Heftkritik arranca! #52: Alles so schön bunt hier, aber...

Die Thematisierung von Sexualität in einem linken Blatt ist kein Thema mehr, an dem sich in der radikalen Linken noch Dramen entzünden. Die Redaktion der arranca! #8 hatte sich deutlich und bewusst aus der Deckung begeben, was der arranca! #52 so gar nicht mehr möglich ist, wie der Aufmacherartikel zu Neosexualitäten sehr gut beschreibt. Wir freuen uns also bei der Lektüre der arranca! #52, dass in der radikalen Linken ein Heft aus sexpositiver Perspektive keine Aufregung mehr auslöst. Wir freuen uns weiter, dass viele Artikel sympathisch, informativ, anregend, aber unaufgeregt, aus einer je eigenen Perspektive geschrieben sind. Und wir freuen uns, dass der angestrengt anklagende Opfer-Gestus früherer Debatten weg ist.

Die Heftkritik beschäftigt sich mit der Zusammenstellung der Artikel zu einem Heft und den damit verbundenen Auslassungen. Die Redaktion stellt im Editorial fest, dass es «die Rechte» ist, die sich gegen den «Mainstream» stellen muss und will sich deswegen statt auf «den rechten, anti-feministischen Backlash» auf «progressive Debatten» «innerhalb» des «Mainstreams» beschränken. Während wir uns der Ausgangsthese (mindestens für Deutschland) anschließen, halten wir die Folgerung für verfrüht und merkwürdig unpolitisch umgesetzt.

Verfrüht, weil ja immer noch offen ist, ob sich möglicherweise stärker werdende Gegentendenzen zum freiheitlichen, wenn auch unsozialen, neosexuellen Zeitalter durchsetzen. Im Heft wird Sexarbeit aber ausschließlich aus erfreulich selbstbewusster Perspektive dargestellt, Pornos kommen als queerfeministisches Emanzipationsfeld vor, nicht als miese Arbeitsbedingung und sexuelle Gewalt wird nur gegenüber kolonialen Subjekten und für Schwule problematisiert. Im Heft fehlen deswegen Dauerthemen, wie generative Reproduktion (das Verfahren gegen Kristina Hänel war noch anhängig, der §219a noch nicht minimalistisch reformiert), Personenstandrecht (Zwang zur Einordnung in bipolare Kategorie, aufgehoben im Urteil des BverfG vom 10.10.2017 und inzwischen minimalistisch umgesetzt durch die GroKo), Missbrauch in Beziehungen, Pop-Kultur (ungebrochene Vorherrschaft romantischer Liebe, restaurative Männlichkeitsbilder im Hip Hop, etc.). Eine transsoziale Relativierung könnte durch zeitliche oder räumliche Verschiebung entstehen, aber der gegenwärtige Blick ins Ausland beschäftigt sich mit der schönen und kämpferischen Position queerer Migrant*innen in Phoenix/Arizona, der historische Artikel mit dem Aufrechnen sexueller/sexualisierter Gewalt (s.u.) statt koloniale Diskurse als dystopische Entwicklungsmöglichkeit in den Blick zu nehmen: Kein Blick nach z.B. Weimar, Nicaragua, Indonesien oder Russland. Das völlige Fehlen solcher Themen und Tendenzen ergibt ein seltsam sonniges Bild der Lage, immerhin können und werden sie ja andernorts behandelt.

Merkwürdig unpolitisch erscheint uns die arranca! #52 dann in der Umsetzung des Anspruchs «progressive Debatten» aufzunehmen: Der theoretische Aufmacher zu Neosexualitäten legte den Gedanken nahe, der präkarisierenden Wirkung der Vereinzelung neoliberaler Ideologie entkommen zu wollen, doch kein gegenstandsbezogener Artikel im Heft nimmt diese Perspektive ein, die praktische Regulierung sexuellen Begehrens, dort, wo’s mit dem Individualismus nicht weit her ist, wie in Institutionen, und die Konflikte für dort Beschäftigte, kommen nur am Rande im Artikel über Sex und Behinderung vor. Etwa 1/3 der Artikel des Heftes sprechen deutlich aus der Position je einer (sexuellen) Minderheit. In der Summe wirkt das sehr selbstbezüglich, denn nur zwei Artikel üben dabei eine Kritik an ihrem jeweiligen Umfeld. Wir finden es schade, dass die Kritik am verkürzten Sozialisationsbegriff (der funktional wie ein billiger Biologismus funktioniert) eingeschränkt nur zu Gunsten von Transweiblichkeiten präsentiert wird, dass die Kritik am Zwang zur Vereindeutigung des Uneindeutigen nur für bisexuelle Menschen vorgetragen wird. Auch wenn ein politisches Magazin vor allem sein Umfeld reflektiert, hätten wir uns hier mehr inklusive bzw. gegenüber den progressiven Milieus kritische Perspektiven gewünscht. Ein historisches Beispiel, wie’s anders ging, aber heute so nicht mehr geht, wären z.B. die ersten Texte des Lesbischen Aktionszentrums Berlin Anfang der 1970er Jahre, in denen, im generischen Maskulinum(!), «jeder herzlich eingeladen» wurde und die Probleme der «Homosexuellen» in der Gesellschaft als besondere Form des allgemeinen Problems der «sexuellen Repression» in dieser verstanden wurde. Der Artikel zu «Neosexualität» beschreibt, was dieser Form der Inklusivität entgegensteht. Es wäre unseres Erachtens aber eine wichtige Aufgabe der Linken, andere Formen zu finden. In unserer Diskussion mussten wir freilich feststellen, dass wir dazu selbst auch keine zündende Idee entwickeln konnten.

Die arranca! #52 erscheint uns wie ein Stadtmagazin, das seiner von uns als jung, gebildet, urban und mit Mittelschichtsvordergrund vorgestellten Zielgruppe in Themenwahl und Bebilderung wenig zumutet. Das ist schade und kann andernorts weniger gut ausgeglichen werden, weil die wenigsten Medien dasselbe linke Milieu ansprechen.

Artikelkritik: Nebel- statt Wunderkerzen. Schräge Perspektiven auf Köln Silvester 2015

Ein Artikel geht dann aber doch ganz ausdrücklich kritisch auf einen rechten Backlash ein und interveniert in eine breit geführte Debatte. Der Artikel «Kolonialismus und sexuelle/sexualisierte Gewalt» bezieht sich auf die «Debatte rund um die Ereignisse in Köln zu Silvester 2015/16».

Methodisch unterscheidet der Artikel dabei zwischen Inhalten von «Debatten» einerseits und «realen Verhältnissen» andererseits, woran wir hier keine Kritik haben. «Debatten» und «reale Verhältnisse» werden als zueinander in Umkehrung stehend beschrieben. Diese Umkehrung der «realen Verhältnissen» in der «Debatte» wird an einigen Stellen sprachlich als zielgerichteter Zweck der Debatte ausgedrückt – durch Marker wie «reale», «de-facto» und «Faktizität». Diese Rhetorik entspringt der intervenierenden Absicht des Textes. Wir kritisieren diese Intervention und die vom Text dafür vorgenommenen vereinheitlichenden Vereindeutigungen und einseitige Darstellung der Debatte um Köln 2015 zu Grunde liegenden «realen Verhältnissen».

Die Abschnitte «Sexuelle und sexualisierte Gewalt in Deutsch-Südwestafrika» und «Koloniale Diskurse rund um die sogenannte ‹Black Peril›» hingegen basieren auf zeitgeschichtlichen Berichten und Akten deutscher Kolonialgerichte in Deutsch-Südwestafrika und sind detailliert, informativ und interessant zu lesen.

Der Artikel beginnt in den ersten beiden Sätzen mit einer Relativierung zu den: « […] Ereignisse[n] in der Nähe des Kölner Hauptbahnhofs zu Silvester 2015/2016 […]. Die zentrale Erzählung ‹deutsche› Frauen wurden Opfer von ‹migrantischen› Männern, ist dabei so oft wiederholt, wie kritisiert worden.» Diese Darstellung klingt merkwürdig ausgewogen: Die migrationskritische bis ‑feindliche Position überwog unseres Erachtens in der Debatte deutlich. Der Text schlägt sich aber im Folgenden auf die Seite einer Kritik, die den Umstand, dass Köln Silvester 2015 durch massenhafte Angriffe migrantischer Männer gegen Frauen gekennzeichnet war, weg reden will. Dagegen hilft auch der knapp, aber gut formulierte Disclaimer gegen Ende des Artikels nicht.

Der Text argumentiert: «antirassistisch-feministische Interventionen in diesen Diskurs» [kursiv von uns] betonten, dass sexuelle/sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen überwiegend im sozialen Nahumfeld geschehe und eben nicht von fremden/migrantischen Männern. Das scheint uns ein altbewährtes feministisches Argument zu sein und der Zusatz «antirassistisch» erhellt sich erst in den Abschnitten zur Kolonialgeschichte in Deutsch-Südwestafrika (und britischen Kolonien): Diese werden zur Intervention in die Debatte um Köln 2015 nur gebraucht, um das globale Überwiegen weißer Gewalt gegen Indigene zu belegen – der in einem Schwerpunktheft «Sexualität» naheliegenden Frage, ob auch indigene Frauen sexuelle/sexualisierte Gewalt vor allem aus ihrem sozialen Nahumfeld drohte, wird genauso wenig nachgegangen, wie der Frage, ob dies auch auf die Kolonistinnen zutrifft. Der antirassistische Teil an der Qualifizierung des Arguments besteht darin, den feministischen Teil des Arguments in dem Moment fallen zu lassen, als er nicht mehr antirassistisch nützlich ist. Und es ist kein feministisches Argument mehr, wenn es dazu dient, Täter außerhalb des Nahumfeldes zu entlasten.

Der Artikel ist im kolonialgeschichtlichen Teil so genau, darauf hinzuweisen, dass «Anzeigen von [indigenen] Opfern […] nicht weitergeleitet oder von der Polizei oder dem Gericht als nicht relevant erachtet [wurden]», weist aber nicht darauf hin, dass in der Kölner Silvesternacht «de-facto» Hinweise auf die Übergriffe von Polizisten ignoriert wurden. Überhaupt sagt der Artikel, mit ein bis zwei Jahren Abstand zum Anlass des Artikels, gar nichts über die «realen Verhältnisse» auf der Domplatte 2015, was unseres Erachtens angesichts der oben beschriebenen Methode des Artikels intellektuell unredlich ist.

Im Abschnitt «(Post)koloniale Diskurse in Deutschland» erwähnt der Artikel die Debatten um die «schwarze Schmach« (Stationierung Schwarzer Soldaten aus afrikanischen Kolonien im Rheinland) nach dem ersten Weltkrieg und Schwarze GIs nach dem zweiten, die als «drängende Gefährdung deutscher Frauen und Mädchen stilisiert» wurden. Die nicht wenigen rassistischen Unterstellungen in der Debatte um die Vergewaltigungen durch die Rote Armee erwähnt der Artikel nicht – wir nehmen an, das liegt daran, dass die Täter nicht Schwarz waren. Er stellt diese Vergewaltigungen auch nicht ins Verhältnis zu denen durch die deutschen Truppen an der Ostfront – wahrscheinlich, weil die Opfer nicht Schwarz waren. Warum sind wir an dieser Stelle so peinlich genau? Wir halten diese Auslassungen weder für Zu- noch Einzelfall, vielmehr sind sie typisch für durch Postcolonial Studies informierte Texte/Positionen/Perspektiven. Weil Postcolonial Studies sich historisch hauptsächlich auf politische Kämpfe der US-Bürgerrechtsbewegung und auf nationale Befreiungsbewegungen im globalen Süden beziehen, liegt ihr Interessenschwerpunkt im Verhältnis der kapitalistischen Metropolen zum globalen Süden, während z.B. das größte deutsche Kolonialunternehmen, der Nazi-Ostfeldzug, als solches aus dem Blick gerät.

Für einen Artikel zu «Kolonialismus und sexuelle/sexualisierte Gewalt» im Rahmen eines arranca! Schwerpunktes zu Sexualität wären die oben aufgezählten Auslassungen innerhalb der Kolonialgeschichte noch zu erwarten gewesen. Der Anlass des Artikels – Köln 2015 – bezeichnet auch einen sexualpolitischen,1 vor allem aber einen migrationspolitischen Wendepunkt. Der Artikel hat zwei Gegenstände: Köln Silvester 2015 und Sexualverhältnisse in der Kolonialgeschichte. Beide Gegenstände liegen historisch und geographisch weit auseinander. Die Auseinandersetzung mit beiden Gegenständen fallen durch Auslassungen in der Darstellung auf. Die einen Auslassungen verdrängen die «Faktizität» der besonderen Dichte2 von Übergriffen während ‹Köln Silvester 2015/16›. Die anderen Auslassungen vereindeutigen die sexuellen Verhältnisse in den Kolonien zu einem Gewaltverhältnis weiß gegen Schwarz. Zusammen ergänzen sie sich gegenseitig und sind das Mittel um einen migrationspolitischen Punkt auf Kosten anti-sexistischer Positionen zu machen. Dabei wird völlig unnötig das Interesse an Sicherheit (vor [sexuellen Übergriffen]) im öffentlichen Raum (hier: vor allem von Frauen) gegenüber dem Interesse an einem sicheren Aufenthaltsstatus von Migrant*innen abgewertet, was in der Folge das Stellen produktiver Fragen zu den Themen Migration bzw. Männlichkeit verhindert. Das ginge auch anders, wie die schnelle Intervention der IL Berlin zum Thema Kölner Silvester 2015, «SEXISMUS HEISST DAS PROBLEM – SOLIDARITÄTSNOTE VON IL BERLIN AN ALLE BETROFFENEN SEXUALISIERTER GEWALT»3 (09.01.2016) zeigt (aber auch damals traute sich die IL Berlin nicht, die kritisierten Männlichkeitsbilder auch explizit bei Migrant*innen zu kritisieren).

Das Thema ‹Vergewaltigung› dürfte im Zusammenhang eines Schwerpunktthemas ‹Sexualität› unter feministischer Perspektive wohl das wichtigste und auch emotional aufregendste sein. Deswegen ist uns unverständlich, wie die Redaktion der arranca! den Artikel «Kolonialismus und sexuelle/sexualisierte Gewalt» gänzlich unkommentiert ins Heft nehmen konnte. Nun ist aber auch ein knappes Jahr seit dem Erscheinen der arranca! #52 vergangen und eine aktuelle Googelsuche nach dem genauen Titel des Artikels findet ausschließlich Literaturdatenbanken und auch mit anderen Suchbegriffen fanden wir keine Auseinandersetzung mit dem Artikel. Das lässt uns einigermaßen ratlos. (Erkenntnisstand 27.03.2019)