Seit Mitte der 90er Jahre üben die Tute Bianche in ihrer theoretischen Praxis die Ingebrauchnahme operaistischer Begriffe: Multitude, reale Subsumtion der Gesellschaften unter das Kapital, In-Wert-Setzung des gesamten Lebens, der Kommunikation, des Wissens, der Affekte usw. Die Tute Bianche könnten sich zum Beispiel gesagt haben: Wenn es stimmt, dass die Produktion den Ort der Fabrik verlässt; wenn es stimmt, dass die Arbeitskämpfe und sozialen Auseinandersetzungen der 60er und 70er mit dazu geführt haben, dass die Fabrik in die Gesellschaft diffundiert, dass die gesamte Gesellschaft zur Fabrik wird; wenn es stimmt, dass die feministische Sichtweise, nicht-bezahlte Arbeit zur gesellschaftlichen Produktivität zu zählen, auf erweitertem Level historisch wahr geworden ist; wenn es stimmt, dass das Kapitalverhältnis sich immer produktiver durch die Körper frisst; das Wissen über die Arbeitsabläufe, die Fähigkeit zu Kooperation und Selbstorganisation, die Gefühle und Subkulturen in Wert setzt und die Subjekte drängt, Unternehmer ihrer eigenen marginalisierten und fragmentierten Existenz zu werden, dann ist es an der Zeit, mitten in dieser Subsumtion eine biopolitische AktivistIn zu erfinden, die auf der Höhe der Zeit ist. Auf der Höhe der Zeit heißt für die Tute Bianche, dass die politischen Praktiken die gesamte vernetzte Sozialität, die der Spätkapitalismus hervorbringt, verwertet und kontrolliert, durchlaufen müssen. Das ist die Multitude. Unglaublich kitschig. Aber charmant. So etwas wie kämpferische Heterogenität. Eigentlich könnte man sagen: das wieder entdeckte Patchwork der Minderheiten, das um sein Modernisierungs- und Innovationspotential für die Verhältnisse weiß. Das Kämpferische wird produktiv und positiv. Das ist die Schule des Kapitalismus selbst, hinter dessen Lehrplan die Tute Bianche nicht zurückgehen wollen: Die permanente zur Selbstunternehmung mobilisierte Subjektivität (Mach was! Verwirkliche, äußere, beweise dich! Rette dich selbst!) soll weniger zur Negation, zum Bruch, zur Arbeitsverweigerung, zum Nehmt die Gewehre! oder zur Sekunde zwischen Wurf und Aufprall, sondern in erster Linie zum Aktivismus dissidenter Selbstorganisation fortschreiten.
Die praktische Praxis rauscht stärker als die theoretische Praxis. Noch direkter als in der Theorie führt sie zur Begegnung mit dem, was nicht gedacht und nicht berücksichtigt wurde. Am 20. Juli scheiterte das Tute bianche-Konzept der spielerischen Militanz und der begrenzten Provokation an der Strategie der Polizei. Ihr war es gelungen, die Straßenmilitanz, mit der sie zu rechnen hatte, direkt in die Aufstandsbekämpfung miteinzubauen. Das Klirren der Scheiben wurde in Kauf genommen, um sie als Vorlage zu nutzen, auf jeden organisierten Ausdruck von Demonstration draufzuhauen.
Ecstasy für die Multitude
An der Straßenschlacht, die sich nach dem Polizeiangriff auf die Tute Bianche-Demo entwickelte, waren zu einem Drittel kunststoffgepolsterte DemonstrantInnen beteiligt. Das Umschalten von der so genannten disobbedienza civile zum konventionellen Riot ging schnell, spontan und reibungslos. Diese Übergänge von einer Praxis in die andere, die Grauzonen, das Rauschen und die Diffusion ihrer Vorgehensweisen repräsentieren die Sprecher der Tute Bianche nicht. Ihre relativ starke Position kollidiert mit ihrer Vorstellung der Multitude, was auf der Titelseite der Wochenzeitung „L’Espresso“ gut zum Ausdruck kam – vorne Luca Casarini, Sprecher der Tute Bianche, im Hintergrund die Multitude im Demolook der Saison mit Skimütze und weißem Overall.
Die Tute Bianche artikulieren genauso wie Pink Silver, das Netzwerk der People’s Global Action oder die AktivistInnen migrantischer Selbstorganisation ein Versprechen. Das Versprechen des Politischen. Das leise Wiederauftauchen der Optionen. Das Politische der Situation liegt im Asubjektiven. Es sind in erster Linie nicht die einzelnen Subjekte, die schlauer werden. Denn selbst wenn, würde das nicht ausreichen. Es ist eher das Zusammentreffen. Dieses Gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen. Jenseits der Anstrengung, politisch weiter machen zu wollen, sind die Dinge in Bewegung geraten, weg vom Solidaritäts-Internationalismus, weg von einem Antirassismus, der als erneuerte Identitätspolitik für eine autonome Linke funktioniert, weg von den Vorstellungen der Unterstützung und des Fürsprechens, weg von der pathetischen Authentizität des Streetfighters
Leider sind in der BRD nicht People’s Global Action, Pink Silver, Indymedia, The Voice, das Grenzcamp usw. zu Echokammern für dieses erneuerte Gefühl des Politischen geworden, sondern Attac.
Gegenüber der Sedierung1 des Politischen bei Attac sind die Tute Bianche Ecstasy. Das Interessante ist ihre avancierte Vorstellung vom Kapitalismus als gesellschaftlichem Verhältnis. Sie holen den Antikapitalismus weg vom Ökonomismus. Nach einer starken Phase der Integration erneuern sie unter dem Label der Multitude das Konzept der mikropolitischen Praktiken. Und mit der These von der Produktivmachung und In-Wert-Setzung aller subjektiven Artikulationen fusionieren sie feministische und operaistische Ökonomietheorie. In ihrer Selbstsicht scheinen die Tute Bianche aber die gegenläufigen, nicht intendierten und ambivalenten Effekte ihrer politischen Arbeit nicht zu sehen. Der Widerspruch zwischen Multitude und der starken Position ihrer Sprecher ist ein Beispiel. Ein anderes ist die Restrukturierung der Centri sociale in Rom, Mailand und im Nordosten Italiens, die mit ihrer Analyse des Postfordismus zu tun hat: Nachdem sich der disziplinierte und homogene Ort der Fabrik in netzförmige, entgarantierte, fragmentierte und atypische Arbeitszusammenhänge aufgelöst hat, wird immer intensiver auf den lebendigen Reichtum der Subjekte, ihr Wissen, ihre Kommunikation, ihre Selbstorganisation, ihre Gefühle zugegriffen. Der kommunistische Horizont dieser Analyse liegt in der Möglichkeit der selbstbestimmten gesellschaftlichen Kooperation der Multitude, die in den Alltagsstrukturen des Kapitalismus entsteht. Diese Analyse ist sehr optimistisch. Sie dethematisiert die Unentschiedenheit des Kräfteverhältnisses. Sie fragt zu wenig, was es bedeutet, wenn die Multitude in den Teamgeist von Start ups und jungem Unternehmertum regrediert; was es bedeutet, wenn die Netzwerke der SelbstunternehmerInnen in radikalisierte Ideologien investieren: Ultraindividualismus und Abbau aller sozialen Ausgaben, Regionalismus und Rassismus; und was es bedeutet, wenn in den meisten atypischen Dienstleistungsjobs nicht der lebendige Reichtum der immateriellen ArbeiterInnen verwertet wird, sondern ihre Bereitschaft zu flexiblen Services wie Putzen, Aufpassen, Kehren, bezahlter Hausarbeit, Telefonieren für Konzerne usw. Zusammen mit einer Existenzgeldkampagne haben eine Reihe von Centri sociale Ende der 90er Jahre damit begonnen, eine Beratung für immaterielle ArbeiterInnen aufzubauen. Leider überlassen die Tute Bianche die kritische Diskussion, inwieweit diese Praxis auf kommunaler Ebene der Stärkung des sogenannten Dritten Sektors und der zivilgesellschaftlichen Eigeninitiative entgegenkommen könnte, ihren KritikerInnen. Eine Arbeitsteilung, die ein weiteres Mal das Verhältnis der Multitude unterbricht und die moralische Old School von Denunziation und kritikloser Selbstabschließung in der Linken etabliert.
Kulturalisierung des Politischen nach dem 11.9.
Der terroristische Angriff auf das World Trade Center am 11.9. hat auf einen Schlag gezeigt, was negative politische Potentialität ist. Die Tage nach Genua waren von einer asubjektiven Potentialität neuer internationaler Praktiken bestimmt, die auch dann noch strahlte, als sie sich in Berlin nicht in alltägliche Politik umsetzen ließ, als die Veranstaltungen und Demonstrationen von den alten Sprechweisen und Artikulationsformen bestimmt wurden, und das Gefühl der Langsamkeit zurückkehrte. Die Zeit nach dem 11.9. zeigt dagegen, was negativer Internationalismus ist, das Auftauchen einer äußerst riskanten und politischen Situation auf internationaler Ebene, von deren Bestimmung man vollkommen abgeschlossen zu sein scheint. Die reaktionäre Struktur des Terroranschlags drückt sich in seiner extrem imaginären und katastrophischen Kraft aus: Das Zentrum, das es nicht gibt, ist getroffen worden. Der SciFi ist eingetreten. Wir befinden uns im Rücken des Bildschirms und der kollektiven Sicherheitsängste kapitalisierter Gesellschaften. Seine gleichzeitig materielle, vernichtende Gewalt, mit der eine Art technologisch präzises Totenfest inszeniert wurde, führt dazu, dass sich das politische Feld auf vielen Ebenen verändert. Der Terroranschlag ist ein Katalysator nach rechts. Er macht schon länger existierende hegemoniale Strategien auf einen Schlag in einer neuen Dimension politisch funktional – vor allem die Etablierung eines flexiblen Polizei- und Kontrollregimes nach innen und außen und eine rechte Kulturalisierung des Politischen. Das heißt die Gefahr eines gesellschaftlichen Konsenses, der besagt, dass es nur das Bestehende oder den Terror gebe.
Das, was jetzt passiert, erschöpft sich nicht in einer militärischen Operation, mit der das religiös-paranoische System der Taliban und das terroristische Netzwerk al Qaida wie per Lichtschalter ausgeschaltet werden. Augenscheinlich geht es um eine Tendenz, das gesellschaftliche Feld weiter in Richtung einer globalisierten Normalisierungspolitik zu entwickeln, in der das Bestehende nicht mehr durch politische Praktiken oder Aktionen in Frage gestellt wird, sondern durch das Abnorme, Gefährliche, Kriminelle und Menschenrechtsverletzende, also durch Drogen, Terror, ethnischen Hass, organisierte Kriminalität, religiösen Fundamentalismus usw. – Phänomene, die nicht aus ihrer politischen Entwicklungsgeschichte und in ihrem politischen Ausdruck, sondern wie Naturkatastrophen begriffen werden, die über das hereinbrechen, was ist.
Mit dem 11.9. hat ein Prozess der Negativ-, der Minus-Politisierung begonnen, in der die gesellschaftliche Entwicklung sich hermetisch verschließt. Das wirft ein irres Schlaglicht auf den Optimismus der operaistischen Theorie des Postfordismus. Seine glückliche Analyse der möglichen Zukunft immaterieller ArbeiterInnen springt zu leichtfertig über die postfordistischen Subjekte hinweg, die Schill, FPÖ, Fini und Lega Nord wählen. Und sie fragt noch weniger nach der Transformationsdynamik, mit der der Fordismus in den ehemals kolonisierten Staaten in die Krise kam, ohne sich überhaupt etabliert zu haben. Die Projekte der nachholenden Industrialisierung, der Import-Substitution, der nationalstaatlichen Entwicklungsdiktaturen zum Fordismus sind genauso gescheitert wie die sozialistischen Staatsprojekte im Trikont. Der Übergang zum Postfordismus hat sich viel katastrophischer als in den kapitalistischen Zentren realisiert, auch wenn mit der Peripherisierung der Metropolen und der Entstehung von global cities eine Tendenz der Ineinanderschaltung von erster und dritter Welt sichtbar wird. In den riesigen informellen Armutsökonomien des Südens, der Schattenwirtschaft und der Heimarbeit, im massenhaften Selbstunternehmertum auf der Straße wird (wie im Norden) nur selten eine proto-kommunistische Multitude sichtbar, die sich die Arbeitsmittel und das Wissen der Kooperation produktiv angeeignet hat; dafür aber die materielle Basis für die Verbindung, die neoliberales Selbstunternehmertum der Armen mit rassistischen, politisch-religiösen und ethnischen Ideologien eingeht.