Es gibt heute kaum jemanden in der Linken, der nicht einen Zerfalls- und Individualisierungsprozeß konstatieren würde. Die eigentlich banale Feststellung klingt allerdings wie die linke Version des offiziellen Diskurses vom Ende der Geschichte.
Unserer Meinung nach steht nicht das grundsätzliche Ziel, bestehende Verhältnisse radikal umzuwälzen, sondern die von uns selbst benutzten Kategorien und Muster, mit denen wir uns jahrelang als Autonome, Antiimps, Ökosozialistinnen usw. definieren konnten, in Frage. Die Krise der Linke ist keine der Sehnsucht nach Befreiung.
Die Verhältnisse haben sich verändert und die Erklärungsmuster, unsere Identitätsschablonen stimmen nicht mehr. Die Auseinandersetzungen , die um das Verhältnis zur SU und DDR, um Politik in oder außerhalb von Institutionen, um die Einstellung zu den Gefangenen der RAF oder um die Nähe zu den (meist mittelständischen) Bewegungen der 80er geführt wurden, sind hinfällig. Es sind aber genau die Diskussionen, die als Trennlinien und Identifikationspunkte lange Zeit die Zusammensetzung der Linken in Antiimps, Autonome, Radikale in den Grünen, Bewegungs- und Klassenorientierten bedingten.
Dieser Wegfall von ldentifikationsmustern macht jetzt, neben den bedrohlichen Veränderungen in Europa, die Sinnkrise aus, die so viele von uns zu spüren glauben.
Das Durcheinander ist groß und durchaus ermutigend: Manche ehemalige Revis und Grüne sind inzwischen den Gefangenen der RAF näher als ein erheblicher Teil von AntiimperialistInnen, die Autonomen sind (aus Mangel einer radikalen Option neben ihnen) zu einem wässrigen Sammelbegriff verschwommen, der vom kaum politisierten Jungpunk mit der Staat-und-Nazis-sind-Schweine-Mentalität über die radikale Feministin bishin zu den ziemlich gutorganisierten Gruppen in der Antifa-Bewegung alles greifen soll, und so mancher erbitterter Streit von vor einigen Jahren (wie die Beteiligung an breiten Bündnissen) wird heute von den gleichen Leuten mit umgekehrten Vorzeichen geführt: während ehemalige Vollautonome Politik in großen Organisationen wie der PDS gar nicht mehr so schlecht finden, sagen ehemals linke Vollgrüne der PDS reaktionäres Gedankengut nach.
Wichtigste Ursache für die Umbrüche waren natürlich die tiefgreifenden sozialen und politischen Umwälzungen weltweit. Der Blockkonflikt und seine alles zuordnende Dominanz sind weggefallen. Internationale Orientierungspunkte in Form von ausländischen Regierungen oder Befreiungsbewegungen gibt es kaum noch.
In der BRD spielen Armut, soziale Unsicherheit und auch wieder Elend eine Rolle. Der Nazismus ist in der Offensive, und vor allem: er ist wieder salonfähig. Hunderttausende in Deutschland sympathisieren offen mit faschistischen Ideen, die politische Hegemonie der Rechten allgemein ist erdrückend.
Die Situation in den ehemaligen RGW-Ländern ist völlig unklar, genauso wie der Ausgang der Konkurrenz zwischen den Wirtschaftsmächten und die europäische Integration. Der Marxismus-Leninismus sowjetischer Lesart ist ein Fossil, aber genauso all jene zahlreichen Ideologien, die sich vor allem durch die Abgrenzung gegenüber jenem definierten.
Die Umbrüche nachzuvollziehen, ist unvermeidbar. Diese finden auch statt, nur eben in den meisten Fällen ohne ein kollektives Bewußtsein der Beteiligten. Die Diskussion am WG-Tisch oder im Freundeskreis führt zu individuellen Entscheidungen, meistens zu einem persönlichen Teilrückzug, nicht aber zu einer Neuzusammensetzung. Viel glücklicher sind auch nicht die Versuche trotz besserer Erkenntnisse und theoretischer Kritik mit der Praxis so weiter zu machen wie bisher, weil etwas anderes anscheinend „sowieso nicht geht“, wie viele enttäuscht feststellen.
Und an manchen Punkten stellen sich zwar pragmatische Veränderungen ein, aber dadurch, daß sie nicht öffentlich wahrgenommen werden, vermitteln sie kein Gefühl von Aufbruch und bremsen damit auch den Zerfallsprozeß nicht wesentlich.
Die Debatte hin zu einer Organisation
Unserer Ansicht nach wäre ein wesentlicher Bestandteil (nicht der einzige) linker Neukonstituierung das Entstehen politischer Organisationen. Wir haben schon mehrmals (als f.e.l.S) zu begründen versucht, daß wir politische Organisationen für einen notwendigen Rahmen halten, um strukturiert und koordiniert zu diskutieren, d.h. z.B. die Zusammenhangs- und vor allem Konsequenzlosigkeit beispielsweise autonomer Diskussionen zu überwinden,
- arbeitsteilig handeln zu können,
- in einem verbindlichen sozialen Zusammenhang, individuelle und kollektive Lernprozesse (sowohl was die Vermittlung von Erfahrungen und Wissen als auch was soziales Lernen im alltäglichen Verhalten betrifft) zu ermöglichen,
- Individualisierung zu durchbrechen,
- durch die Nicht-Beschränkung auf ein Hauptthema die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse an vielen Stellen gleichzeitig in Frage stellen zu können und die existierenden Probleme damit so anzugehen wie sie sich stellen: als Systemprobleme,
- in der Öffentlichkeit eine gesellschaftliche Alternative zu formulieren und Anlaufpunkte für politisch aktiv werdende Menschen anzubieten.
Die Existenz einer politischen Organisation ist damit sehr eng verknüpft mit der Perspektive linker Politik überhaupt. Wir glauben, daß wir nur darüber gesellschaftliche Definitionsmacht zurückerhalten und unsere eigene persönliche und politische Atomisierung stoppen können.
Das Entstehen politischer Organisationen ist allerdings weder als autonomer Organisierungsprozeß, von dem seit bald 10 Jahren ohne Folgen geredet wird, noch als Parteigründung am grünen Tisch vorzustellen. Notwendig wäre ein allmählicher inhaltlicher und persönlicher Annäherungsprozeß, bei dem sich verschiedene Gruppen auf der Grundlage von einem vorher festgelegten Mindestkonsens, ausdrücklich das Arbeitsziel „Organisationsstruktur“ setzen. Es geht also nicht nur um inhaltliches „Zusammenkommen“, sondern um bewußte Arbeit an organisationscharakteristischen Strukturen wie Delegation, Rotation, Arbeitsteiligkeit, Dezentralisierung und Zentralisierung, Strukturierung des Lernprozesses, Kriterien für die Beteiligung usw.
Wie die Erfahrungen mit der Radikalen Linken gezeigt haben, ist es dabei wichtig, daß man sich die Strukturfrage gründlich überlegt. Unserer Meinung nach war der entscheidende Irrtum der Radikalen Linken nicht etwa, daß in ihr Promis wie Ebermann, Trampet, Dithfurt und Gremliza eine bestimmende Rolle gespielt haben. Bekannte Menschen, die in der Diskussion größeres Gewicht besitzen als andere, wird es in jeder Organisierungsform , die mehr als 4 Personen umfaßt, geben.
Die entscheidende Schwäche der RL war vielmehr, daß sie für ihre Gründerinnen unerwartet schnell wuchs. Schon wenige Monate nach der Anfangsinitiative kamen 2000 Menschen zusammen, ohne daß es eine Struktur gegeben hätte, die in der Lage war, so viele Menschen aufzufangen. Auf der Ebene der Selbstorganisierung dagegen kam es schnell zur Beliebigkeit: auf den Treffen der RL in Berlin war zu sehen, wie katastrophal es ist, wenn einfach alle Interessierte, die links von den Grünen stehen, zusammenkommen, um irgendwas gemeinsam zu machen. Die einzigen Orientierungspunkte, die diesem Chaos etwas entgegensetzten waren die Promis, die auf informale Kommunikationskanäle von früher zurückgriffen. (Und so telefonierte die Jutta dann schnell mal nach Hamburg...)
Die RL war im Grunde eine sinnvolle Initiative, ihr fehlte es allerdings an Kriterien und Vorschlägen, wer sich mit wem auf welche Art und was für Zielen zusammenschließt. Offenheit ist eben nicht dasselbe wie Nonchalance. Gerade um eine offene politische Organisation zu schaffen, muß vorher der Rahmen abgesteckt, eingegrenzt werden.
Auf dieser Grundlage haben wir uns das Ziel gesetzt, im Verlauf von 1993 intensiver mit anderen interessierten Gruppen an einem Organisierungsprozeß in Richtung einer revolutionären Organisation zu arbeiten. Wir machen das öffentlich, weil wir davon überzeugt sind, daß es außer den uns bekannten Gruppen auch noch andere Gruppen und Einzelpersonen gibt, die ähnliche Vorstellungen wie wir besitzen. Dabei befinden wir uns in einem Dilemma: auf der einen Seite sehen wir aus den obengenannten Gründen die Notwendigkeit, Kriterien zu definieren, auf der anderen Seite wollen wir uns nicht als schiedsrichtende Zentrale aufspielen. Die Kriterien und die Vorgehensweise, die wir vorschlagen, sind deshalb nicht als Maßstäbe zu verstehen, die wir einer Linken setzen, sondern als Grundvoraussetzungen für unsere Zusammenarbeit mit anderen Gruppen und Personen. Wir sind nicht mehr oder weniger Kern entstehender Organisierung als andere auch.
Das bedeutet auch, daß wir unsere Initiative nicht als alternativ zu anderen Organisierungsversuchen, z.B. der Antifaschistischen Aktion-Bundesweite Organisation betrachten. Wenn sich im Verlauf von Diskussionen herausstellt, daß es andere Strukturen gibt, in die wir mit unseren Anliegen hineinpassen, wäre das ein positives Ergebnis. Auf keinen Fall sehen wir uns als die Avantgarde eines notwendigen Organisationsprozesses
Wesentlicher Bestandteil unserer Initiative ist ein Arbeitstreffen interessierter Gruppen, wie wir es für das späte Frühjahr für möglich halten. Zwar finden 1993 eine Reihe von linken Kongressen statt - die Libertären Tage Ostern in Frankfurt, die Vorstellung der Antifaschistischen Aktion in Göttingen Anfang Mai und der Konkret-Kongreß in Hamburg im Juni - aber keiner besitzt die Zielrichtung, die wir mit unserem Arbeitstreffen erreichen wollen. Während es in Göttingen um die öffentlichkeitswirksame Darstellung der Antifaschistischen Aktion nach außen geht, handelt es sich bei den anderen beiden Kongressen um offene Diskussionsveranstaltungen. Wir dagegen planen ein nicht-offenes Arbeitswochenende, das ein erster Schritt hin zu einer Organisation sein müßte.
Für dieses Konzept ist eine genaue Vorlaufphase unverzichtbar. Aus den Erfahrungen des erstes Jahres f.e.l.S. glauben wir sehen zu können, wie wesentlich persönliches Kennenlernen von Gruppen ist. Papier transportiert eben nur einen Bruchteil unseres Seins. D.h wir wollen uns nur dann mit den verschiedensten Personen und Gruppen an einen Tisch setzen, wenn schon vorher miteinander diskutiert worden ist. Ansonsten dürfte die Katastrophe eintreten, die uns allen aus Plenas hinlänglich bekannt ist: vermeintliche Fraktionsbildung verhindert gegenseitiges Zuhören.
Außerdem stellen wir uns vor, daß die inhaltliche Diskussion koordiniert und öffentlich geführt werden muß. Ein Grund für uns, arranca zu machen und Schwerpunkte zu bestimmen. Die vier im Vorwort vorgeschlagenen Themen stehen stellvertretend für unsere Prioritäten: Organisation/ Neukonstituierung/ Organisationsform, Lernprozesse/ Selbstschulung, das im Augenblick wohl wichtigste Aktionsfeld Antifa und als Thema zur Aufarbeitung der bewaffnete Kampf.
Kriterien, die für uns wesentlich sind, um eine Diskussion mit Hoffnung auf Erfolg führen zu können, sind:
- eine selbstkritische Offenheit für Entwicklungen. Wir glauben, daß nur diejenigen, die bereit sind, ihre bisherige Praxis zu kritisieren, auch in der Lage sind, sich auf etwas Neues einzulassen. Wir glauben, daß auf dieser Grundlage Konsensfähigkeit, eine der seltensten Fähigkeiten der BRD-Linken vorstellbar wäre.
- Zulassen von Heterogenität. Als Gegenprojekt zu den bestehenden, in sich sehr widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnissen müßte eine revolutionäre Organisation zwangsläufig heterogen sein. Sie würde sowohl sehr große Wissensunterschiede zwischen Erfahrenen und Neuen als auch soziale (zwischen Alten und Jungen, Deutschen und Ausländerinnen, Männern und Frauen) sowie unterschiedliche politische Standpunkte beinhalten. Wir könnten uns auf kein Hauptsubjekt berufen und müßten uns darum bemühen, BRD-, DDR- und ausländische Erfahrungen zusammenzufassen und das Widersprüchliche von autonomer, grüner, feministischer, Bewegungs- oder antiimperialistischer Vorgeschichte als Stärke zu empfinden. Auch dafür braucht es die Bereitschaft zum Zuhören/ zur Offenheit.
- Einlassen auf einen verbindlichen Arbeitsprozeß, wie wir ihn oben grob umrissen haben.
- ein Theorie-Praxis-Verhältnis, das weder theoriefeindlich noch elitär daherkommt. Wir teilen weder die Ansicht, daß politische Theorie nur die nächsten praktischen Schritte vorbereiten darf (dann nämlich kann sie immer nur bestehendes weiterführen) noch daß sich theoretische Diskussionen frei im luftleeren Raum bewegen sollen. Konkret: wir glauben, daß theoretische Diskussionen (und eben nicht nur Koordination von Arbeit) ein wesentliches Element beim Entstehen einer Organisation darstellen, aber an endlosen Spiegelfechtereien und intellektuellen Pirouetten um jeden Begriff haben wir kein Interesse.
- Abschied vom revolutionären Mythos, ohne sich mit den Verhältnissen hier wieder anzufreunden. Revolution ist nur als langwieriger Prozeß vorstellbar, von daher sind keineswegs alle Änderungen unter den bestehenden Verhältnissen pauschal abzulehnen. Viele Sachen müssen hier und heute verteidigt werde. Die grundsätzliche Änderung der Gesellschaft innerhalb der bestehenden Ordnung allerdings ist genauso illusionär wie die Vorstellung vom Tag X Revo, nach dem alles besser wird.
- Wir suchen keine organisatorische Struktur, um die Restbevölkerung neben uns pauschal als „durch und durch faschistisch“ verurteilen zu können. Auch wenn revolutionäre Positionen unter den bestehenden Verhältnissen in absehbarer Zeit keine Mehrheitsposition sein können, kämpfen wir dafür, daß mehr hier lebende Menschen etwas verändern wollen. Ein im Grunde genommen konstruiertes radikales Selbstausgrenzen aus der Gesellschaft, wie es im Moment von vielen Linken, z.B. in der Zeitschrift konkret vertreten wird, ist letzten Endes unpolitisch. Wir leben hier und richten uns mit unserer Politik an die hier lebenden Menschen.
In diesem Sinne richten wir uns an diejenigen Gruppen und Einzelpersonen, die unsere Kriterien in etwa teilen (100% übereinstimmen läßt sich wohl kaum) und die die Notwendigkeit einer konsequente, radikalen, linken Organisation ebenso zu sehen glauben wie wir. Es ist Zeit, die eingeforderte Struktur jetzt - wenn auch erst einmal im Kleinen- aufzubauen.
Wir wissen, daß der öffentliche Weg, den wir mit unserer Initiative eingeschlagen haben, problematisch ist- aus Befürchtungen der Repression gegenüber, aus enttäuschten Erfahrungen und aus den Unklarheiten, die sich aus unterschiedlichem Gebrauch von Sprache ergeben. Auf der anderen Seite allerdings sind wir zu diesem Schritt gezwungen, wenn wir wollen, daß unser Anliegen über den Klüngel einiger untereinander bekannter Gruppen hinausreicht.