Die Mobilisierung nach Heiligendamm konnte dabei an mindestens zwei Punkten von den Erfahrungen profitieren, die 2005 in Gleneagles gemacht wurden. Erstens hatte es in Gleneagles drei verschiedene und voneinander weitgehend getrennte Mobilisierungen gegeben: „Make Poverty History“, eine von NGOs getragene, appellative Kampagne zur Armutsreduzierung in Afrika, die von zahlreichen Prominenten unterstützt wurde; „G8 Alternatives“, eine Kampagne der sozialistischen und trotzkistischen Parteien und Gruppen, die den Gegengipfel und die Gegendemonstration organisierten, sowie das linksradikale „Dissent!“- Netzwerk. Während in Gleneagles eine organisatorische und politische Zusammenarbeit der Mobilisierungen nicht gelang, konnte in Heiligendamm eine strömungsübergreifende „Choreographie des Widerstands“ erarbeitet werden. Diese war die Basis für die unterschiedlichen Mobilisierungen, verhinderte, dass Veranstaltungen zueinander in Konkurrenz gerieten und schuf Kooperationsmöglichkeiten. Und zweitens wurde, anders als 2005 in Schottland, die Frage der Legitimität der G8 ins Zentrum gerückt. Der – von Bono und anderen ins Werk gesetzte – Legitimierungsprozess der G8, als dessen Höhepunkt der Gipfel in Gleneagles gelten kann, wurde durch die Mobilisierung nach Heiligendamm angehalten und umgekehrt. Am 2. Juni füllten 80000 Menschen die Straßen von Rostock. Das Motto der Demonstration, der größten, die jemals in der Stadt stattgefunden hatte, lautete „Eine andere Welt ist möglich“ und der Aufruf erklärte: „Die Gruppe der 8 ist eine Institution ohne Legitimation“. Der „Make Capitalism History“- Block der Interventionistischen Linken mit rund 8000 TeilnehmerInnen wurde im Verlauf der Demo von der Polizei angegriffen. Zudem soll er Ausgangspunkt militanter Aktionen des so genannten „Schwarzen Blocks“ gewesen sein. Die Debatten, die in den Tagen nach dem 2. Juni um den „Schwarzen Block“ und seine Aktionen geführt wurden, erschütterten zwar das breite Demobündnis. Es erwies sich jedoch als stark genug, um nicht an der Frage der Militanz zu zerbrechen. Insgesamt stellte die Demonstration nicht nur die politische und demokratische Legitimität der G8 eindeutig in Frage, sondern war darüber hinaus auch deutlich antikapitalistisch ausgerichtet.
Am Tag nach der Großdemonstration nahmen tausende Menschen am Aktionstag Landwirtschaft gegen die Agrarpolitik der G8 und die unfairen Strukturen des globalen Handels mit Lebensmitteln teil. Am selben Tag fand auch das linke „Vernetzungstreffen“ mit Veranstaltungen und Workshops zu internationaler Polizeigewalt, Prekarisierung und Migration statt. Über 15 000 Menschen beteiligten sich am 4. Juni an dezentralen Aktionen zum Thema Migration in und um Rostock. Vor einem Lidl-Supermarkt wurde die Ausbeutung migrantischer Arbeitskräfte angeprangert, während in Rostock-Lichtenhagen an das rassistische Pogrom von 1992 erinnert und gegen staatliche Abschiebungspolitik protestiert wurde. Blockiert wurde auch die Rostocker Ausländerbehörde. Der Aktionstag, der von antirassistischen Organisationen und Flüchtlingsgruppen organisiert worden war, wurde von der Polizei mit heftiger Repression begleitet. Am 5. Juni nahmen Tausende am Aktionstag gegen Militarismus und Krieg teil, der u. a. das zunehmende Außerkraftsetzen von Bürgerrechten thematisierte. Hunderte protestierten am Militärflughafen Rostock- Laage bei dessen Ankunft gegen USPräsident George W. Bush. Am Eröffnungstag des Gipfels, dem 6. Juni, sollte durch dezentrale und Massenblockaden, angekündigte und spontane, der Gipfel selbst gestört werden, deren Ausmaß und Erfolg alle Beteiligten und nicht zuletzt diejenigen, die sie fast eineinhalb Jahre lang vorbereitet hatten, überraschten.
We Will Block You
Die Block G8-Kampagne, die die Massenblockaden auf den Zufahrtsstraßen nach Heiligendamm plante, war eines der wichtigsten Elemente der Gegenmobilisierung. Die Kampagne wurde von über 120 verschiedenen Organisationen, Gruppen und Netzwerken gebildet. Die Bündniszusammensetzung hatte zunächst für Überraschung gesorgt, da viele noch nie zuvor zusammengearbeitet hatten und zum Teil in der Vergangenheit in der Zusammenarbeit schlechte Erfahrungen gemacht hatten. Dennoch bestand Konsens über die Notwendigkeit der Kooperation für einen Erfolg der Blockadeaktionen. Dadurch gab es bei aktiven Gruppen die Bereitschaft, sich von ihren jeweiligen politischen Praxisformen zu lösen und neue Aktionskonzepte zu entwickeln.
Nach einem viele Monate währenden Diskussionsprozess wurde folgendes Aktionskonzept entwickelt: Eine wirkliche Verneinung der Legitimität der G8 ist nur zu erreichen, wenn der Gipfel mittels realer – also nicht nur symbolischer – Blockaden gestört wird. Es ging nicht darum, die Staatschefs davon abzuhalten, den Tagungsort zu erreichen (es war klar, dass sie mit Helikoptern eingeflogen werden würden), sondern den G8-Gipfel von seiner Infrastruktur, d. h. den tausenden benötigten DienstleisterInnen, ÜbersetzerInnen, JournalistInnen usw. abzuschneiden. Das Ziel war, bestimmte Blockadepunkte, nämlich zwei der drei Zufahrtsstraßen nach Heiligendamm, zu erreichen. Eine Konfrontation mit der Polizei sollte dabei vermieden werden, um zu verhindern, dass jemand während der Blockaden verletzt wird. Konsens war jedoch auch, die Blockadepunkte auch nicht wieder freiwillig zu verlassen. Im Vorfeld des Gipfels wurden innerund außerhalb Deutschlands hunderte von Aktionstrainings und Informationsveranstaltungen organisiert. So konnten tausende Menschen in den Techniken geschult werden, die für die Blockaden notwendig sein würden. Dazu gehörten die Bezugsgruppenbildung und das Durchlaufen von Polizeiketten genauso wie das möglichst lange Verhindern von Räumungen und der Umgang mit kleineren Verletzungen. Das Aktionskonzept wurde breit veröffentlicht und in den Medien ausführlich über Block G8 berichtet.
Block Around the Clock
Zwei Blockaden waren geplant. Eine sollte vom Widerstandscamp in Reddelich aus starten, die andere vom Rostocker Camp. Als die erste Reihe der Demonstration auf Polizei traf, wurde die so genannte „Fünf-Finger- Taktik“ zur Anwendung gebracht: Anstatt die Polizeiketten zu durchbrechen wurde die Sperre einfach umlaufen, indem der erste der fünf „Finger“ von der Straße aus rechts ins Feld abbog. Die Polizei versuchte, den ersten Finger aufzuhalten, indem sie sich mit ihm ins Feld hinein bewegte. Als die Polizeikette jedoch zum Stillstand kam, schwenkte der zweite Finger ins Feld aus, diesmal allerdings links von der Straße. Wieder musste sich die Polizeikette neu formieren und weiter ausdehnen. Dieser Prozess wiederholte sich mit den nächsten Fingern, die abwechselnd jeweils in rechter und linker Richtung die Straße verließen. Wie geplant konnten alle fünf Finger, die aus rund 4 000 Leuten bestanden, entweder die Polizeisperre umlaufen oder durch die in der Kette entstandenen großen Zwischenräume hindurchfließen.
Während die 6 000 Blockierenden aus Reddelich ihren Blockadepunkt relativ ungehindert erreichten und nicht nur wie geplant die Straße, sondern auch die Gleise der einzigen Zugverbindung in die Rote Zone blockieren konnten, wurden die Demonstrierenden aus Rostock von der Polizei mit Pfefferspray, Knüppeln und Wasserwerfern, deren Wasser teilweise Pfefferspray beigemischt war, traktiert. In beiden Fällen schien die Polizei jedoch ihre Niederlage zu akzeptieren, sobald die Blockierenden ihr Ziel erreicht hatten. Die Polizei war zu keiner Zeit in der Lage, die Straße zu räumen und noch viel weniger konnte sie gewährleisten, dass diese offensichtlich sehr entschlossenen Massen nach einer Räumung nicht sofort wieder auf die Straße gehen würden. Alle nach Heiligendamm führenden Straßen abzusichern und die 10 000 Blockierenden in Sammelstellen abzutransportieren stand offensichtlich außer Frage. Sicher hatte auch die Vielfalt des Blockadebündnisses und die Unterstützung durch Prominente Einfluss darauf, dass der Einsatz extremer Gewalt gegen die Blockaden politisch nicht gewollt war. Hinzu kam, dass bereits die Repression vor dem Gipfel – vor allem die mit Terrorverdacht begründeten Durchsuchungen vom 9. Mai – nicht nur aus dem Umfeld der Betroffenen, sondern auch von PolitikerInnen aus dem gesamten politischen Spektrum und in den Medien heftig kritisiert worden waren. Zwar schien es kurzzeitig, als würde sich attac, die nicht als Gesamtorganisation, sondern nur in Teilen Block G8 unterstützte, nach den Geschehnissen vom Samstag auch von den Blockaden distanzieren. Dank der Stimmung in den attac-Basisgruppen, die in den Camps vor Ort waren und sich auf die Blockaden vorbereiteten und einigen wenigen Stimmen aus den oberen Etagen der Organisation kam es jedoch nicht dazu. Hätte sich attac tatsächlich von den Blockaden distanziert, hätte die Polizei vielleicht ganz anders reagiert.
Ein weiterer Grund für den Erfolg der Blockaden war die massive Überlastung der Polizei. Am Militärflughafen Rostock- Laage demonstrierten tausende Menschen. Andere hatten sich am 12 km langen Zaun um die Rote Zone zu schaffen gemacht. Kleine dezentrale Aktionen – von passiven Sit-ins bis hin zu brennenden Barrikaden – fanden in dutzenden Orten im Umkreis statt. Ein Räumungsversuch einer der beiden Blockaden hätte enorme Ressourcen gebunden und die Polizei konnte sich fast sicher sein, dass diese Ressourcen anderswo vielleicht dringender gebraucht werden würden. In der Konsequenz konnten viele Delegierte am ersten Tag des Gipfels den Tagungsort nicht erreichen und erhielten die Anweisung, in ihren Hotels zu bleiben. Viele von ihnen schafften es überhaupt nicht nach Heiligendamm und diejenigen, die sich auf den Weg machten, mussten oft lange Verspätungen in Kauf nehmen. Zu einem immensen Preis wurden einige per Helikopter eingeflogen. JournalistInnen mussten mit dem Schiff ins Konferenzzentrum gefahren werden.
Und jetzt?
Welche politischen Folgen diese offensichtlich sehr erfolgreiche Mobilisierung hatte – sowohl innerhalb der Bewegung, als auch für die „offizielle“ Politik – ist noch unklar. Was bedeutet es, dass sowohl die Bewegung als auch die G8 selbst, die verbreiten, dass der Gipfel die internationalen Gemeinsamkeiten gestärkt habe und Fortschritte im Bereich der Klimapolitik und beim Kampf gegen die Armut gemacht worden sind, den Gipfel als Erfolg bezeichnen? Wie lange werden die Bündnisse halten, die im Vorfeld des Gipfels geschmiedet wurden? Und wie lange werden die Gruppen, die an Block G8 teilgenommen haben, weiter mit den neuen Formen politischer Praxis experimentieren?
Ziehen wir ein vorläufiges Fazit: Erstens hat sich in der Praxis erwiesen, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen an Block G8 beteiligten Gruppen – aber auch zwischen Block G8 und den militanteren Aktionskonzepten – weit weniger wichtig sind als die Gemeinsamkeiten. Zweitens ist zwar ein Prozess der kritischen (Selbst-)Reflektion über die Ereignisse durchaus angebracht. Die Linke sollte sich allerdings klarmachen, dass die Mobilisierung zum diesjährigen G8 ein größerer Erfolg war, als wir es uns je hätten vorstellen können. Ein Erfolg, dessen negative Folgen (die entstandenen Schulden, Repression usw.) wir aber auch alle gemeinsam tragen müssen. Die Aktionstage in Rostock und um Heiligendamm waren weit mehr als bloß ein Ausdruck der „Einheit in Vielfalt“. Sie stellten ein Zusammenkommen, ein kollektives Sichverändern dar. Dadurch, dass wir zusammen arbeiteten und konstant nach Gemeinsamkeiten suchten, wurden wir in der Tat zu einer „Bewegung der Bewegungen“, die mehr ist als nur die Summe ihrer Teile ist. Drittens und letztens sollten wir uns klar machen, dass erst vor zwei Jahren in Edinburgh 30 0000 Menschen für den G8-Gipfel und „Make Poverty History“ auf die Straße gingen. In diesem Jahr demonstrierten 80 000 gegen den G8 als Institution und 15 000 waren aktiv daran beteiligt, den Gipfel zu blockieren. Die globalisierungskritische Bewegung ist so wieder zu einem ernstzunehmenden sozialen Akteur geworden, der die Richtung der globalen Politik beeinflussen kann. Es ist unwahrscheinlich, dass die große Mehrheit der Blockierenden und Protestierenden sich in Zukunft in politischen Strukturen – entweder der radikalen Linken, der politischen Parteien oder von Organisationen wie attac – organisiert. Auf der einen Seite verringert dies natürlich die Fähigkeiten, zukünftig weiterhin koordiniert zu agieren. Auf der anderen Seite sind jedoch solche organisierten Strukturen immer nur ein kleines Element innerhalb von sozialen Bewegungen gewesen. Viel wichtiger sind die emotionalen Bindungen, die sich während der 44 Stunden auf der Straße, in den langen Nächten der Aktionsplanung und bei den oft schmerzhaften Bündnistreffen entwickelt haben. Sie haben das Potential, einen Zusammenhalt auf lange Sicht zu gewährleisten. Foucault schreibt irgendwo, dass eine Barrikade nur zwei Seiten hat. Alle, die in Heiligendamm war, werden für immer wissen, auf welcher Seite sie stehen – oder sitzen.