Hier beschränkt sich die Religiosität nicht auf den Rahmen der Kirchen. Man erkennt sie sowohl an den Kettenanhängern, an den typischen Armbändchen des Bonfi m, als auch an den am Straßenrand aufgehängten Bannern, als Dank für erhörte Gebete, und an den Opfergaben für die Orixás, den Gottheiten afrikanischen Ursprungs, die man an den Straßenecken fi ndet. Im Fußball ist der Synkretismus nur offensichtlicher. Die Konfessionszugehörigkeit des Athleten ist dabei unbedeutend – das Spielfeld ist stets ein heiliger Ort, einige Spieler sind Götter – und Gott selbst, das weiß jedes Kind, ist schließlich Brasilianer.
Das Tor verschließen
Die Verbindung mit der Religion geht schon auf die Anfänge des Fußballs in Brasilien zurück. In den Geschichtsbüchern heißt es, dass es die Jesuitenväter waren, welche die britannische Sportart im 19. Jahrhundert nach Brasilien und zwar zunächst in die Schulen brachten (der Engländer Charles Miller führte den Sport in den Vereinen ein).
Man betrachte sich nur einmal brasilianische Spieler, wenn sie das Spielfeld betreten – viele von ihnen bekreuzigen sich, einige bücken sich kurz und verwandeln den Rasen in eine Art „Weihwasser”. „In Brasilien ist es durchaus normal mit gefalteten Händen ins Stadion zu kommen”, erklärt José Roberto Torero, Kolumnist und Autor zahlreicher Bücher über Fußball. Das gebräuchlichste Ritual gegen den Aberglauben ist es, den Rasen mit dem rechten Fuß zuerst zu betreten, das soll Glück bringen. Der Torwart setzt sich in Bewegung und versetzt jedem Pfosten seines Tores einen Fußtritt. Eine Aufwärmübung? Nicht wirklich – eher ein Ritual, um das Tor „zu verschließen”. „Die brasilianische Religiosität hat weniger mit Katholizismus und Christentum zu tun, sie ist im Grunde viel einfacher, beinahe eine Art Fetischismus”, sagt José Geraldo Couto, Fußball-Kolumnist der Zeitung Folha de São Paulo. „In unserem synkretischen Glauben vermischen sich die katholischen Dogmen auf den Ritualen von Umbanda und Candomblé1 und seit Kurzem auch mit evangelikalem Eifer”, meint er weiter. „Und alle Spieler sind religiös – eine Art Grundvoraussetzung”.
So ist es immer schon gewesen
In Brasilien ist Fußball Religion, und damit es ein gutes Spiel wird, unterwirft man sich jeder Form von Gottheit. In den 1930er und 1940er Jahren verwandelten sich die Umkleidekabinen in religiöse Kultstätten, vor wichtigen Spielen bat man offiziell um göttlichen Segen. Ein beliebtes Ritual sind auch die Pilgerreisen zu den Kirchen der Schutzpatronen eines jeden Vereins – den jeder Verein tatsächlich hat. Im Landesinneren von São Paulo gibt es ein Team, São Bento, welches ein bearbeitetes Bild von Papst Benedikt XVI (Bento) ins Internet gestellt hat. Mit dem Schriftzug auf liturgischem Zierrat: “São Bento Campeão”. Bei allen Spielen, seien es die der Profifußballer oder der Amateure, beginnt das Aufwärmen erst nach dem Vater Unser. In jedem Stadion gibt es einen kleinen Altar, einige Vereine verfügen gar über Kapellen. In vielen Fällen findet sich das Heilige schon im Vereinsnamen: São Paulo, São Caetano, Santos. Jede Art von Aberglauben findet Verwendung, und Salzkristalle auf den Stollenschuhen wehren den bösen Blick ab.
Heute scheint es eine Art evangelikale Hegemonie unter den Spielern zu geben. So gibt es jene aktiven Christen wie beispielsweise Lucio, Stammspieler der Nationalmannschaft und Abwehrspieler beim FC Bayern München. „Lucio ist sogar sehr religiös, aber er ist nicht sehr ‘katholisch’, wenn es um seine Spielweise geht” betont Torero. Die Evangelikalen drücken ihren Glauben viel offener aus und sprechen bei Stellungnahmen nach Siegen und Niederlagen stets von Jesus. Sie beten das Vater Unser gemeinsam und zeigen ihre Shirts mit Sätzen wie “Das war spitze, Jesus”, die sie unterm Trikot tragen. Wenn die Katholiken ihr Ave Maria sprechen, dann tun sie das in aller Stille, jedoch ohne sich von der Gruppe hervorzuheben – um den Teamgeist nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, wie sie selbst sagen.
Die Atletas de Cristo
In den 1980er Jahren erlebten die Kirchen der Pfingstler eine „mediale Explosion“. So erwarben Pastoren und Bischöfe ganze Fernsehsender. Der Sonntag ist in Brasilien Tag der Messe und Tag des Fußballs. Da in Brasilien jedoch alles möglich ist, erscheint es selbstverständlich, dass am Abend ein Fernsehsender die Befreiung der Seele eines armen Sünders vom Teufel zeigt, während zur gleichen Zeit auf einem anderen Kanal die gefalteten und gen Himmel gerichteten Hände Kakás erscheinen, der ein soeben erzieltes Tor für den AC Mailand zelebriert. Es ist auch schon vorgekommen, dass Spieler Kirchen gründeten und zu Pastoren wurden. In diesem Zusammenhang ist auch das Phänomen Atletas de Cristo erwähnenswert. Es handelt sich weder um eine Kirche noch um eine Sportler- Gewerkschaft, sondern um eine Institution mit 7.500 Athleten christlichen Glaubens, von denen die meisten evangelikale Christen sind und Fußball spielen. Gegründet wurde sie 1979 vom damaligen Torwart von Atlético Mineiro, João Leite. „Unsere VISION besteht darin, dass alle Menschen von Jesus erreicht werden können, und zwar durch die universelle Sprache des Sports. Unsere MISSION ist es, den Athleten Jesus Christus näher zu bringen, mit dem Zweck, dass Evangelium durch die Sportler in die Welt zu tragen. Unser ZIEL ist es, dies bereits in dieser Generation zu erreichen”, heißt es auf der Internetseite von Atletas de Cristo.
Die Idee, die sich durch ähnliche Organisationen bereits in fast 200 Staaten verbreitet hat, ist nicht brasilianischen Ursprungs. Alex Dias Ribeiro – Direktor von Atletas de Cristo in Brasilien und Ex-Kollege von Emerson Fittipaldi in der Formel 1, Mitglied und überzeugter Anhänger einer Pfingstlergemeinde fast von Geburt an – lernte die Vereinigung bei seinem Aufenthalt in England kennen. Auf der Homepage Christians in Sport ist die Rede davon, dass die Gläubigen wie in einem heiligen Krieg erobert werden müssten, der auch eine Strategie erfordert. Im Vereinten Königreich, so heißt es, betreiben 45 Prozent der Erwachsenen und 87 Prozent der Jugendlichen regelmäßig Sport, aber nur acht Prozent der Bevölkerung gehen regelmäßig zur Kirche. „Wenn die Arbeit der Kirche darin besteht, ‘für Anhänger in allen Nationen zu werben’, dann stellt der Sport eine hervorragende strategische Grundlage zum Erreichen dieses Ziels dar.”
Ribeiro von den Atletas de Cristo erklärt, wie sein Verein über die Fußballwelt Einfluss auf die Gesellschaft hat. „Das Bild des Fußballers in den 1960er und 1970er Jahren war das eines feiernden, trinkenden Mannes mit freizügigem Lebensstil. Heute lässt sich hier eine deutliche Veränderung feststellen. Die Spieler gehen früh schlafen, sind disziplinierter und trinken nicht.” Das mag stimmen. „Der Glaube bestärkt die sportliche Leistung”, meint Clodoaldo Gonçalves Leme, dessen Examensarbeit in Theologie den Titel “É Gol! Deus é 10” (“Tor! Gott ist der Beste”) trägt. Er untersuchte Fußball, Religion und die Risikogesellschaft und nimmt dabei Spieler der großen Clubs in São Paulo ins Visier. „Fußball ist eine Art sozialer Fahrstuhl in Brasilien. Wenn das Leben im Fußballgeschäft nicht klappt, dann kehrt der Spieler zurück in die Risikogesellschaft, aus der er gekommen ist. Und wegen des enormen Drucks, der dabei entsteht, sucht der Sportler Halt in der Religion”, meint der Wissenschaftler.
Der neue Aspekt in dieser alten Idee – vor etwa einem Jahrhundert argumentierte Max Weber, dass die protestantische Arbeitsethik Grundlage des europäischen Wohlstands sei – ist die Komponente Fußball. Es mag sein, dass der Glaube „produktiv” geworden ist, in der gleichen Weise, wie der brasilianische Fußball sich vom unbefangenen und wunderbaren Spiel eines Garrincha und eines Pelé zum heute existierenden „ergebnisorientierten Fußball” gewandelt hat. Tatsache ist, dass religiöses Marketing auf dem Spielfeld immer mehr Raum gewinnt. Während Pirelli die Clubs Palmeiras und LG sponsert, gehören São Paulo, Atlético de Sorocaba und drei weitere brasilianische Clubs dem Reverend Moon und seiner Sekte. Und hinter dem Universal Futebol Club aus Rio de Janeiro steht die Universelle Kirche.
Mythen, Legenden und Aberglaube
In dieser einzigartigen Religiosität der brasilianischen Gesellschaft, in der ‘Hauptsache, man glaubt, egal an wen oder was’ gilt, erscheinen die Geschichten, die der Fußball schreibt, so folkloristisch wie die Mythen und Legenden aus dem Amazonas-Gebiet.
Ganz im Sinne des Verses „Ich glaube nicht an Hexen, aber es gibt sie ... ja, es gibt sie”, suchte der Trainer Wanderley Luxemburgo, heute bei Santos tätig, regelmäßig Robério Alexandre Bavelone, den „Robério de Ogum“ und gefragtesten Hellseher im Land auf. Auf der Internetseite des Clubs Vasco da Gama ist neben Biographien der großen Stars in der Vereinsgeschichte auch etwas über die Karriere des ehemaligen Boxers Pai Santana zu lesen. Dieser blieb dem Verein ein halbes Jahrhundert treu. Er war Masseur, heiliger Vater und eine Art Mischung aus Hexer und Vaterfi gur. Der heilige Vater Miranílson Carvalho dos Santos, in São Paulo bekannt als „Vater Nilson”, bekam 600 brasilianische Reais im Monat, um den Corinthians mittels Umbanda und Candomblé Kräfte zu verleihen. Er segnete die Spieler 16 Jahre lang. Als er entlassen wurde, drohte er: „Es werden negative Einfl üsse auf die Mannschaft einwirken – Verletzungen, Streit, Niederlagen”. Mag es Zufall gewesen sein oder die Kraft der bösen Geister, die darauf folgenden Jahre erging es dem Verein nicht gut. Er erlebte eine Krise, die erst mit dem Gewinn des Brasilienpokals 2005 beendet werden konnte.
Die bislang bekannteste Form des Bekennens zur eigenen Religiosität wurde von Jairzinho, einem Spieler bei Botafogo, bei eben jener sagenhaften Weltmeisterschaft 1970 betrieben. Der Torjäger der Nationalmannschaft erzielte in allen Spielen der WM in Mexiko Tore und feierte jeden Treffer, indem er niederkniete und sich bekreuzigte. Dieses Ritual hatte er sich jedoch zuvor abgeschaut. Es war eigentlich der Tscheche Petras, der auf diese Weise sein erstes Tor gegen Brasilien zelebrierte, und zwar im ersten Spiel der Nationalauswahl 1970. Jairzinho schoss direkt im Anschluss ein Tor, und kopierte die Geste bei jedem weiteren Treffer.
Nicht nur in Brasilien
Man sagt, dass es nicht nur in Brasilien diese seltsamen Beziehungen zwischen Fußball und Religion gibt. In Rosario, Argentinien, gibt es eine Kirche von Diego Maradona, die Iglesia Maradona. Sie soll etwa 25.000 Anhänger haben. In einem Interview im Internet kommentierte der Gründer dieser Kirche, Hernán Amez, die langjährige Rivalität zwischen Maradona und Pelé. „Pelé? Er ist der König des Fußballs, keine Frage. Und Maradona ist Gott. Daran gibt es nichts zu zweifeln.” In den zehn Geboten der Kirche Maradonas gibt es Regeln wie „man soll den Fußball mehr lieben als alles andere“. Die Zeitrechnung beginnt im Jahr 1960, Maradonas Geburtsjahr. So sind wir heute im Jahr 45 PM (Post Maradona). Solche Eigentümlichkeiten sind nicht ausschließlich in Südamerika zu finden (auch wenn das, was man dort antrifft schon sehr außergewöhnlich ist). In Deutschland, beispielsweise, gibt es eine Internetseite, www.fussball-gott.com, die ein Forum bietet, in dem sich Trainer, Spieler und Fans über ihren christlichen Glauben austauschen können und die Vereinshymne vom FC Schalke 04 als dem Vater Unser angepasste Version gezeigt wird.
„Brasilien ist sicherlich eines der Länder, in denen Religion und Fußball am meisten miteinander verstrickt sind, aber es ist nicht unbedingt das Fanatischste”, wagt Rodrigo Bueno zu behaupten. Er ist Journalist bei der Folha de São Paulo und berichtet über ausländischen Fußball. Er erinnert daran, dass die arabischen Teams mehr fasten als trainieren, wenn der Islam es ihnen vorschreibt – unabhängig davon, ob das Fasten während einer Meisterschaft gerade angemessen ist oder nicht. Der argentinische Torwart Carlos Roa, Anhänger der Gemeinschaft der Siebenten-Tags- Adventisten, hatte während seiner Zeit als Profi -Fußballer für Mallorca in Spanien mit besonderen Probleme zu kämpfen. So schrieb der Spielplan auch Spiele an Samstagen vor, dem Wochentag, an dem seine Religion ihm das Fußball Spielen verbot, beschreibt Bueno.
Auf dem Spielfeld
Sonia Francine, Stadträtin in São Paulo, Sport-Kolumnistin und Moderatorin beim Sportfernsehsender ESPN Brasilien, glaubt, dass es etliche Gemeinsamkeiten zwischen Fußballfans und religiös Gläubigen gibt. „Fan zu sein bedeutet, einen Wunsch zu äußern, eine Hoffnung zu haben. Es bedeutet zu glauben, dass der eigene Wunsch so stark sei, dass er mit beeinfl ussen kann, ob ein Ball ins Tor geht oder nicht”, meint sie und kritisiert gleichzeitig die Widersprüchlichkeit derjenigen, die vorgeben im Namen Jesu Christi zu handeln, sich auf dem Spielfeld aber unfair verhalten. José Geraldo Couto nähert sich in seiner Kolumne „Was für eine Religion ist das?” ebenfalls diesem Thema an. Er kommentierte das Verhalten des ehemaligen Schiedsrichters Edilson Pereisa de Carvalho, der den Dreh- und Angelpunkt des totalen Chaos im brasilianischen Pokal 2005 darstellte. Er wurde der Korruption überführt, nachdem er gestanden hatte, die Spielergebnisse manipuliert zu haben, so dass diese abgeschlossenen Internetwetten entsprachen. Der Schiedsrichter war bekannt für ein religiöses Ritual, das er zu Beginn eines jeden Spiels vollzog. Couto beschreibt weitere polemische Fälle von Spielern, die „nach jedem dritten Wort Jesus erwähnten”, aber im Spiel die Beine ihrer Gegner brachen. “Die Gläubigen mögen mir verzeihen, aber wenn wir uns, heute mehr denn je, genau umschauen, sehen wir zwar viel Religion, aber wenig Geist.” Der Wissenschaftler Clodoaldo Leme meint, dass das Spielfeld kein Raum für christlich-ethisches Verhalten ist: „Der Spieler hält niemals seine andere Wange hin”.