«Spätestens am 3. Oktober 1990 war diese Seifenblase geplatzt. Durch Ostberlin rollten keine Panzer, sondern etwas Schlimmeres: die gepanzerten Limousinen mit den alten Westbonzen und den neuen Ostbonzen, die soeben ihr Land an den Westen verscherbelt hatten. Ich ging nach Hause und heulte vor Wut. Die, die etwas Besseres wollten, waren wieder einmal in der Minderheit.»


Knofo
(Punk aus Westberlin, der 1990 nach Ostberlin in den damals noch lebendigen Prenzlauer Berg übergesiedelt war.)

«Für sie [die DDR-Opposition] ist der 3. Oktober kein Feiertag, sondern der Endpunkt einer Niederlage.»

Peter Nowak
(Streit unter deutschen Patrioten, Telepolis)

Dieses Land hatte schon einmal eine Partei Namens AfD. Da nannte sie sich allerdings noch nicht Alternative, sondern Allianz für Deutschland. Für die letzte Parlamentswahl der DDR im Winter 1990 wurde sie durch Vermittlung des damaligen West-Bundeskanzlers Helmut Kohl ins Leben gerufen und siegte mit 48 Prozent der Stimmen. Die AfD stand für die Fortführung von BRD und Kapitalismus und die restlose Tilgung der DDR. Unter den Ruinen der DDR begrub sie die Erinnerung an die kurzen Hoffnungen auf einen besseren, demokratischen Sozialismus gleich mit.

Der Verlauf der Geschichte wird heute meist als alternativlos hingestellt. Dabei war der Herbst des Jahres 1989 eine historische Sekunde lang Emanzipation, war voller Enthusiasmus für Arbeiter*innen-Räte, Antiautoritarismus, Feminismus und den aufrechten Gang in Richtung demokratischer Sozialismus. Eine historische Sekunde später kippte dann alles nach rechts, ins Völkisch-Nationalistische, zu Kohl, zur AfD, der Wiedervereinigung und dem Anschluss des Ostens.

Dass der Herbst 89 links begann und dann rechts einbog, wird heute immer weniger durchschaut. In Schulen, Universitäten, Filmen, Vorträgen und Gedenkstätten wird die Geschichte einseitig erzählt, als angeblich anti-kommunistische Erhebung der Massen, die vom ersten Tag an nichts anderes als D-Mark, NPD, Ballermann und Bananen ersehnt hätten.

Dabei fing alles ganz gut an. Die selten mutigen DDR´ler*innen trauten sich ab September 1989 zu Tausenden auf die Straße – anfangs noch der Drohung trotzend, vielleicht niedergeschossen zu werden. Das Staatsoberhaupt Erich Honecker trat zurück, die Regierung folgte am 18. Oktober und die Autorität ging von der Regierung auf die Räte und ihren zentralen runden Tisch über, so schnell, dass alle völlig überrumpelt waren. Einen Moment lang lag die Macht bei der Bürger*innenbewegung, bei den Räten, auf der Straße. Was tun mit der Macht, wenn sie plötzlich da ist? Alles schien möglich.

Die späte Demokratisierung der DDR

In den Betrieben des Landes – in einem Zustand von Vollbeschäftigung repräsentierten sie fast das gesamte Land – bildeten sich Arbeiter*innen-Räte. Betriebsleitungen wurden ab- und einfache Arbeiter*innen eingesetzt. In den Städten gründeten sich Bürger*innenkomitees; ihre Demonstrationen, Deklarationen und Manifeste folgten immer schneller aufeinander. (Ohne Internet war das noch eine Mobilisierung mit Broschüren und Flugzetteln, solange die regierungstreuen Zeitungen und das Fernsehen nicht mitspielten.) Rund drei Millionen Menschen waren an den Demonstrationen und Räten beteiligt, das entsprach bei 17 Millionen Staatsbürger*innen 17 Prozent des Landes.

In Leipzig, als Polizeigewalt und harte Repressionen noch denkbar waren, demonstrierten am 8. Oktober über 50.000. Ihre einzige Artikulation war ein Aufbegehren gegen die Lügen und die Repressionen der Staatsapparate. Damit hatten sie Erfolg. Als klar war, dass kaum mehr Gefahr drohte, versammelten sich am 4. November in Ostberlin, mit seinen nur 1,2 Millionen Einwohner*innen, rund eine halbe Million Menschen auf dem Alexanderplatz – sie hörten verschiedene Reden, die sich teils vage, teils entschieden für einen demokratischen Sozialismus aussprachen. Diese Berliner*innen traten eindeutig nicht für einen Anschluss an die BRD ein. Dieser 4. November war der Höhepunkt der linken Mobilisierung gegen die DDR-Staatselite.

Und es schien gut weiterzugehen. Am 9. November war die Premiere des DEFA Films Coming Out – der erste staatlich finanzierte Film der DDR über Schwule, in dem auch erstmals die Existenz von Neonazis zugegeben und problematisiert wurde. Die Besucher*innen der Schwulenszene, die den Film in Berlin sahen, werden sich gedacht haben: Wahnsinn, jetzt ändert sich endlich in diesem Land etwas radikal zum Besseren. Mit diesem Gefühl verließen sie das Kino und mussten feststellen, dass alle Welt nach Westberlin strömte, die Mauer offen war und dieses Land gerade tschüss sagte.

Die Wende, von links nach rechts

Von da an ging es, erst zögerlich und dann unaufhaltsam, mit dem Osten nach rechts. In Ostberlin war Helmut Kohl, der nun – Zeichen der schwindenden Widerstandskraft des Landes – in der DDR auftreten durfte, beim Singen der westdeutschen Hymne noch ausgepfiffen worden. Anders in Sachsen. In Dresden trat Kohl mit Interimsstaatschef Hans Modrow – der die Kapitulation seines Landes schon vorbereitete – vor einer nationalistisch aggressiven Menge auf, vor einem schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer (ohne Hammer und Sichel). Kohls zögerliches Versprechen, dass die Einheit «unserer Nation» komme, wurde von den deutschen Patriot*innen (gleichwohl hauptsächlich Männer) frenetisch bejubelt. (Manche Zeitzeug*innen sagen aber auch, es hätte selbst in Dresden viele Anti-Kohl-Demonstrant*innen gegeben, die in den Fernsehbildern aber tunlichst vermieden worden wären.) Auf dem Rückweg aus Dresden soll Kohl bemerkt haben, dass sie ihrer Regierung einfach nicht mehr gehorchten, die DDR-Deutschen.

Die AfD – Allianz für Deutschland und die Bürger*innenbewegung

Ihm und der AfD wollten viele nur zu gerne gehorchen. Als Kohl dann offiziell im Wahlkampf durch den Osten zog, achtete er darauf, nicht allein als Vertreter der West-CDU wahrgenommen zu werden. Daher brauchte es die Allianz für Deutschland als Krücke in der Zeit des Übergangs. Zur AfD gehörten die Ost-CDU, die Deutsche Soziale Union (DSU) und der Demokratische Aufbruch (DA). Die DSU war eine weitgehend unbekannte Kleinstpartei am rechten Rand, dieOst-CDU war, wie alle Blockparteien, in einer Art privilegierten Partnerschaft zur SED gewesen und galt vielen als zu systemtreu. Einzig der DA, und natürlich Kohl als Pate der AfD, verliehen Glaubwürdigkeit und Legitimität. Der DA war eine der vielen Bürger*innenplattformen, die im Herbst 89 gegründet wurden. Er hatte den Stallgeruch einer demokratischen Bürger*innenversammlung, die Stasi und SED trotzig die Stirn bietet (was der DA allerdings erst getan hat, alssicher war, dass keine Gefahr mehr bestand).

Der DA war zunächst mittig-links gestartet, und hatte sich später im Jahr 1989 nach rechts bewegt. Eines ihrer damals unprominenten Mitglieder war die FDj-Funktionärin Angela Merkel.

Die kurzfristig geborgte Nähe zum DA war eine billig zu habende Legitimation für eine West-CDU, die zu Hause im Westen beim besten Willen nichts mit Bürger*innenbewegung und Räten am Hut hatte. Das Ganze war gleichwohl ein Erfolgsrezept. Mit 40,8 Prozent der Stimmen gewann die Allianz für Deutschland die entscheidende Wahl zur damit letzten DDR-Volkskammer am 18. März 1990. Die DSU war auf 6,3 Prozent gekommen, der Demokratische Aufbruch auf bescheidene 0,9 Prozent. Die neu gegründete Sozialdemokratische Partei in der DDR erreichte 21,9 Prozent, die aus der SED hervorgegangene Partei des Demokratischen Sozialismus 16,4 Prozent.

Die SPD fügte sich dann, zusammen mit einem kleinen, liberalen Zusammenschluss namens Bund Freier Demokraten faktisch in die bis heute beliebte große Koalition. Und wie üblich hatte die SPD keine Ambitionen, die darüber hinausgingen, ein wenig an der CDU rumzumäkeln, ansonsten aber alles mitzutragen. Kohls willige Statthalter*innen in der neuen Kolonie sind teils bis heute am Ruder, zum Beispiel Stanislav Tillich, damals Ost-CDU, heutiger Ministerpräsident Sachsens.

Die Enttäuschung der Ostdeutschen von der «Wende»

Die AfD war mit dem Demokratischen Aufbruch explizit nicht als Kolonialherrin des wilden Ostens aufgetreten, sondern als Fusion des Besten aus beiden Deutschlands: Konsumplunder, Dauererfolg und Breitbeinigkeit der BRD sowie die ostdeutsche Bürger*innenbewegung mit Räten und runden Tischen.

Während sich im Westen niemand ernstlich gewundert hatte, dass von den Versprechen nach der Wahl nichts blieb, waren von den Ex-DDR´ler*innen nicht wenige ernstlich enttäuscht. Eine solche Enttäuschung ist heutzutage kaum noch möglich in Ermangelung ähnlich hoch fliegender Hoffnungen auf Parlamentswahlen. Viele Leute in der DDR dachten, sie würden das Gute an der DDR behalten: faktisch kostenlose Wohnungen, sichere Arbeitsplätze, kostenlose Bildung, Gesundheit, Kinderbetreuung und den Westen noch obendrauf. Auf Vernunftgründe und Zweifel wollten die aufgepeitschten Patriot*innen nicht hören, auf linke Nörgler*innen an ihrem Helmut am wenigsten.

Die AfD – Allianz für Deutschland ist seit dem 3. Oktober 2016 gekündigt

Als der Demokratische Aufbruch seine Dienste für den Sieg der AfD und die Zerstörung der DDR abgeliefert hatte, durfte er sich ins Museum der nützlichen Idiot*innen davontrollen. Die aus dem Herbst 89 geborgte Legitimation der Allianz für Deutschland wirkte aber noch lange nach. Millionen Arbeiter*innen wurden entlassen, in verblödende Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (verglichen zu Hartz IV freilich luxuriös!) oder in den Vorruhestand verfrachtet. Das Land wurde fast vollständig deindustrialisiert, so ziemlich alle Besitztitel (Grund und Boden, Häuser, Hotels, Fabriken, Druckereien, Zeitungsmonopole, Stromnetze, Pipelines, Patente, Filialnetze, Talsperren, Atommülllager, Schiffe, Auslandskonten, Inlandskonten, geistiges Eigentum, Firmennetze, alles was ein Land so ausmacht) wanderten in die Hände von Westdeutschen, (wobei je nach Bundesland CDU-, FDP- oder SPD-Seilschaften zum eigenen Nutzen assistierten).

«Aus dem Aufbruch mutiger DDR Bürger*­innen waren fremdenfeindliche Mobs und «Ossis» geworden, die das alte Duckmäusern wieder aufnahmen.»

Was von Wolfgang Dümke und Fritz Vilmar, zwei Sozialwissenschaftler an der Humboldt-Universität, «Kolonialisierung des Ostens» genannt wurde, konnte ohne große Reibung ablaufen. Es begehrte niemand auf. Abgesehen vom großen Hungerstreik der Bergarbeiter (keine Frauen*) aus Bischofferode 1993 blieb es gespenstisch still, dem Sturm des Herbstes 89 folgte bedrückendes Schweigen und stummes Erleiden. Aus dem Aufbruch mutiger DDR-Bürger*innen waren fremdenfeindliche Mobs und «Ossis» geworden, die das alte Duckmäusern wieder aufnahmen.

Erst vor kurzem wurde diese Allianz für Deutschland wirklich endgültig aufgekündigt, von Pegida und der neuen AfD (Alternative für Deutschland). 2016 sagten die Menschen, die 1990 vermutlich AfD gewählt hatten, nein. Die Dresdner*innen gehorchen auch der CDU nicht mehr. Am Feiertag der deutschen Einheit, dem 3. Oktober 2016 in Dresden, entglitt Angela Merkels Regierung die Kontrolle über einen Mob, den die AfD von 1990 so vorteilhaft vereinnahmt hatte. Rund 6000 Demonstrant*innen ließen sich selbst vom eingefleischten Antikommunisten und Bundespräsidenten Joachim Gauck zu keiner Mäßigung beschwichtigen.

Ist etwas übrig vom Traum des demokratischen Sozialismus im Osten?

Soweit genug Gründe, antideutsch zu werden; aber wer noch zwei Gründe möchte, bitte sehr: Bündnis 90/Die Grünen, die natürlich im September 1989 noch ganz links waren, hatten im Frühjahr 1990 mit dem sinnfreien Spruch: «nicht rechts, nicht links, geradeaus» plakatiert. Bei der ersten Anti-Nazi-Demo in Berlin im Sommer 1990 glänzten sie laut Klaus Wolfram (s.u.) vor allem durch Abwesenheit und waren wohl geradeaus gegangen statt nach links. Einzig die Vereinigte Linke (VL) blieb beim Nein zu Anschluss, Kapitalismus und Nationalismus. Sie sollte 1992 in Hoyerswerda die einzige ostdeutsche Gruppe sein, die gegen den Pogrom-lüsternen Mob auf die Straße ging. Für ihr Wahlprogramm hatte sie im März 1990 nur einen von vierhundert Sitzen in der letzten Volkskammer bekommen. Ihr Wahlspruch hatte prophetisch gelautet: «Wenn ich Mut hätte, würde ich die Vereinigte Linke wählen» (so viel zum Mut der Deutschen, in der bequemen, trockenen Wahlkabine).

«Wir sind es, die die linke Erzählung des Herbstes 89 fortsetzen können.»

An dieser Stelle könnte die Geschichte nun in der Tat aufhören, aber die Geschichte ist nun mal (leider?) kein Spielfilm, der rechtzeitig endet. Wir sind noch da, die Geschichte ist nicht zu Ende, und die AfD ist zurück. Was also tun im rechtslastigen Osten? Kann überhaupt etwas vom Aufbruch des Jahres 1989 gerettet werden? Ich möchte behaupten: trotz allem, ja! Wenn wir im Osten für irgendetwas mobilisieren wollen, dürfen wir nicht an die Methoden und Erfahrungen von 1968 anknüpfen wollen. Der Osten hatte kein Bethanien, keine Hippies und keinen Vietnamkongress. Es gab aber den 4. November auf dem Alexanderplatz und die Vereinigte Linke. Und es gab am 26. November den Aufruf Für unser Land. Der wollte «auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen» und «eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik entwickeln». Und er mahnte in leider richtiger Vorahnung: «Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind». In der kleinen DDR mit ihren 17 Millionen Einwohner*innen unterzeichneten über eine Millionen Menschen. Der Aufruf wird von der offiziellen Erinnerung natürlich nicht gerne erwähnt (Antifaschismus, Alternative zur Bundesrepublik, pfui!). Wir sind es, die ihn wieder ausgraben und verbreiten sollten. Wir sind es, die die linke Erzählung des Herbstes 89 fortsetzen können.

Mit dem Aufruf Für unser Land lässt sich an einen konkreten emanzipativen Moment der daran so armen deutschen Geschichte anschließen. Pegida und Co., aber auch CDU und Gauck hätten nicht mehr das Monopol, sich 1989 als angeblich rechts-nationalistische «friedliche Revolution» anzueignen. Wenn wir als Linke im Osten wieder ankommen wollen, jenseits der Nischen, müssen wir Wege finden, die Niederlage der Bürger*innenbewegung zu akzeptieren und zugleich von unserem Erbe der Jahre 1989/90 retten, was wert ist, gerettet zu werden.