Naomi Klein berichtet, dass verschiedene Gruppen für den Oktober einen symbolischen Angriff gegen den Finanzdistrikt Torontos geplant hatten. Schon vor dem 11.9. waren die Plakate gedruckt worden, auf denen Hochhäuser abgebildet und mit roten Umrisslinien als prekäre Zonen markiert waren.
Auch die Neoliberalismuskritik zielte auf Symbole des Kapitalverhältnisses. Ende der 90er hatten AktivistInnen von AC! (Gegen die Arbeitslosigkeit) ein Feuer in der Pariser Börse angezündet und Papiergeld von den Rängen regnen lassen.
Die Flugzeuge, die in die Tower in NY flogen, sind nun offenkundig alles andere als ein Verstärker der in Seattle artikulierten Kritiken. Das liegt schon daran, dass mit den Flugzeugattentaten keine Ziele formuliert wurden und die, über die spekuliert wird, sich von Seattle unterscheiden. Das Ausmaß des Angriffs auf das WTC überformt gigantisch die unterschiedlichsten Ansätze in der Postfordismuskritik. Verschiedenste Unklarheiten oder Widersprüche, die zum Kern der Bewegung gehören, finden sich nach dem 11.9. verschoben:
- Die politischen Ziele der Bewegung sind auch in Genua unklar und heterogen geblieben.
- Das Niveau des Angriffs wurde nicht genau bestimmt. Der faschistoide Polizeiapparat in Genua verdeckte, dass die Bewegung insgesamt keine wirkliche Unversähnlichkeit mit dem Staat entwickelt. Vor allem in Frankreich zeigt sich das an den Überlegungen zur Rettung des Wohlfahrtstaates. Auch die Tobin-Steuer setzt einen funktionierenden Staat voraus.
- Verwüstete McDonald’s-Läden ändern nichts daran, dass sich daraus kein moralischer Imperativ gegen Fast-Food mehr ergibt (in den 80ern der Ökobewegung war das anders).
- Forderungen nach offenen Grenzen ersetzen keine Überwindung der sozialen Segregation1 zwischen Migrant/innen und nationalen Eingeborenen.
- Die Kritik an den neuen Ausbeutungsverhältnissen in deregulierten Arbeitsmaschinen wird nicht unbedingt dadurch aufgehoben, dass manche in der Bewegung stolz darauf sind, selbst wie moderne Unternehmen funktionieren zu können.
Die Bewegung löst diese Art von Widersprüchen nicht. Sie hält sie nur aus: Das allein bedeutet schon eine Stärke. Man könnte auch sagen, es ist ihre historische Bedingung und insofern weder gut noch schlecht. Es gibt dafür viele Gründe und ist möglicherweise (emanzipativ) schlicht nicht anders denkbar. Einer liegt schon darin, dass bei vielen Linken langsam die Erkenntnis angekommen ist, dass man nicht damit fortfahren kann, historische Subjekte irgendwo in der Welt zu suchen, die tatsächlich in der Lage wären, den Antagonismus zum System zu tragen; also Menschen, die objektiv bis zu dem Grade ausgebeutet werden, dass ihre Ablehnung des Systems auch nicht durch das Versprechen auf partielle Verbesserungen aufzuheben wäre. Verzichtet man darauf, Radikalität auf andere zu projizieren, dann folgt daraus, dass ein Angriff – auch ein radikaler – nur mit Verwicklung in das, was er angreift, gedacht werden kann. Darin liegt ein Antitotalitarismus, der kein Selbstzweck ist, sondern nur so stark ist, wie er Neues erfindet: neue strategische Verbindungen, neue soziale Realitäten. Die Differenzen zwischen NGO-Strategien, zwischen außerparlamentarischer Sozialdemokratie oder einem internationalistischen Antikapitalismus sind dadurch nicht verschwunden.
Heterogenität der Bewegung
In bestimmter Hinsicht ermöglicht die Heterogenität und Widersprüchlichkeit der Bewegung eine Integration auch sehr unterschiedlicher Politikansätze und lokalspezifischer politischer Erfahrungen. Sind beispielsweise die jeweiligen Geschichten der Linken in der DDR und BRD schon kaum miteinander zu vergleichen, so sind die Unterschiede in Deutschland und Frankreich nicht kleiner (in Frankreich gab es eine staatstragende Linke, in der BRD nicht). Wie viel weniger einfach ist das im Fall ehemaliger Kolonialstaaten oder Ländern des früheren Staatssozialismus mit überwiegend muslimisch orientierter Bevölkerung. Der Einsatz, den die globalisierungskritische Bewegung für die Affirmation der Migration, ihre Durchsetzung und die Sichtbarmachung des Zusammenhangs zwischen Kapitalismus und Einwanderung leistet, macht nur dann Sinn, wenn diese Unterschiede übersprungen werden können. Überspringen heißt aber nicht unsichtbar machen oder beseitigen, sondern eher realisieren. Ein Sprecher von THE VOICE sagte zum Beispiel auf einer Diskussionsveranstaltung zu Genua, dass die Mehrzahl der europäischen DemonstrantInnen mit ihren politisch-sozialen Erfahrungen den G8-Eliten näher stünden als den kämpfenden Subjekten im Süden. Die Bewegung ist so gut, wie sie etwas daran ändert und gleichzeitig nicht daran auseinander bricht.
Es ist wichtig, bestimmte Widersprüche und Unterschiede in der politischen Bewegung konstruktiv zu machen, will man nicht andere dissidente Erfahrungen kolonialisieren. Wenn die Bewegung damit den Internationalismus der 80er Jahre beerben kann, dann eben in einer Umkehrung. Statt eine gemeinsame Front aufzubauen, werden heute eher Vorstellungen von Netzen entwickelt, die Widersprüche verbinden können. Genau das ermöglichte bis heute überhaupt, dass sich die ökonomische Globalisierung kritisch nachvollziehen ließ. Initiativen wie MoneyNation oder nettime machten beispielweise vom Zusammenhang zwischen Internetkommunikation und neuen kulturellen Mustern in einigen Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes Gebrauch, um eine Zusammenarbeit herzustellen, die nicht ausschließlich darauf basiert, dass alle gemeinsame Ziele verfolgen. Es ist für die Strategie der Bewegung wichtig, die Bewegung nicht mit den Bewegten zu verwechseln. Eine Bewegung kann besser oder schlechter sein, als die individuelle Verfassung der Beteiligten das vermuten lässt. Negri machte schon für die Pariser Streikbewegungen in den 90er Jahren geltend, dass es nicht alleine ausschlaggebend sei, dass ihre expliziten Forderungen bürgerlich seien. Die öffentlichen Beschäftigten schienen sich nur für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze zu interessieren, die SchülerInnen nur für Reformen im Schulbereich. Aber die Radikalität und das Ausmaß der Streiks hatten eine eigene Dynamik, die mehr versprach. Die bürgerliche Ausrichtung der Beteiligten und der OrganisatorInnen waren nicht 1:1 auf die Bewegung hochzurechnen. Das trifft auch weiterhin zu, auch für die Momente, in denen verschiedene Menschen in Genua einen wirksamen Zusammenhang erzeugt haben. Die Trennung von Bewegung und Einzelnen macht nicht zuletzt ernst mit der Erkenntnis, dass Subjekte nicht einheitlich sind.
Internationalismus und Islam
Auch wenn es wichtig ist, die Attacke auf das WTC nicht als einen Angriff „des Islams“ gegen „den Westen“ misszuverstehen, so werden ununterbrochen von allen Seiten Verbindungen hergestellt. Der 11.9. ist von einer Thematisierung der kolonial-korporativen Verbrechen der alten und neuen Weltordnung nicht wirklich zu trennen. Jede Beschäftigung mit den Tätern oder den Ursachen weist hilflos auf die europäische Kolonialgeschichte und die Hegemonialpolitik der USA. Und auch wenn man die Flugzeugbomben in NY islamischen Radikalen zuschreibt und den politischen Gehalt der Tat als reaktionär fixiert, lässt der Krieg gegen Afghanistan dennoch die Frage wiederkehren, wie der Westen eine neue Weltordnung organisiert, um gegen ein sich islamisch rechtfertigendes System vorzugehen. Die Willkürlichkeit des heutigen Angriffs gegen das Taliban-Regime, die Nachlässigkeit von Beweisen gegen Bin Laden, die Ziellosigkeit der Angriffe, all das deutet auf das rassistische Verhältnis der Weltregierungen dem nun terroristischen Regime gegenüber. An dieser Stelle setzt ein komplexes Feld ein. Einerseits der autoritäre Exzess der Taliban, ihre anti-israelischen Drohgebärden und andererseits eine zwanzig Jahre währende zum Teil vom Kalten Krieg überdeterminierte Geschichte fortgesetzter Kriege in Afghanistan und die Projektion politisch-religiöser Organisationen auf einen eigenen Nullpunkt, aus dem heraus ein islamischer Staat sich formieren könnte. Dieses Feld kann nicht vereinfacht werden und die verschiedenen Elemente dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Eines der Elemente wird nicht weniger wahr, weil das andere auch gilt. In jedem Fall sind die fehlenden Schnittstellen der meisten Linken zum Komplex politischer Islam ein Hinweis, mit abschließenden Urteilen vorsichtig zu sein. Der Internationalismus von Genua hat hier sein schwarzes Loch. Es wäre nur zu erhellen, wenn sich die Westlinke in Diskussionen hineinziehen ließe, die sich um jene reaktionäre Formierungen drehen, die im Postfordismus stärker werden und die nicht in das konventionelle Verständnisraster der Linken (militärische, staatliche, ökonomische Repression) fallen: die Ethnifizierung des Sozialen, die Politisierung der Religion usw.
Das sehen manche anders. Sie wissen, was los ist: die Gegner, gegen die das globale Anti-Terror-Bündnis antritt, sind für einige Linke Faschisten und das Eigene wird plötzlich verteidigenswert. Die Freiheit im Kapitalismus ist doch irgendwie Freiheit und säkularer Staat nicht so schlecht.
Plötzlich ist westlicher Lebensstil ein erhaltenswertes Gut. Radikale Linke werden zu einer neuen kriegerischen Poplinken, die Fanta Statt Fatwa dichtet. Das fällt noch hinter die Globalisierungskritik zurück, denn deren No Logo Logo versucht beides gleichzeitig zu tun: Lebensstile anzugreifen und gleichzeitig für sich zu beanspruchen. Wenn man in der Vergangenheit die Ambivalenz der Konsumprodukte behauptet hat, darauf bestanden hat, dass Individuen von ihnen in sehr unterschiedlicher Weise Gebrauch machen können – emanzipativer oft als von den Dingen, die zum Zwecke progressiver Kultur konzipiert wurden –, dann kann daraus nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass es sich bei Konsumkultur um etwas handelt, das verteidigt werden muss. Mit Fanta ist nicht das liberale Eigene bezeichnet, das einer vorgeschichtlichen Fatwa-Logik voraus ist, weil, erstens wer Fatwa sagt, auch gerne mal eine Fanta trinkt und zweitens Fatwa auch eine spätmoderne Reaktion auf die Antagonismen der Fantawelt ist. Nach Seattle ist es auch als eine wichtige Voraussetzung heutiger Politik anerkannt worden, dass man nicht einfach über die Analyse verfügt, wie die Veränderungen der Fanta-Fatwa-Welt idealiter aussehen würden. Eine solche Veränderung kann ohnehin nicht voluntaristisch geplant werden. Sie hat eher damit zu tun, was vorhanden ist. Jede Kraft bezieht sich auf das, was sie kann. Die Konkurrenzlogik von vielen (journalistischen) Linken, die immer genau wissen, wie die Analyse zu machen ist, hätte nun wirklich ein Ende. Jede Analyse ist nicht so gut wie das, was sie erklärt, sondern so gut wie das, was sie herstellt.