Versammlungen nicht zu räumen, nachdem sie einmal ihr Ziel erreicht hatten. Zumindest für einige Stunden hat ein selbstbewusstes kollektives politisches Subjekt die Planung der offiziellen Abläufe durcheinander gebracht – und gezeigt, dass die ‚Riesenmaschine‘ verwundbar ist. Dieser gemeinsam errungene symbolische Sieg war für alle Teilnehmer_innen von Block G8 eine euphorische Erfahrung, Inspiration und Ermutigung weit über den Tag hinaus.

In der gegenwärtigen Situation weitgehender gesellschaftlicher Vereinzelung muss kollektives Handeln wieder neu erlernt werden, Sozialität und Solidarität wieder erfahrbar werden. Das Bedürfnis hierzu ist groß, wie wir weiter oben versucht haben zu zeigen. Die Frage ist, wie dieses Bedürfnis mit offensiven politischen Erfahrungen verbunden werden kann – und wie eine Kollektivität aussehen kann, in der das Individuum nicht untergeht, sondern sichtbar bleibt.

Schon bisher haben viele unserer Aktivitäten auf die Herstellung von Kollektivität und auf die Organisierung kollektiver Handlungsfähigkeit gezielt. Die Berlin umsonst-Aktionen vor einigen Jahren waren Versuche, sich in spielerischen Inszenierungen Waren, Dienstleistungen oder Erlebnisse gemeinsam anzueignen und so Handlungsmöglichkeiten zu erproben und zu politisieren. Auch die Mayday-Paraden am 1. Mai zielten auf einen gemeinsamen Ausdruck der Prekären, ohne deren Individualität zu leugnen – mithin auf eine Identität auf der Suche. Wenn es ein Markenzeichen der Mayday-Parade gibt, dann sind es die Sprechblasen, auf denen die Teilnehmer_innen ihre eigenen Forderungen und Statements eintragen. Natürlich ist damit noch kein neues politisches Subjekt entstanden – aber ein Anfang. Die Parade ist ein Experimentierfeld für neue Ausdrucksformen; zuletzt hat sie den Raum geöffnet für Regelverstöße auf niedrigem Niveau – so sind im letzten Jahr zahlreiche Farbeier auf das Bundesfinanzministerium geflogen. Auch hier ist die Frage, wie man diese Erlebnisse weitertreiben kann, damit daraus gemeinsame Handlungsfähigkeit wird, und sei es nur als Ermutigung für die Kämpfe des Alltags.

Solche Momente gemeinsamen öffentlichen Handelns sind notwendig, um politische Apathie und Resignation zu überwinden und irgendwann einmal Partizipation und Befreiung zu erreichen. Die Wahl der Form ist dabei abhängig von dem sozialen Erfahrungsschatz, auf den man sich beziehen kann – und auch von den politischen Konstellationen, unter denen wir aktiv sind. Gegenwärtig geht es vorrangig darum, Gelegenheiten zu schaffen, bei denen möglichst viele Leute mit einem klar kalkulierbaren Risiko erste Erfahrungen mit selbstbestimmten kollektiven Handlungen sammeln können, zum Beispiel bei der Blockade des Nazi-Aufmarschs in Dresden. Das ist in den meisten Situationen mehr wert, als wenn ein kleines Grüppchen Vermummter einer passiven Zuschauermenge vorführt, dass eine gut organisierte Gruppe militant gegen die Polizei vorgehen kann. In Zeiten breiter Bewegung kann sich das wieder ändern und das Einüben von massenmilitantem Verhalten notwendig sein.

Erfolge organisieren – Macht organisieren

Linke Politik kann nicht allein aus einem fernen Ziel und viel Vorstellungskraft bestehen. Sie muss auf dem Weg dorthin Veränderungen erkämpfen. Durch erfolgreiche Kämpfe verändern sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und der Kontext sozialer Kämpfe. Es entstehen neue Bedürfnisse, aber es stellt sich das Problem der Kooptierung (dieses unvermeidbare Dilemma sah bereits Rosa Luxemburg). Aber: Ein politisches Projekt, das lediglich auf dem religiös-jenseitigen Versprechen einer besseren Welt nach der Revolution besteht, sollte man lieber gleich bleiben lassen. Wer nie Fortschritte verzeichnen kann, wird irgendwann merkwürdig. Das bedeutet, dass wir den falschen Gegensatz von Reform und Revolution hinter uns lassen müssen. Revolutionäre Bewegungen entstehen immer in Kämpfen für Reformen. Die Kunst besteht darin, Kämpfe um Reformen mit dem Kampf um eine grundlegend andere Gesellschaft zu verbinden.

Der Kampf für Reformen als Kampf um gesellschaftliche Kräfte­verhältnisse ist nur auf der Grundlage von Bündnissen mit anderen gesellschaftlichen Kräften jenseits der radikalen Linken möglich – mit Akteuren der ‚Zivilgesellschaft‘, mit Gewerkschaften und Parteien oder einzelnen Gliederungen derselben und mit Kräften in den Staatsapparaten. Allerdings sollte dabei zweierlei gelten: Zum einen muss die Richtung, in die wir wollen, erkennbar bleiben. Zum anderen gilt als Richtlinie für eine Politik in oder mit Institutionen, dass sie dann zu befürworten ist, wenn sie die Spielräume für soziale Kämpfe von unten vergrößert.

Diese zweite Prämisse kommt praktisch derzeit zum Beispiel in Bezug auf gewerkschaftliche Politikansätze zum Tragen. Gewerkschaftliche Organizing-Projekte sind ein Versuch, den einige DGB-Gewerkschaften derzeit erproben, um ihre desolaten Mitgliederzahlen wieder aufzupolieren. So lange damit kein Bruch mit der politische Passivität fördernden Tradition der Stellvertretung verbunden ist, kann uns das herzlich egal sein. In den bestehenden Organizing-Projekten wird aber auch der Kampf darüber ausgetragen, wie die gewerkschaftliche Herangehensweise an Politik ‚im Betrieb‘ künftig aussehen wird. Werden bloß neue Mitglieder ‚gemacht‘, die dann mit Trillerpfeifen ausgerüstet zum Warnstreik geschickt und danach wieder zurück an die Arbeit beordert werden? Oder werden längerfristige praktische Strukturen aufgebaut, in denen Beschäftigte ihre eigenen Interessen artikulieren und vertreten können? Diese Frage ist noch nicht entschieden; aber wenn sich die zweite Variante des Organizing durchsetzt, dann wäre das ein Bruch mit den politischen Traditionen des DGB, der sich auf Form und Inhalt der Klassenkonflikte der kommenden Jahre positiv auswirken würde.

Bei Kämpfen um Reformen geht es einerseits um die Durchsetzung bestimmter Ziele und um Bewegungsprozesse auf dem Weg dorthin. Das bedeutet angesichts der bestehenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zunächst einmal, gewinnbare Kämpfe zu führen. Auch das ist ein Kriterium, nach dem wir gelegentlich (und mehr als heute!) unsere Aktivitäten bestimmen sollten. Aus unseren Kämpfen sollten wir gestärkt hervorgehen.

Zu diesem Punkt gehört auch der Aufbau kollektiver solidarischer Strukturen in und für unseren Alltag, die es uns selbst ermöglichen zu kämpfen. Soziale Kämpfe und Bewegungen betreffen schließlich auch uns selbst, denn wir leben nicht nur als politische Aktivist_innen, sondern auch als soziale Wesen. Doch die Beschäftigung mit der eigenen sozialen Situation wird in der radikalen Linken oft naserümpfend beäugt und als Luxusproblem betrachtet. Deklassiert und ausgebeutet sind immer die anderen. Abgesehen davon, dass aus einer solchen Haltung oft ein ziemlich bürgerlicher Hintergrund spricht, fragen wir uns, wie eine Linke attraktiv sein soll, wenn sie nicht eigene solidarische Formen zur Bewältigung des Alltags entwickelt? Solche Formen sind in der Linken nach wie vor verbreitet – Wohngemeinschaften, Hausprojekte, eine Kultur der gegenseitigen Hilfe… –  allerdings sind sie selten eine bewusste Ressource, und es wird wenig Energie auf ihre Weiterentwicklung verwandt. So ist es immer noch so, dass die meisten Linken, wenn sie einen Beruf ergreifen, Kinder bekommen oder krank werden, aus der politischen Arbeit herausfallen. Die Lebensweise der linken Szene ist leider immer noch auf junge, gesunde Menschen mit viel Zeit ausgerichtet.