On The Road – Ostcuba: Z.B. auf einer Provinz­landstraße bei Santa Lucia, einer nach Melisse rie­chenden Kleinstadt im Osten des Landes, umge­ben so weit die Augen reichen, von caña, Zuckerrohr, das sich im Wind biegt, und braun und klebrig überragt von den Schornsteinen der Zuckerraffinerien. Die Küste, 20 km von hier, ist eines der neuen Touri­smusgebiete, seit 1985 oder 86, erzählt man uns. Dort herrschen unüber­sehbar die internationalen Gesetze des Marktes, bis­sig denkt man bei Ansicht der krebsroten Bäuche aus Übersee an Costa del Sur, während hier am Weg in die Großstadt, keine 15 Minuten Autofa­hrt von den Feriensiedlun­gen entfernt, Cuba ist. Immer noch. 40 Grad im Schatten, kein Wasser, keine Früchte- oder Eis­verkäufer wie sonst übe­rall in Lateinamerika. Nur ausgestorbener, flimmern­der Asphalt und eine hügelige Landschaft aus grünem Rohr und Wald. 200 Cubanerinnen sitzen neben der Straße im Staub und warten unter den wenigen Bäumen auf eine Transportgelegenheit.

Holguin, das sind viel­leicht 250.000 Einwohne­rinnen, eine Universität, ein Flughafen, zwei Dollargeschäfte und immerhin die 4.größte Stadt Cubas. Es ist Mon­tag, ein paar müssen arbeiten, zurück zur IJni, Schule oder „irgendetwas organisieren“, z.B. Schuhe, Benzin, ein Stück Seife. Es gibt keine Busse mehr. Nur ab und an zieht ein für Touristen reser­vierter Greyhound vorbei, der– so ist die Anwei­sung– keine Einheimi­schen mitnehmen darf, weil die Touristen das nicht mögen und die neuen Busse zu sehr bela­stet würden. Meistens ist die Straße aufregend leer: ein paar Ladas, die Leuten gehören müssen, die das Benzin selber zu Hause anbauen oder ‚irgendei­nen Kanal‘ für Gut­scheine haben; schrottreife sowjetische LKWs, die schwarze Abgaswolken ausstoßen und schon von weitem zu hören sind oder neu zusammengeschweißte Pferdekutschen, die ausse­hen wie eine Mischung aus Schkopau und Mittelwesten iml9.Jahrhundert. Letztere ziehen mit gemächlichem Klackern vorbei und schaffen ange­nehm schläfrige Gefühle. Die Blätter der Guayaba-Bäume rauschen, ein paar Männer tuscheln miteinan­der, und eine Frau mit einer löchrigen Kunstle­dertasche stellt fest, was alle wissen „der Verkehr ist sehr schlecht“. Man kratzt sich am Kinn und versucht zu vergessen.

Dabei zeigt sich der cubanische Staat von sei­ner stärksten Seite: kreati­ves Krisenmanagement. Da es sowieso keine Busse mehr gibt, wartet niemand am Busbahnhof, der nach wie vor in Betrieb ist, sondern alle begeben sich zum Tram­pen direkt an die Land­straße.

Im Gegensatz zum Kampf alle gegen alle, der unter den meist jugendli­chen Tramperinnen in Westeuropa während der Sommermonate ausbricht, wird auf Cuba auch diese Art der Fortbewegung zur durchorganisierten „Spe­zialmaßnahme“. Ange­stellte der staatlichen Busunternehmen über­nehmen die Aufgabe, die Leute auf die wenigen Fahrzeuge zu verteilen. Alle paar Kilometer steht bei den Ortseingängen ein/e Staatsangestellte/r in gelber Uniform auf der Straße, teilt Nummern aus, hält Fahrzeuge an und kassiert den Fahrtarif: 1 oder 2 Pesos pro Fahrgast bis nach Holguin.

Wie alle cubanischen Krisenlösungen ist auch diese nicht ganz einfach zu ver­stehen. Die Wartenden erhalten Num­mern, die nur bis Zahl 100 gehen; die anderen 50 müssen warten, bis die ersten weg sind, um dann ihre zu zie­hen. Daß das überhaupt funktioniert, ist ein kleines Wunder, schließlich ist nie­mand so blöd und stellt sich in der Mit­tagshitze in einer Reihe auf. Die ver­meintliche „cola“ sitzt versprengt im Schatten herum und spielt mit Grashalmen im Mund. Nur ab und zu gellt ein Ruf durch die Frühmit­tagshitze, wenn ein Neuankömmling nach dem Ende der ima­ginären Schlange ruft „¿el ultimo de la cola?“, dann kommt von irgendwoher ein „aqui“ und der Neue weiß, an wen er sich zu hal­ten hat.

Den meisten dürfte klar sein, daß sie den Tag hier verbringen werden. Nach zwei Stunden sind gerade einmal acht Menschen mitge­nommen werden: vier von einem LKW, der leere Getränkekästen nach Holguin bringt, und vier weitere, die sich in Jeeps mit hineinzwängen konn­ten. Zwar sind alle öffentlichen Fahr­zeuge dazu angehalten, Passagiere mit­zunehmen, aber nur wenn sie keine Ladung haben, die beschädigt werden könnte. Immer wieder brettern LKWs leer vorbei, weil sie nicht weit genug fahren oder kein Interesse haben, jemanden mitzunehmen – eine Ausrede läßt sich immer finden.

Die Wartenden gehen sich ihrem Schicksal hin. Zu Fuß nach Holguin zu gehen, wäre eine elende Quälerei, Stun­den ohne Wasser durch verbrannte Hügel. Ein paar legen die Strecke auf dem Fahrrad in der Morgendämmerung zurück. Tagsüber aber ist der Platz in der Schlange die einzige, nicht sehr aussichtsreiche Option, überhaupt noch ein­mal wegzukommen.

Und so wartet man. Die Ruhe am Straßenrand wirkt wie die Eselsgeduld von Leuten, denen längst alles egal geworden ist. In Wirklichkeit aber ist es das nicht. Die überall spürbare Unbe­weglichkeit ist keine Lethargie, sie ist Zähigkeit. „Es ist, wie es ist, weil es im Moment nicht anders sein kann“, sagt eine junge Frau.

Das erschöpfendste an der Revolution, denke ich, ist die unerträgliche Langsam­keit des Seins.

Spezialperiodenessen – Habana

Claudia Roques ist Lehrerin in Ciudad Deportiva , einem Arbeiterbezirk im Süden Habanas. Die 45-jährige Schwarze gehört zu denen, die glauben, daß die cuhanische Krise gerecht verteilt wird. Es gibt „comida de periodo especial“ , Spezialperiodenmittagessen: Kochbananen, ziemlich roh, weil der Strom vormittags ausgefallen ist, mit gezuckertem Weißkohl als Nachtisch.

„Klar“, sagt sie „die Lage ist schwierig seit 1990, seitdem wir die ‚Spezialperiode‘ haben. Aber niemand leidet Hun­ger.“ Sie erzählt, daß es heute Salat gibt auf der Verteilstation. Sie wird mit dem Heft hingehen und sich die Ration geben lassen. Auf die Frage, ob sie lange warten wird, schüttelt sie den Kopf. Vieles sei nur schwierig zu bekommen, aber die Lebensmittel, vor allem das Gemüse, das wäre nicht so knapp, daß sie dafür großartig herum­laufen müßte. Sie wird nach der Schule vorbeigehen, sagt sie, denn sie muß nachmittags wieder arbeiten.

Ihre Mutter, die 73 geworden ist und früher als Büglerin arbeitete, ist nicht weniger gelassen. Sie glaubt, daß „die Revolution diese Schlacht gewinnen wird“ – auf Cuba ist immer alles eine „Schlacht“ –, „weil wir gar nicht anders können“ Dabei betont sie im gleichen Satz, daß es nichts mehr gibt: Seife ist nur noch für Kinder unter 2 Jahren und Alte zu haben, und auch dann nur auf Bezugsschein ein Stück im Monat. Zahn­pasta gibt es, theoretisch, wenn die Rohmaterialien importiert werden konn­ten. Farbe ist nicht mehr zu bekommen, Benzin nur noch von privilegierten Organisationen oder gegen Dollars, die CubanerInnen ohne Ausnahmegenehmi­gung nicht besitzen dürfen. Mehl ist rationiert, pro Person und Tag gibt es ein Winzbrötchen, das etwa ein Drittel so groß ist wie die deutsche Durch­schnittsschrippe, Fleisch ist knapp, weil Futtermittel fehlen und der Großteil der Produktion für den Tourismus verwen­det wird, Milch kriegen nur Kinder und Alte, Fahrräder gibt es zwar, aber kaum Ersatzteile – wer einen Platten hat, hat schlechte Karten. Selbst beim Tabak gäbe es Versorgungsschwierigkeiten, erzählt sie. Wer mehr als die auf dem Bezugsschein zugeteilte Ration raucht, muß tief in die Tasche langen: für eine Packung Populares sind 8 Pesos zu zahlen, bei ungefähr 200 Pesos monatli­chen) Durchschnittslohn ein stol­zer Preis.

Interessant ist, wie viele Cuba­nerInnen über die Gründe und Zusammenhänge der Wirtschafts­krise Bescheid wissen. Claudia Roques und ihre Mutter sind keine Ausnahme. Das Gespräch über die Import- und Exportzahlen von Zucker und Öl, über Produktionsaus­fälle, das Wirtschaftsembargo und zu erwartende Ernten gehört zu den norma­len Small-Talks der Insel. Die Tageszei­tungen auf der Insel sind zwar nicht viel informativer als der „Rundbrief des Deutschen Apothekerverbandes“, aber was die ökonomische Lage angeht, macht die Regierung der Bevölkerung nicht viel vor. Auch das erklärt, warum Cuba trotz aller Prophezeiungen nicht zusammengebrochen ist. „Man belügt uns nicht“, sagt die Alte.

Der andere Grund ist, daß die Bevöl­kerung weiß, was sie zu erwarten hat. Clara Roques kaut an den Kochbananen herum, hofft auf bessere Zuckerrohrpreise auf dem Weltmarkt und meint, daß sie „viel zu verlieren hätten.“ Was sich wie Selbstironie anhört ist kühler Realismus. „Wenn wir das nicht aushalten, blüht uns wirklich schlimmes“, sagt sie „wir würden nicht leben wie in Miami oder in Europa, sondern wie in Haiti, der Dominikanischen Republik oder Jamaica.“ Sie zeigt auf ihr Auge, das sie vor kurzem operieren ließ, und grinst.

Holguin

Holguin, die heiße Stadt im Osten. Ein­stöckige, aber hohe Häuser zum Teil noch aus der Kolonialzeit, die recht­eckige Architektur der Cuadras, die ausgehend vom Hauptplatz die Stadt in Planquadrate einteilt. Zwischen Hügeln eingekeilte Viertel, trockene Bergzüge nicht besonders hoch, die abends in einen orangen Himmel zerfließen. Dazwischen die obligatorischen Denk­mäler der gefallenen Helden der antispanischen Kriege, zwei erzählen sie im Bus, Fahrräder, die Pidgeon heißen und made in China sind, Menschen, die auf den Bus oder die Pferdekutsche warten, Kinder in Schuluniformen, Motorradgespanne und Parks, in denen immer Alte auf Bänken sitzen. Enge, in der Altstadt von der Zeit zerfressene Straßen, graue, dunkle Fassaden. Keine Reklame, keine aufwendig erleuchteten Schaufenster, Gelassenheit, aber auch ein Bild der Trostlosigkeit.

Sonst nicht viel. Ein bißchen Nickel, eine große Druckerei, ein paar Fabriken, von denen ich mich nicht mehr erinnere, was sie produzieren. „Die Region gehört zu denen, die die Revolution am meisten vorangebracht hat“, sagt die Nachbarin auf der Parkbank, „früher war hier nichts.“ Neuerdings auch Tourismus. Meistens allerdings durchrauschen die Bleichgesichter, kameraumhängt und mit mißtrauischen Blicken, die Stadt nur auf Transit im Bus. Sie kommen vom Flughafen oder werden zum Flughafen gekarrt, in klimatisierten neuen Bussen. „Nun ja, sie bringen Devisen. Das ist wichtig“, die Frau reibt die Finger ihrer Hand „irgendwoher müssen die grünen Scheine ja kommen.“ Ob sie die Privile­gien für die reichen Ausländer in Ord­nung findet, ob es mit dem Tourismus nicht wieder sei wie vor 1959? „Haben wir eine andere Wahl?“, fragt sie. Wir schütteln den Kopf und hoffen, daß man uns die Fragen nicht stellt, die immer gestellt werden, nach Dollars, einem Kugelschreiber oder einem Hemd. Wir sind gebrandmarkte bunte Hunde mit der Eintrittskarte in eine andere Welt, den Inturladen, wo es Coca-Cola-Büchsen, Hemden, Seifen und Klopapier – ganz weich – gibt. Wir wollen nicht dazu gehören, aber natürlich tun wir es, und natürlich kommen Kinder vorbei und fragen nach dem Unvermeidbaren: nach Kaugummis einer Dollarmünze, einem Hemd. Im Vorübergehen tuscheln sie einen an, aber ihre Botschaft ist klar: Tourismus in Cuba ist wie in der ganzen Welt.

3.Welt – Una Mierda, Me Entiendes.

Am Nachmittag holt uns ein Bekannter ab, ein Arzt, 35 Jahre alt, freundlich und augenscheinlich ehrgeizig. Er hält nicht viel von den politischen Zuständen auf der Insel, sagt er, nicht ganz laut, aber offen. Soziale Gerechtigkeit gibt es für ihn nicht. „Während die einen ins Aus­land fahren können und sich schicke Kleidung und Elektro-Geräte besorgen, müssen die anderen zusehen, daß sie ihre Essensrationen auf dem Schwarz­markt aufbessern.“ Komischerweise klammert er sich trotzdem an das, was seiner Ansicht nach gut ist auf der Insel: die Sozialversorgung und der Sport. Der Sieg gegen das US-Team im Baseball bei den Olympischen Spielen in Bareclona sei „eine Ohrfeige für das Imperium“ gewesen, sagt er, das Sozialsystem „das beste Lateinamerikas“. Seine Augen leuchten.

Sanchez lädt uns in ein Dachcafe in der Altstadt Holguins ein. Der Ort gehört zu den wenigen Ausgehmöglichkeiten für die Bevölkerung in der Stadt. Es gab nie viele Kneipen oder Restaurants in Holguin, und von den wenigen wurden seit 1990 die meisten geschlossen.

Was bleibt, wird einem ziemlich ver­grault: es herrscht realbürokratische Kommandoökonomie: wer herein will, muß zunächst am Türsteher unten an der Straße vorbei. Mit einer dicken Kette hat er die gußeisernen Türen verschlos­sen, und läßt nur jede volle Stunde 10 Menschen hinein. Wenn man nach der Wartezeit die Treppe endlich erklom­men hat, bietet sich ein überraschendes Bild: die meisten Tische sind unbesetzt. Die einfache Erklärung lautet, daß – damit die Bedienung nicht zu viel arbei­ten muß –, immer nur ein paar Kunden hereingelassen werden. Dafür ist die Bedienung umso prompter. Völlig unty­pisch für cubanische Verhältnisse müs­sen wir nicht warten, – nicht einmal bestellen. Es gibt sowieso nur alte Ham­burger und einen Wein, – der wie Bier aussieht und nach Essig schmeckt. Weil vernünftigerweise davon ausgegangen wird, daß alle Kunden nur das konsu­mieren, was es gibt, wird es sofort auf den Tisch gestellt.

Antonio ist unglücklich. Am Neben­tisch, schweren eisernen Gartenmöbeln, besaufen sich Arbeiter. Einem ist der Kopf in den Nacken gefallen, er schnarcht, seine beiden Kollegen gesti­kulieren mit schweren Händen, erzählen sich Geschichten von Habana und Bier, das es nur noch auf dem Schwarzmarkt gibt, für 50 Pesos die Flasche. An einem anderen Tisch, der den Blick über die Straße läßt, schlingt ein junges Pärchen Hamburger in sich hinein. „Studenten haben es schwer“, sagt Sanchez, „sie bekommen in der Uni morgens kein Frühstück.“ Sie werden sich noch ein oder zwei weitere Teller bestellen, um die Brotration vom nächsten Tag aufzu­bessern, egal ob die Hamburger alt sind. „Niemand hungert, aber man ist auch nicht richtig satt“, sagt Sanchez, und: „die Wirtschaft dieses Landes ist am Ende“. Verbittert erzählt er vom Schwarzmarkt, daß eine Seife dort einen viertel Monatslohn kostet, und daß die Reisrationen meistens nicht bis zum 31. reichen, daß fast alle handeln würden, daß große Produktionsmengen aus den Fabriken verschwinden, direkt auf die unsichtbaren Märkte, von denen jeder erzählt, die aber nirgends zu sehen sind. Es klingt wie eine vorgeschobene Recht­fertigung.

Am Ende des Abends bittet er uns mit einem Bekannten im Intur-Laden Seife einzukaufen.“Er will 50 Stück holen. Aber er kann ja nicht, wir dürfen die Dollars nicht einmal besitzen.“ Wir leh­nen ab.

Sanchez nickt trotzdem. Er macht mit dem Mann manchmal Geschäfte, erzählt er. Vier Dollar entsprechen auf dem Schwarzmarkt einem Monatslohn, dafür kriegt man zwar auch nicht viel, weil die Preise auf dem Schwarmarkt horrend sind, aber auch Kleinigkeiten sind eine Erleichterung für ihn: „Meine Tochter ißt gerne Kekse, die gibt es nicht mehr für Pesos.“

Das menschliche Gesicht – Habana

„Hier ist zwar vieles nicht gut organi­siert, aber dafür ist einiges ziemlich gut organisiert.“ Emilio Montalbán findet Cuba etwas „großartiges“, wahrschein­lich weil er Ausländer ist. Der Venezola­ner wird in Cuba kostenlos gesundheit­lich versorgt. Es gibt zwar einen offiziellen und teuren ‚Gesundheitstou­rismus‘, mit dem Cuba in der ganzen Welt wirbt, aber Montalban hat eine besondere Einladung bekommen und wird kostenlos versorgt.

Mit ihm sitzt Enrique am Tisch, ein Südamerikaner, der in seinem Land in der Guerilla ein Bein verloren hat und von der Hüfte ab gelähmt ist. Enrique lebt seit inzwischen 6 Jahren auf der Insel, in einem ganz normalen Arbeitervorort, wo er von cubanischen Kranken­pflegerInnen versorgt wird. Beide rech­nen der cubanischen Gesellschaft ihr Verhalten hoch an. „Es ist das beein­druckende an Cuba, daß dieses Land in einer solchen Lage noch teilt“, sagt der Beinamputierte. „Auf der ‚isla de la juventud‘ sind Tausende von Studenten aus Afrika, in der Stadt triffst du politisch Verfolgte aus allen Ländern Lateinamerikas, es gab Erholungsheime für mehr als 10.000 Kinder aus der Umgebung Tschernobyls. – Und das obwohl auf Cuba fast alle Menschen löchrige Hem­den und kaputte Schuhe tragen.“ Montalbán erzählt vom Überlebens­kampf in Caracas, sein Freund Enrique von den mehreren Dutzend kolumbiani­schen Bettlern, die Ende 1991 erschla­gen wurden, um ihre Organe zu verkau­fen. Sie berichten vom Mißtrauen der Armen in den Elendsvierteln, die sich zu viel Solidarität miteinander nicht leisten können, weil Solidarität in ihren Ländern verdächtig macht. Sie beschreiben, wie sich in Lima, Rio oder Caracas die Leute im Bus um Sitzplätze streiten, wie wenig es zählt, wenn jemand alt ist oder ein Kind. Sie sagen: „Menschenrechtsverlet­zungen bei uns, das sind erschossene Straßenkinder, Unterernährung, die phy­sische Vernichtung der Opposition.“ und: „In Cuba gibt es den Menschen als einen Wert. Das ist das besondere.“ Montalbán fährt sich mit der Hand über die Stirn, es ist heiß, dabei kommen die drückendsten Monate noch: „Dies ist ein Paradies. Ein Paradies in der Krise.“

Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber in einem hat er Recht: der Erfolg oder Mißerfolg des cubanischen Entwick­lungsweges mißt sich nicht am Konsum, dem Wachstum des Bruttosozialprodukts und der Einkommenshöhe. Auch nicht an der Lebenserwartung und den Ärzten pro tausend Einwohner. Der eigentliche Wert, das ist die Zahnärztin, die zu Hause vorbei kommt, weil – man schon 6 Monate nicht mehr bei der Untersu­chung war –, der lateinamerikanische Behinderte, der in seinem Heimatland neben der Müllkippe vor sich hinvege­tieren würde, die Gelassenheit auf der Insel, die immer auch ein Grundni­veau von Hilfsbereitschaft und gegenseitigem Interesse beinhaltet. Kapitalismus ist in seiner Reinform erbitterter Überle­benskampf, in seiner sozialen Variante immer noch Konkurrenz von allen gegen alle; die Tatsache, daß Cuba diese Konkurrenz fehlt, ist das eigentliche. Wir merken es auf dem Feld bei den Campe­sinos, die uns einen Platz in der Kutsche besorgen, damit wir nicht durch den Schlamm müssen, in der Universitätsbi­bliothek, durch die uns der Direktor, ein schmächtiger bescheidender Typ, einen ganzen Tag führt, im Videoclub, in dem man sich wöchentlich trifft, um moderne Kunstfilme zu sehen, auf der Parkbank, in der Schlange, im Bus.

„Wir haben viel zu verlieren“, sagt ein Mann auf der Straße und er redet von etwas, was es bei uns nicht gibt, was in den Statistiken nicht auftauchen kann.

Die Misere bleibt dennoch. Ich gehe mit Montalban durch Habana Vieja, das alte Viertel der Hauptstadt. „Es ist nicht wie bei uns, aber es ist auch so schlecht genug“, sagt er.

Die Straßen tragen ein kaputtes Gesicht. Von den Häusern blättert der letzte Rest Farbe, die meisten Wände sind von Pilzen und Schwämmen zer­fressen. Manche Straßen müßten unbe­wohnbar erklärt werden, Häusertrakte sind zusammengebrochen oder ausge­brannt, ein Stockwerk durchgekracht, Dächer fehlen. Die Eingänge sehen zum Fürchten aus, dunkel, eng, dreckig. Vorn Glanz der kolonialen Epoche ist nichts geblieben. Die salzige Meeresluft nagt an den Steinen, – wo nicht der Touristen willen ständig saniert wird –, bis nah an den Zusammenbruch. Aber das Viertel ist bewohnt. Die meisten EinwohnerInnen sind Schwarze, viele große Familien, an der Hafenmauer hängen die Freundescliquen in der Brandung, verbringen gelangweilt ihre Nachmittage, lecken die von hochgeschlagenen Schaumkronen salzig gewordenen Lippen. „Ich glaube, sie sind arbeitslos“, sage ich zum Vene­zolaner, aber er antwortet nicht.

Von oben überblickt man das ganze Dilemma. Das Viertel sieht aus wie eine Ruinenstadt in US-apokalyptischen Spiel­filmen, man sieht die nur noch notdürf­tig an einzelnen Stellen zusammenge­flickten Häuserreste, und staunt immer wieder von neuem, daß zwischen den Metallblechen, dem Geröll und den eingefallenen Mauern in den heilgebliebe­nen Räumen Menschen wohnen. Sie sind ganz einfach zusammengerückt.

Es ist die entsetzlichste Seite der Insel wenn man in Vieja sieht, wie die Familien in die hohen Kolonialräume Zwi­schendecken eingezogen haben, um sich neuen Wohnraum zu erschinden. Durch die hohen Fenster kann man in den oberen Zwischengeschossen ihre Beine sehen. „Die cubanische Regierung wollte diese Stadtteile evakuieren“, erzählt Montalbän. „Aber die meisten wollen nicht gehen, obwohl man ihnen neue Wohnungen angeboten hat. Sie hängen an ihrem Viertel. Hier ist das Leben der Stadt, die Kinos, die Theater und vor allem ihre Vergangenheit“.

Man hofft, daß er Recht hat, daß sie geblieben sind, weil sie bleiben wollten, und nicht weil sie mußten. Man riecht den feucht-faulen Geruch, und eilt nervös weiter, denn Vieja ist das einzigar­tige Viertel, in dem einen Unruhe über­kommt, wie sonst in Lateinamerika, und sonst nicht auf Cuba . Es ist das Straßen­gewirr der Marginalisierten, des Schwarzmarktes, der Unzufriedenen. Auch wenn der Schwarzmarkt genauso wenig zu sehen ist wie anderswo, blüht er. Alle erzählen es, allen wird es erzählt. Vielleicht ist es nur Rassismus. Denn Vieja ist das Viertel, das verdächtig macht, wer hier wohnt, wird nach Papieren gefragt, zwangsläufig, denn hier leben sie, die potentiellen Drogen­händler-Kriminellen-Prostituierten. Alle erzählen es. „Hier ist das bittere Gesicht“, sagt Montalban „hier ist Cuba ganz anders. Aber natürlich längst nicht wie bei uns. Gegen Caracas ist auch Vieja kein Ghetto, nur ein einfaches, baufälliges Viertel.“

Die letzten Tage verbringen wir in einer Arbeitersiedlung Habanas. Es sind die Plattenbauten, die sich längst nicht so schlecht bewohnen lassen, zumindest auf Cuba, wie es immer heißt. Nach der Arbeit trifft man sich zum Schnaps trin­ken und Mambo-Tanzen, man besucht sich gegenseitig zum Essen oder besorgt füreinander aus „irgendeinem Kanal“. Pablo, bei dem wir wohnen, ist ein ruhi­ger bescheidender Mensch, der seine Portion Kochbananen nicht anders ißt als der Rest der Bevölkerung. Daß er Chef des Transportsektors im staatlichen Tourismusunternehmen Cubanacan ist, erfahren wir erst kurz vor dem Ende. Er ist einer von den nicht wenigen, die beweisen, daß Bürokraten nicht Bürokraten sind. Nicht immer.

„Es tut sich eine ganze Menge“, sagt Pablo. Du siehst es kaum, aber vieles ist in Bewegung geraten.“

Was sich tut, ist ziemlich widersprüchlich. Einerseits ist die Rückkehr kapitali­stischer Ökonomie unverkennbar. In den gewinnträchtigen Branchen nimmt der Anzahl von Joint-Ventures mit Westunternehmen explosionsartig zu. Die Kapitalanteile der Ausländer in den gemischten Unternehmen können die 50% problemlos überschreiten, Ferien- und Hoteldörfer werden von ausländi­schem Kapital aufgebaut und bestimmen ganze Küstengegenden. Die innere Kluft auf der Insel wird damit immer tiefer: während ein Teil der Wirtschaft boomt, bricht ein anderer zusammen. Für ein paar Kleider oder einen Discobesuch gibt es wieder bezahlbaren Sex, buckelt man wieder vor den I3leichgesichtern, bettelt man um Dollars oder einem Kau­gummi, sagt zu den schmierigsten Touristen „mai frend“.

Die Regierung weiß das, aber Ricardo Alarcón, der neue Präsident der Asamblea Nacional del Poder Popular, eine Art Parlamentspräsident, meint lapidar: „Wir haben keine andere Wahl als das trojanische Pferd hereinzulassen.“ – Das gleichzeitig schwierige und einfache der Situation ist, daß es sowieso keine Alternativen gibt. Man kann nur hoffen, daß die Zeit für einen spielt, daß sich der Kapitalismus rapide selbst überholt, zumindest in Osteuropa oder den lateinamerikani­schen Nachbarstaaten.

Aber es gibt auch andere, freundli­chere Seiten der Veränderung, z.B. wächst vorsichtig die Konfliktbereit­schaft. Der tiefe Fall von Carlos Aldana, dem ideologischen Kopf der KP und Nr.3 in der cubanischen Hierarchie im Herbst 1992, war ein Zeichen dafür, daß man bereit ist, auch hohe Tiere für Korruption zu bestrafen. Aldana, der von einem ausländischen Geschäftsmann Kreditkarten genommen hatte und im Gegenzug Steuerhinterziehungen begünstigte, verschwand völlig von der Bühne. Auch wenn es keine soziale Gleichheit gibt, Cuba ist nicht das Land der Bon­zen.

Daneben gibt es eine kleine demokra­tische Öffnung. Die Wahlen zur Versammlung des Poder Popular wurden im Februar 1993 zum ersten Mal geheim durchgeführt. Sie sind nie als Parlamen­tarismus nach westlichem Muster gedacht gewesen, aber sie haben die Legitimität der Regierung unter Beweis gestellt. „Sie waren unglaublich wichtig“, meint Pablo, „sie haben als Stimmungs­barometer gedient und Partei und Staat voneinander getrennt.“ Über 90% der wahlberechtigten Bevölkerung hat für die Kandidatinnen gestimmt, obwohl westliche Medien weit höhere Ableh­nung prophezeit hatten. „Wir wollen keine Gringo-Demokratie“, sagt Pablo, „aber wir wollen mehr Debatten.“

Er erzählt, daß am Kiosk um die Ecke einer in der Schlange nach zwei Zeitungen verlangt hat, „die nicht das gleiche sagen.“

Alle hätten gelacht, sogar der Mann im Kiosk. „Wir haben Angst, daß die USA Meinungsverschiedenheiten ausnützen werden, deswegen ist diese Öffnung langsam. Aber es gibt sie.“

Daß trotzdem vor allem die Kommandomentalität zu sehen ist, denke ich. Bleiern wartet die Insel auf neue Parolen, auf eine autorisierte Selbstkritik, auf einen Vorschlag, die Dinge anders zu organisieren. Solange das nicht kommt wartet man ab. Darauf, ob man nicht etwa dort das Gemüse anbauen könnte, wo man es braucht, darauf, daß man in der Fabrik etwas anderes herstellen könnte, anstatt gar nichts mehr zu pro­duzieren, darauf daß jemand anderes den Vorgesetzten als korrupt denunziert.

Taxifahrer. – “Bullen und Taxifahrer sind überall Lacras, – Dreckspack –, auch auf Cuba“, sagt eine auf Cuba arbeitende lateinamerikanische Freundin zu mir. Dieser ist anders. Er horcht nicht aus, giert nicht nach Dollars. Der Mann spricht seltsam wie ein Galizier, Argenti­nier, Uruguayer. Nein, er ist aus Habana, meint er. „Ein Glücksfall, alles andere wäre keine Stadt.“

Geschickt weicht er den Schlaglöchern aus, „natürlich haben wir es nicht leicht“, grinst er, „aber wenigstens haben wir es alle nicht leicht.“ Ob er denn glaubt, daß es gerecht zuginge. „Du kannst Fidel alles vorwerfen, aber nicht, daß er sich bereichert hat. Das ist ein anständiger Mann, der immer für diese Sache gelebt hat.“ Und der Rest der Par­tei? „Klar, gibt es da Schweine, aber wenn sie einen kriegen, dann brechen sie ihn. So wie Ochoa und Aldana – die haben sie erledigt. Das hier ist nicht die Sowjetunion.“

Am Straßenrand fliegen die großen Pla­katwände vorbei – „alles für alle“ und „Fiel con Fidel“. „Sie haben viel falsch gemacht“, sagt er „aber du kannst wirk­lich nicht sagen, daß sie es für sich gemacht haben“. Er dreht sich nach hin­ten: „Für diese Umstände hat die Revolu­tion großes geleistet. Wir haben viel zu verlieren.“

Ich atme die Abendluft, im Westen der Stadt steht die Sonne, ich sehe die Hütten den Außenbezirken, die Wohnblocks die neuen Gebäude für Charter gegenüber der eigentlichen Flughafenanlage. Ein Freund hat sich frei genommen, um uns bis hierher zu begleiten, von Terrasse wirft er uns Zigaretten hinterher, Populares. Eine Milizionärin steht herum, unterhält sich gelassen. Auf dem Asphalt liegt Nässe, es wird wieder regnen, denke ich. „Das Wetter war verrückt dieses Jahr.“ sagt die schwarze Beamtin. „Si, muy loco“, antwortet einer. Wir winken dem Freund.

Das da ist Cuba, alles andere wäre eine Katastrophe, denke ich. Trotz alledem.