Zu den Ereignissen in der Nähe des Kölner Hauptbahnhofs zu Silvester 2015/2016 ist viel geschrieben worden. Die zentrale Erzählung, «deutsche» Frauen wurden Opfer von «migrantischen» Männern, ist dabei so oft wiederholt wie kritisiert worden. Trotz aller Kritik hat sich das Stereotyp, dass «migrantische» Männer in besonders starker Weise sexuell übergriffig und gewaltvoll seien, in den öffentlichen Debatten weiter verfestigt. Das zeigt sich unter anderem daran, dass im Nachklang der Kölner Ereignisse nicht nur der Paragraf 177 des Strafgesetzbuches verschärft wurde, der sexuelle Übergriffe, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung sanktioniert, sondern es auch eine Verschärfung des Ausweisungsrechts gegenüber Ausländern, welche Sexualdelikte begangen haben, gab. Eine Tat nach diesem Paragrafen stellt nun ein «besonders schweres Ausweisungsinteresse» dar. Gleichzeitig können nun auch anerkannte Flüchtlinge wegen einer Tat nach Paragraf 177 in ihr Herkunftsland, in dem sie nachweislich verfolgt wurden, abgeschoben werden (Paragraf 60 Abs. 8 AufenthG).
«Die deutsche Mehrheitsgesellschaft entledige sich der ihr innewohnenden, alltäglichen sexualisierten und sexuellen Gewalt, indem sie sie externalisiere und sich dabei als fortschrittlich stilisiere.»
Das zentrale Element antirassistisch-feministischer Interventionen in diesen Diskurs war und ist die Betonung, dass das absolut überwiegende Ausmaß sexualisierter und sexueller Gewalt gegen Frauen* innerhalb des sozialen Nahumfelds geschehe und eben nicht von «fremden» oder «migrantischen» Männern ausgehe, sondern von Vätern, Ehemännern, Freunden, Feierbekanntschaften etc.. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft entledige sich der ihr innewohnenden, alltäglichen sexualisierten und sexuellen Gewalt, indem sie sie externalisiere und sich dabei als fortschrittlich stilisiere. Diese Kritik ist wichtig und richtig.
Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex von Geschlechterverhältnissen und Sexualität(en) im kolonialen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, möchte ich aber einen weiteren Punkt stark machen. Die skizzierte Erzählung verschleiert nicht nur alltägliche Formen sexueller und sexualisierter Gewalt in der deutschen Gesellschaft, sondern nimmt auch noch eine Verkehrung vor. Historisch wie auch aktuell war und ist es sehr viel verbreiteter, dass nicht-weiße Frauen Opfer von sexueller oder sexualisierter Gewalt weißer Männer werden, als umgekehrt. Diese These wie auch vieles von dem Folgenden ist nicht neu, sondern wurde insbesondere aus feministischen und People of Color-Kontexten heraus aufgezeigt, kritisiert und theoretisiert.
Ein kurzer Einschub vorab: Ich habe mich hier dafür entschieden, sowohl den Begriff «sexuelle Gewalt» wie auch den Begriff «sexualisierte Gewalt» zu verwenden, da in dem von mir analysierten Feld sowohl Gewalthandlungen eine Rolle spielen, bei denen Sexualität primär die gewählte Form zu sein scheint, als auch solche, bei denen diese Handlungen Ausdruck einer spezifischen männlich-kolonialen Sexualität zu sein scheinen.
Sexuelle und sexualisierte Gewalt in Deutsch-Südwestafrika
Berichte über sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen nicht-weißer Frauen durch weiße Männer lassen sich seit Beginn der deutschen Kolonialherrschaft in Deutsch-Südwestafrika (1884-1915/1919) wie auch in anderen deutschen Kolonien finden. Diese Übergriffe wurden von Seiten der Herero als einer der Gründe für den Angriff auf deutsche Siedlungen und Farmen in der Kolonie im Januar 1904 benannt. Daraus entwickelte sich ein Krieg, der mit dem Genozid an Herero und auch Nama durch die Deutschen endete. Neben die Übergriffe trat dabei die Wut über die weitgehende Straflosigkeit der weißen Täter und der Eindruck, durch die Politik der deutschen Kolonialregierung und dem Vorgehen der Siedler und Händler weitgehend die Mittel verloren zu haben, sich adäquat selbst gegen diese Übergriffe zu verteidigen.
Durch den Krieg und vor allem während der Internierung überlebender Herero und Nama und anderer Namibier*innen in Kriegsgefangenen- und Konzentrationslagern intensivierten sich diese Übergriffe. Es gibt zahlreiche Berichte über sexuelle Übergriffe gegen internierte indigene Frauen durch weiße Siedler und Soldaten. Nach Beendigung der Kriegsgefangenschaft und der Auflösung der Konzentrationslager bzw. deren Überführung in «reguläre» Siedlungen dürften sich die skizzierten Verhältnisse geringfügig abgeschwächt haben. Hierzu trugen auch Versuche seitens der Kolonialregierung bei, sexuelle Kontakte zwischen weißen Männern und indigenen Frauen partiell zu erschweren oder zu verringern. Hier ist insbesondere das 1905 durch den stellvertretenden Gouverneur Tecklenburg verordnete Verbot sogenannter «Mischehen», also Ehen weißer Männer mit indigenen Frauen, viel diskutiert worden. Entscheidender für den Kontext dieses Artikels war aber wohl eher eine Polizeiverordnung vom März 1905, die es Weißen verbot, sich nachts in den einheimischen Werften (traditionelle Siedlungen) aufzuhalten. Bei den Verordnungen ging es der Kolonialregierung vor allem um die Verhinderung legitimen Nachwuchses und um die Sicherung eines möglichst stabilen und produktiven Herrschaftsablaufes in der Kolonie. Der Sicherheit indigener Männer und Frauen wurde nur eine untergeordnete Bedeutung zugemessen. Zahlreiche Verstöße gegen das nächtliche Betreten von Werften, verschiedene Prozesse und Beschwerden wegen sexueller Übergriffe von weißen Männern auf indigene Frauen und einige Fälle, in denen weiße Farmer auf ihren Ländereien eine sexuelle Terrorherrschaft errichteten, weisen darauf hin, dass auch in den letzten Jahren der deutschen Kolonialherrschaft im heutigen Namibia sexuelle und sexualisierte Gewalt von weißen Männern Teil des Alltags vieler indigener Frauen war.
Prozessakte von Verstößen gegen den Paragrafen 175 des Reichsstrafgesetzbuches, der bestimmte Formen mann-männlicher Sexualität unter Strafe stellte, zeigen auf, dass weiße Männer nicht nur gegenüber indigenen Frauen, sondern auch gegenüber indigenen Männer sexuell gewalttätig wurden. In etwa der Hälfte aller Prozesse wurden weiße Männer angeklagt, die mittels Gewalt, Zwang oder der Ausnutzung ihrer Position indigene Männer zur Duldung sexueller Handlungen gezwungen hatten oder es zumindest versuchten.
Die extreme Asymmetrie kolonialer Herrschaft zeigte sich auch in der juristischen Verhandlung der Übergriffe und Vergewaltigungen. Viele Übergriffe schafften es gar nicht erst vor Gericht, da sie aus Angst, aus Mangel an Wissen über die rechtlichen Möglichkeiten oder aus bereits erfahrener Wirkungslosigkeit nicht gemeldet wurden. Anzeigen von Opfern wurden nicht weitergeleitet oder von der Polizei oder dem Gericht als nicht relevant erachtet. Hinweise darauf liefern Prozesse, bei denen erst durch eine bestimmte Tat der Blick auf zuvor bereits erfolgte Übergriffe gerichtet wurde. Den Frauen wurde sehr schnell eine angebliche Duldung der sexuellen Handlung unterstellt, das Zeugnis indigener Personen vielfach als wenig glaubwürdig angesehen und in Fällen, bei denen es zu Verurteilungen kam, wurden diese eher aufgrund von Beleidigung oder Körperverletzung ausgesprochen, was meist geringe (Geld-)Strafen nach sich zog. Eine generelle patriarchale Struktur der Rechtsprechung im Kaiserreich verband sich hier mit der rassistischen Strukturierung des kolonialen Kontextes.
Wenn indigene Frauen und Männer als Opfer von sexueller oder sexualisierter Gewalt dargestellt werden, heißt dies nicht, dass sie keinerlei Handlungsmöglichkeiten hatten. In vielen Prozessen wird deutlich, dass sie sich wehrten, indem sie sich gegenüber bestimmten weißen Männern verleugnen ließen, flüchteten oder eben bestimmte Handlungen weitererzählten oder zur Anzeige brachten. Viele versuchten auch durch das Einfordern von Geld, Nahrungsmitteln, Tabak oder Kleidung im Rahmen einmaliger sexueller Kontakte oder der Duldung mehrfacher Kontakte ihre prekäre Lebenssituation zu verbessern oder zumindest etwas erträglicher zu machen. Dies schwächt in keiner Weise die Gewalt und den Zwang ab, die sie im Rahmen dieser Kontakte erfuhren, sondern macht deutlich, dass sie versuchten, mit der Situation so gut es eben ging umzugehen.
Diese Verhältnisse waren nichts dem deutschen Kolonialismus spezifisches, sondern in unterschiedlicher Ausprägung und unterschiedlichem Umfang strukturelles Element (vermutlich) aller Formen kolonialer Herrschaft. Nicht zufällig tun sich hier vor allem zahlreiche Parallelen zwischen den verschiedenen Siedler*innenkolonialismen auf, beispielsweise zu den kolonialen Regimen in Süd-Rhodesien (heutiges Zimbabwe) und in Südafrika.
Koloniale Diskurse rund um die sogenannte «Black Peril»
In der deutschen kolonialen Öffentlichkeit wurde die sexuelle und sexualisierte Gewalt gegenüber indigenen Personen verhältnismäßig selten thematisiert. Sie findet sich in kritischen Berichten von Missionaren oder auch gelegentlich von einigen Abgeordneten der Sozialdemokratie oder des Zentrums. Ganz im Gegenteil zur Faktizität sexueller Gewalt weißer Männer gegen Indigene brachten koloniale Kontexte eher Debatten hervor, die eine Gefahr für weiße Frauen durch angeblich sexuell besonders triebhafte nicht-weiße Männer witterten. Im Gegensatz zu Süd-Rhodesien und Südafrika spielten diese Debatten in Deutsch-Südwestafrika eine geringere Rolle. Elemente davon tauchten im Kontext des Krieges gegen Herero und Nama auf, jedoch stärker in der deutschen Presse und vor allem in kolonialen Romanen als in Deutsch-Südwestafrika selbst. In den beiden britischen Kolonien gab es zwischen 1890 und 1916 mehrere regelrechte Paniken um die angebliche Gefährdung der weißen Frau durch den Schwarzen Mann, zeitgenössisch als «Black Peril» bezeichnet. De facto gab es nur sehr wenig reale Fälle, in denen es zu solchen sexuellen Übergriffen kam. Dennoch führten sie zu einer verschärften Anwendung des Strafrechts gegenüber nicht-weißen Männern, die eines solchen Vergehens verdächtigt wurden, zu einer intensivierten Segregation und zu zahlreichen Hinrichtungen. Während in zeitgenössischen Gerichtsurteilen regelmäßig weiße Männer trotz zahlreicher belastender Beweise vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen wurden, war dies in Fällen, die mit der sogenannten «Black Peril» verknüpft wurden, oft umgekehrt. Jock McCulloch sieht die «Black Peril»-Paniken in Süd-Rhodesien sowohl als Ausdruck von Problemen bei der Konstruktion einer weißen Identität, wie auch als das Mittel, mit dem diese hergestellt werden sollte. Sie seien Schlüsselmomente gewesen, bei denen die Grenzen von race, Klasse und Gender verhandelt wurden. Krista O`Donnell widmet sich der Frage, warum es nicht zu ähnlichen Entwicklungen in Deutsch-Südwestafrika kam. In der deutschen Kolonie wurde die entsprechende Funktion, die (Re-) Stabilisierung der weißen Siedler*innengesellschaft, vor dem Hintergrund von politischen Auseinandersetzungen, Konflikten um interne Klassengegensätze und instabile Grenzziehungen gegenüber der indigenen Bevölkerung über einen anderen Diskurs hergestellt: dem Narrativ der Vergiftung und «Kontamination» der weißen Siedler*innen durch indigene Frauen.
«Ganz im Gegenteil zur Faktizität sexueller Gewalt weißer Männer gegen Indigene brachten koloniale Kontexte eher Debatten hervor, die eine Gefahr für weiße Frauen durch angeblich sexuell besonders triebhafte nicht-weiße Männer witterten.»
(Post)koloniale Diskurse in Deutschland
Im deutschen Kontext manifestierten sich Diskurse um die «Black Peril» vor allem im postkolonialen Deutschland selbst. Das bekannteste historische Beispiel ist die Debatte um die sogenannte «schwarze Schmach». Hierbei handelte es sich um eine Skandalisierung der Stationierung Schwarzer Soldaten aus afrikanischen Kolonien durch die französische Regierung bei der Besetzung des Rheinlandes nach dem Ersten Weltkrieg. Dies wurde als demütigendes Manöver der französischen Regierung und als drängende Gefährdung deutscher Frauen und Mädchen stilisiert. Die Artikel und Plakate, die diese Debatte begleiteten, waren deutlicher Ausdruck verbreiteter kolonialrassistischer Stereotype in der deutschen Bevölkerung. Durchaus ähnliche Debatten entstanden auch vor dem Hintergrund der Stationierung Schwarzer GIs im Nachkriegsdeutschland.
Auch heute prägen post- und neokoloniale Strukturen und die mit ihnen verbundenen Rassismen weiterhin intensiv soziale Verhältnisse, ob auf einer globalen Ebene oder im Alltag. Für den Bereich Sexualität gilt, dass er weiterhin mit diesen Strukturen eng verwoben ist, auch wenn sich die konkreten Ausformungen davon immer wieder transformieren. Vor diesem Hintergrund erscheint die Behauptung, weiße Frauen wären vor allem durch «fremde» Männer gefährdet, in ihrer allgemeinen Formulierung als Umkehr der realen Verhältnisse. Deutlich wird dies beispielsweise, wenn darauf geschaut wird, was weiße Männer in anderen Ländern anrichten, unter anderem indem sie zu eifrigen Konsumenten von Formen des Sextourismus in Thailand, Kenia oder Marokko gehören, der oft mit extrem gewaltvollen Verhältnissen verbunden ist.
«Dabei geht es zum einen darum, bestehende (post-)koloniale Verhältnisse sexueller und sexualisierter Gewalt sichtbar zu machen, zum anderen darum, eine diskursive Auslagerung dieser Gewalt aus der hiesigen Gesellschaft zu verhindern.»
Was heißt das nun für die Debatten rund um Köln? Es heißt selbstverständlich nicht, die unangenehmen, übergriffigen, bedrohlichen und gewaltvollen Erfahrungen von Frauen an diesem Abend zu relativieren, zu beschweigen oder in Frage zu stellen. Grundsätzlich ist es jedoch begrüßenswert, wenn solche Ereignisse zu einer breiteren Thematisierung von sexueller und sexualisierter Gewalt führen. Das heißt aber auch: wenn notwendige Debatten darüber geführt werden, welche gesellschaftlichen Strukturen sexuelle und sexualisierte Gewalt befördern, bedingen, legitimieren und verschleiern, auf diese historische wie aktuelle Umkehr in der dominanten Erzählung hinzuweisen. Dabei geht es zum einen darum, bestehende (post-)koloniale Verhältnisse sexueller und sexualisierter Gewalt sichtbar zu machen, zum anderen darum, eine diskursive Auslagerung dieser Gewalt aus der hiesigen Gesellschaft zu verhindern. Die Analysen der historischen «Black Peril»-Paniken richten zudem den Blick auf die Frage nach den gesellschaftlichen Konflikten und Auseinandersetzungen, auf die eine (Re-)Stabilisierung der weißen, deutschen «Mehrheitsgesellschaft» mittels der hegemonialen Debattenstränge rund um die Ereignisse in Köln verweist.