arranca!: Wie schätzt du das Italien ein, das du jetzt draußen vorgefunden hast?

Curcio: Ich kann mir kein vollständiges Urteil erlau­ben, ich kann nur mein Zusammentreffen mit dem Bestehenden beschrei­ben. Ich bin ja „Freigänger“(siehe Biographie am Ende des Artikels) und habe dadurch eine Reihe von Beschränkungen in meiner Bewegungsfrei­heit.

Durch die Arbeit in unserer Verlagskoopera­tive habe ich viele junge Leute aus verschiedenen Stadtteilen kennengelernt, die mir von ihren Aktivitä­ten, Analysen, Kommuni­kationsmitteln, von ihrer Art Kultur in der italieni­schen Gesellschaft erzählt haben. Ich habe einige selbstaufgebaute Gruppen kennengelernt, die Rap und Graffiti machen, und ich habe auf einem Tref­fen im Frühjahr auch die Kreise erlebt, in denen sie versuchen, mit Musik, Gesang, Video ihre politi­sche und kulturelle Bot­schaft hineinzutragen.

Wir haben zusammen ein Video über die Pro­bleme des politischen Strafvollzuges und einiger politischer Gefangener, wie Prospero Gallinari, der sehr herzkrank ist, gedreht. Mir schien es, Jugendliche getroffen zu haben, die sehr aufmerk­sam beobachten, was vor sich geht, die sehr intelli­gent sind und die Pro­bleme der italienischen Gesellschaft erkennen. Heute morgen z.B. habe ich mich mit Jugendlichen aus dem Centro Sociale Forte Prenestino getroffen, die mir von den Proble­men der Immigranten in ihrem Viertel erzählten, z.B. von den Schwierigkei­ten der Nomadenkinder in Schulen. Sie haben auch von den Schwierigkeiten berichtet, über eine Dis­kussion hinaus zu einer produktiven Beziehung mit diesen Leuten zu kommen.

Das alles scheint mir ein großes Lebenszeichen der italienischen Gesellschaft. Ich muß dir sagen, ich fand ein aktives Italien vor, sehr interessiert an dem, was vor sich geht. Ich sehe die Situation nicht so pessimistisch, wie sie von bestimmten Intel­lektuellen dargestellt wird, daß nämlich alles Scheiße Scheiße Scheiße ist.

¿ Wie lief die Poli­tisierung der Bevölkerung und Radikalisierung der italienischen Linken, bevor Du in den Knast kamst?

Curcio: Ich komme aus einer Zeit, in der die Bewegungen und Formen politischer und kultureller Beteiligung ganz andere waren als heute. Meine politischen Aktivitäten begannen in der 66er, 67er und 68er Bewegung. Damals entstand das, was später zur außerparlamen­tarischen Linken wurde. Die Anfinge liegen in den Arbeiterkämpfen von Pia­zza Statuto 1962; die Bewegung mit Fabrikzei­tungen, Zeitschriften, einer bestimmten Art von Aktivisten – ein bißchen autonom, etwas außerhalb der Gewerkschaften und der KP. Dann kam die Militanz der Bewegung 1967 und 68, die in Ver­bindung mit dem Viet­namkrieg entstand und sich international in Trento, Berlin, Paris, Brüs­sel usw. manifestierte. Wir gingen zu den großen nationalen Problemen über, zum Beispiel zur Erneuerung des Schulsy­stems, das nur an den Interessen der Eliten ori­entiert war.

1969 begannen die großen Arbeiterbewegun­gen. Die italienische Nachkriegszeit war ja sehr hart gewesen, geprägt von millionenfacher interner Migration und absolut unterbezahlter Arbeit. In der italienischen Gesell­schaft entstand das Bedürfnis, zu einer Kon­sumphase überzugehen, damit sich die Arbeiter Fernseher, ein kleines Auto, Kühlschränke usw. leisten konnten. Ursprünglich war es sowohl ein Interesse der Arbeiter als auch des itali­enischen Kapitalismus, bis die Arbeiterbewegung immer weitreichendere Forderungen entwickelte, nicht nur Gehaltserhöhun­gen, sondern auch die Beteiligung an der Macht forderte.

Schließlich setzte die Strategie der Spannung (siehe Ende des Artikels) ein, der Blockademechanismus des Staates. Die Bewe­gung veränderte sich, sie wurde in den 70er und den frühen 80er Jahren immer antagonistischer, immer grundlegender oppositionell. Man wollte die bevormundende Demokratie nicht mehr akzeptieren, und begann schließlich, sich zu bewaffnen.

¿ Hast du dir die Ausmaße des gegneri­schen Machtapparates so vorgestellt, wie es später herauskam, mit dem europäischen Geheimdienstnetz Gladio zum Beispiel?

Curcio: Ach weißt du, wir sind authentische Bewe­gungen gewesen, sehr naiv, wir haben uns gewehrt, weil es großen sozialen Druck gab. Wir sind dann mit einer Orga­nisierung der Macht zusammengestoßen, die uns unbekannt war. Sie war viel wehrhafter und vielschichtiger, als es unsere Analysen zu ver­stehen erlaubt hätten.

¿ Was hat sich für Euch in den Knästen ver­ändert, als draußen die Bewegung zerschlagen wurde?

Curcio: Das Ende der Bewegung draußen bedeutete auch ein Aus­bluten der Gefangenen. Es gab spezielle Notstandsgesetze wie das dissociati- ­und pentiti-Gesetz (siehe Kasten), das die Gefange­nen im Austausch für eine Haftverschonung dazu aufforderte, abzusch­wören und zu verraten. Viele nutzten die Situation aus, haben dadurch Freundschaften zu ande­ren Gefangenen gelöst. So wurden Gefangenengrup­pen ausgedünnt: von 6000, die insgesamt die Gefängnisse durchliefen, sind heute 250 übrig geblieben, 100 „Freigän­ger“ wie ich und 150 in harter Gefangenschaft.

¿ Draußen wird heute wieder versucht, Demos, Knastkonzerte usw. zu organisieren, um deutlich zu machen, daß die Genossen drinnen nicht vergessen wurden. In Italien gab es Jahre, in denen sich draußen nichts bewegte…

Curcio: Ja, es gab Jahre, in denen wir allein waren. Das mußt du im Kontext der italienischen Situation sehen. Es war das Ende einer Erfahrung. Kraft gegeben haben uns die Initiativen im Inneren der Knäste. Wir arbeiteten sehr viel mit sozialen Gefangenen zusammen, die wegen Drogenge­schichten saßen, AIDS hatten, transsexuell sind usw. In Rebibbia waren im Gefängnis 30% Immi­granten. Wir diskutierten an den Themen Rassismus und Migration, eines der breitesten, unbekannte­sten und am schlechtesten angegangenen Probleme der Gesellschaft.

¿ Wie siehst du die Lage der Gefangenen heute? Bewegt sich etwas?

Curcio: Wir, d.h. die Leute drinnen und die „Freigän­ger“ wie ich, kämpfen für eine politische Lösung in Form eines Gesetzes. Lange Zeit war dieser Vor­schlag isoliert in der italie­nischen Gesellschaft, auch Jugendliche haben sich mit dem Problem nicht auseinandergesetzt. Erst in letzter Zeit ändert sich die Situation. Die Rap-Musik spielt darin eine wichtige Rolle. Die Musikgruppen setzen sich mit Gefange­nen auseinander und ver­mitteln ihre Erfahrungen in die Centri Sociali. Es gab Demos und Konzerte, auch vor Rebibbia.

Auf politischer Ebene halte ich Ita­lien für ein sterbendes System, das sich mit sich selbst und seiner Geschichte auseinandersetzen muß – d.h. also auch mit uns. In der Hin­sicht gibt es in den Parteien, von PDS (Partei der demokratischen Lin­ken) über Rifondazione Comunista bishin zur Christdemokratie und sogar den Republikanern (die klassi­sche Partei des Kapitals in Italien) eine Bereitschaft, mit einem Gesetz die Jahre des Notstandes zu been­den. Das wäre nicht definitiv, es wäre ein Teilgesetz, aber es wäre eine Möglichkeit, um in diesem historischen Moment alle Leute aus dem Knast zu holen. Es gibt also Bedingungen auf verschiedenen Sei­ten, die eine Befreiung der politi­schen Gefangenen ermöglichen wür­den.

¿ Du glaubst also, daß es in den nächsten Jahren eine politische Lösung geben wird?

Curcio: Ich hoffe, daß die Gesetzesi­nitiative, die vor kurzem von etwa 50 Abgeordneten verschiedenster Parteien im Senat vorgelegt wurde, noch dieses Jahr diskutiert wird. Die politische Situation in Italien ist offen und es ist unklar, ob das neue Parlament unserer Situation gegenü­ber Sensibilität demonstrieren wird.

¿ Was sieht das Gesetz vor?

Curcio: Es verlangt keinerlei „Gegenleistungen“ von den Gefan­genen. Es betrifft alle Gefangenen, die wegen Strafverfahren im Zusam­menhang mit den Ereignissen der 70er Jahre verurteilt wurden. Alle lebenslänglichen Strafen sollen auf 21 Jahre verringert werden, so daß alle 70 politischen Gefangenen, die lebenslänglich sitzen, zumindest als „Freigänger“ herauskommen kön­nen. Sie sitzen alle mehr als 10 Jahre und hätten somit mehr als die Hälfte ihrer Strafen abgesessen.

Außerdem sieht das Gesetz die Halbierung aller Zeitstrafen vor, sowie einige sekundäre Aspekte wie z.B die Rückgabe der Zivilrechte. Ich bin beispielsweise nur ein halbierter Bürger, ich besitze die meisten Rechte nicht.

Wir wollen weiterhin einen Amne­stieartikel für sogenannte „Banden­straftaten“, wie Bildung und Mit­ gliedschaft in einer bewaffneten Ver­einigung. Das wird von den Partei­zentralen abgelehnt. Und letztlich verlangen wir, daß Hafterleichterun­gen wie der Status des „Freigängers“ automatisch und weniger kontrolliert angewandt werden.

Das alles wäre ein wichtiger Schritt, weil es die Diskussion außer­halb der Gefängnisse ermöglichen würde.

¿ Du hast auch aus dem Knast heraus Ereignisse draußen analysiert, z.B. die Pantanella-Besetzung… Was denkst du über die aktu­elle Situation, die von einigen als der definitive Sieg des Kapitalismus gesehen wird?

Curcio: Meine direkte Erfahrung, als ich aus dem Knast herauskam, war ein Zusammentreffen mit sehr leben­digen Teilen der Gesellschaft. Ich hoffe sie werden nicht erstickt wer­den. Es ist trotzdem kein falscher Optimisus angesagt.Es war eine sehr interessante Begegnung großer Soli­darität und Freude von Leuten über meine Etnlassung. Das werte ich als Aufmerksamkeit gegenüber den Pro­blemen der Transformation, gerade wegen der Rolle als Symbolfigur, die ich irgendwie habe.

Wie ich die internationale Situation sehe, das ist wirklich die Millionen­frage… es fällt mir schwer, dazu etwas zu sagen, weil der Knast dich die Sachen sehr auf deine eigene Weise sehen läßt. Mit der Immigra­tion habe ich auseinandergesetzt, weil ich im Gefängnis damit konfrontiert war. Pantanella war nicht nur die besetzte Nudelfabrik, son­dern einige der 2000 ImmigrantInnen landeten auch im Knast, so daß ich Gelegenheit hatte mit ihnen zu reden. In Rom leben 1 Million ImmigrantInnen, die Stadt hat sich ver­ändert, in den Schulen sitzen indi­sche, nordafrikanische, pakistani­sche Kinder. Mit denen müssen wir irgendwie in Beziehung treten. Es müssen die kulturellen Bedingun­gen für eine Akzeptanz geschaffen werden.

Dahinter steht natürlich, daß sich die Welt verändert hat. Die Ost­West-Bipolarität gibt es nicht mehr, die Nord-Süd-Verhältnisse sind andere geworden. Der realexistie­rende Sozialismus sowie der Libera­lismus sind am Ende, Gewinner gibt es keine. Wir stehen am Ende der Kulturen des 20.Jahrhunderts, vor einer Neuorganisierung der Welt. Die Menschen, die ihrer Ressourcen beraubt wurden, kommen hierher, und ich beginne, mir die italienische Gesellschaft als komplexe Gesell­schaft vorzustellen. Sie ist völlig unvorbereitet für die Situation, die faktisch schon in den Straßen exi­stiert, eine Situation, die es schon gab, als ich aus dem Knast kam. Es gibt keine Sozialpolitik, aber auch keine Kultur des Zusammenlebens von verschiedenen Kulturen in Ita­lien, die diese komplexe Gesell­schaft ermöglichen würde. Ich sehe also, daß es notwendig ist, auf dem Gebiet zu arbeiten. Unsere Verlagskooperative hat sich vorgenommen, diese Art von sozialer Initiative zu unterstützen.

¿ Im Verlagsprogramm habe ich auch ein Buch von einem Itab Hassan, einem jungen Palästinenser, gesehen…

Curcio: Ja, Itab Hassan ist ein palä­stinensischer Junge, der im Shatila-Lager in Beirut geboren wurde und dort 1982 das Massaker erlebt hatte. 7000 Tote innerhalb weniger Tage, er hat seine Mutter und seine Geschwister sterben sehen, er mußte mit 9 Jahren im Libanon kämpfen, mit 14 ist er nach Rom gekommen, um einen Sprengsatz in einem Büro der Britisch Airways zu werfen. Das war eine der Aktionen, die aus Palästina ausgingen, um die Aufmerksamkeit auf die Situation dort zu lenken.

Itab wurde mit 14 Jahren verhaftet und in eine Jugendvollzugsanstalt gesteckt, bis er – sagen wir – in ein „Erwachsenen“-Gefängnis kam. Dort habe ich ihn getroffen. Im Moment sitzen wir, beide Freigänger, immer noch zusammen.

Wir haben dieses Buch publiziert, weil es die Geschichte eines Jungen aus einem Teil der Welt erzählt, das keinen Frieden finden kann, wo es keinen Platz zum essen, trinken, schlafen, leben und für die eigene Kultur gibt. Es geht um einen Jun­gen, der viele Jahre im Knast ver­bracht hat, lange getrennt von sei­nen Leuten lebte und immer noch in einer schwierigen Situation ist: Itab ist Freigänger und arbeitet als Tellerwäscher in der Uni-Mensa in Rom.

¿ Was hast du für Vorha­ben?

Curcio: ich will in dieser Koopera­tive arbeiten und darüber Probleme unserer Gesellschaft sichtbar machen. Die schrecklichen Situatio­nen derjenigen, die in Einsamkeit leben, die durch Institutionen, Gefängnisse, psychiatrische Anstal­ten, Behinderungen, Aids, Transse­xualität usw. isoliert sind, sollen transparent gemacht werden. Aber ich will auch mit den sozialen Akteuren, die heute neue gesell­schaftliche Spannungen ausdrücken, aktiv werden: mit den Immigranten oder der Rap- und Hip Hop-Kultur z.B. Die Einbindung von Jugendlichen in die soziale Problematik ist mir wichtig, d.h. Gleichgültigkeit oder Show-Business-Mentalität zurückzudrängen.

¿ Es ist ja gerade ein Inter­view-Buch mit Dir über Deine Zeit in den Brigate Rosse veröffentlicht worden, Hast du da noch andere Projekte?

Curcio: Ich glaube, daß über die Themen hinaus, die ich in diesem Buch streife und die dort zwangs­läufig sehr oberflächlich behandelt werden müssen, möglichst bald eine sehr viel ernsthaftere Diskus­sion beginnen muß. Gerade wenn man sich anschaut, in welcher Situation sich Italien heute befin­det.

Ich arbeite deshalb mit einigen anderen seit eineinhalb Jahren am „Projekt Gedächtnis“, ein umfassen­des Forschungsprojekt über die sozialen und kulturellen Grundlagen des bewaffneten Kampfes in Ita­lien, eine Analyse, die alle miteinbezieht, gegen die von 1969-89 im Zusammenhang mit dem bewaffne­ten Kampf ermittelt wurde. Es ist ein Projekt, das allen Leuten, die über dieses Thema diskutieren wollen, eine breite und umfas­sende Grundlage von Daten liefern wird. Es wird eine Art Karteikarten zu den über 150 Organisationen geben, die operiert haben. Die soziale Zusammensetzung der Gruppen sowie ihre interne Geschichte soll dargestellt werden, und es ist eine Charakterisierung der gestorbenen Militanten geplant Was uns betrifft, sind es 70 Leute, die wir nicht vergessen wollen, von denen wir auch wollen, daß Grundzüge ihrer Persönlichkeit bekannt werden.

Das Projekt soll im September 1993 vollendet und der Öffentlichkeit präsentiert werden. Hoffentlich wird dadurch klarer, wer die 6000 Leute waren, die im Knast gelandet sind, aus welchem Teil der Gesell­schaft sie stammten, welche Ideen sie verfolgten. Es wird auch Biblio­graphien der Organisationen gehen, so daß jeder die Unterlagen und Dokumente heraussuchen und nachlesen kann.

Es war im übrigen ein schwieri­ges und großes Projekt. Etwa 170­180 Leute aller bewaffneten Orga­nisationen und Gruppen Italiens haben sich daran beteiligt. Im Abschluß ist jede der „Karteikar­ten“, die wir über die Gruppen zusammengestellt haben, von den Führungskräften der jeweiligen Organisation korrigiert worden.

¿ Ich habe dich vor dem Interview gefragt, ob du über den bewaffneten Kampf in deiner Situa­tion überhaupt reden willst. Ich habe den Eindruck, daß die Medien und Politiker in dich immer eine Rolle hineinprojiziert haben, die du eigentlich, als du in den Knast kamst, gar nicht hattest…

Curcio: Ja, da ist eine symbolische Rolle entstanden, weil ich für die Freiheit der Gefangenen aus allen Organisationen eingetreten bin und man mich deshalb als Kern des ganzen gesehen hat. Ich wünsche mir, daß das bald vorbei ist, daß alle ihre Verantwortung wieder selbst in die Hände nehmen. Es muß zu einer tiefgreifenden Dis­kussion kommen, die nicht nur von einzelnen geführt wird, und in der es Begegnungen gibt. Aber das ist ein Problem, das einfacher zu lösen sein wird, sobald das Gesetz zur Befreiung der politischen Gefangenen verabschiedet ist. Denn es ist klar, daß es ein freies Wort auch nur in Freiheit geben kann.

¿ Du hast vorher von den Menschen auf der Straße geredet… was für Reaktionen bekommst Du auf der Straße zu spüren, wenn du erkannt wirst?

Curcio: Die Reaktionen sind mir sehr nahe gegangen, sie sind viel umfangreicher gewesen, als ich erwartet hatte. Ich hatte nicht im mindesten eine so große Popula­rität erwartet. Auf der Straße treffe ich ständig Menschen, die mich anhalten und mir ihre Zufrieden­heit mitteilen darüber, daß ich rausgekommen bin, und sich wün­schen, daß die anderen auch bald frei kommen.

Ich glaube, es herrscht eine Atmos­phäre der Transformation in Italien. Und die 250 Leute, die als Geiseln in den italienischen Knästen ver­blieben sind, müssen Teil dieser Veränderung sein.

¿ Danke, Renato, für dieses Interview.

Zur Person von Renato Curcio

Renato Curcio wurde am 23.9.1941 in einem Dorf in der Nähe von Rom geboren Wenige Wochen nach der Geburt gab ihn seine alleinstehende Mutter, die als Kellnerin arbeitete, zu Verwandten in ein kleines Dorf in den Bergen der Norditalienischen Region Pie­mont, Ein Onkel, zu dem er eine enge Bezie­hung hatte und der Partisan war, wird 1945 von deutschen Nazis ermordet.

Im Alter von 10 Jahren kommt Renato Curcio in eine Klo­sterschule in der Nähe von Rom, er rebelliert und wird in eine Pflegefamilie nach Imperia gegeben die er mit 15 Jahren, verläßt um Arbeit zu suchen. Er arbeitet eine Weile und macht dann das Fachabitur als Chemielabo­rant. Danach lebt er ein Jahr auf Genuas Straßen. Als er hört, daß in der norditalieni­schen Trento eine neue Soziologiefakultät eröffnet werden soll, fährt er noch Trento.

Im Juni 1962 schreibt er sich ein und bekommt wegen seines guten Zeugnisses sogar ein Stipen­dium. Er gründet mit Freunden eine „comune“ und beginnt linke Diskussionszirkel zu frequen­tieren. Er beteiligt sich an Universitätskämpfen ’66 und ’67, es folgen Universitätsbesetzun­gen, Proteste gegen den Vietnam-Krieg und eine fundiertere theoretische Auseinanderset­zung mit den „Klassikern“ und der „Neuen Lin­ken“. Im Laufe des Jahres 1968 wird die Kritik am System grundsätzlicher, neue Organisatio­nen in der Linken entstehen. ’69 heiratet Renato seine langjährige Genossin Mara Cagol, sein politsches Umfeld aus Trento trifft sich mit Vertretern der Arbeiterbewegung aus der Mailänder Reifen-Fabrik Pirelli, diese beschreiben die Situation in den Fabriken als „reif für die revolutionäre Auseinanderset­zung“. Mara und Renato beschließen nach Mailand zu ziehen, um dort politisch zu arbei­ten.

Im Herbst ’69 wird das „Metropolitane politische Kollektiv“ (CPM) von ihnen mitgegründet und ein altes Theater angemietet, was sich schnell zum Kristallisationspunkt und Kulturzentrum der radikalen Linken entwickelt. Es herrscht eine offene Stimmung, doch dann beginnt der Einsatz der „Strategie der Span­nung“: am 12.12.1969 werden bei einem von den Geheimdiensten organisierten faschistischen Bombenanschlag auf der Mailänder Piazza Fontana vier Personen ermordet. Die „Strategie der Spannung“ zielt darauf ab, daß die Geheimdienste Anschläge organisieren, teilweise zusammenhangslos, andere in Zusammenarbeit mit den Faschisten und wieder andere, die sie der Linken unter­schieben. Ein Klima des „Chaos“ und der Angst soll erzeugt werden, in dem die Bevöl­kerung inmitten „linker und rechter Gewalt“ nach dem starken Staat ruft. Es wird klar, daß die Linke sich anders organisieren muß, denn die Polizei beginnt eine Repressions- und Hetz­kampagne gegen sie. Renato, Mara und andere, die später auch bei den Brigate Rosse sein werden, gründen Sinistra Proletaria (proletarische Linke) und überlegen, wie auch andere Gruppen, an festeren, verbindlicheren Strukturen beteiligt werden können, Ordnungs­dienste für Demos und organisierte Selbstver­teidigung entstehen, die ersten Papiere, in denen der bewaffnete Kampf theoretisch the­matisiert wird, zirkulieren.

Während schon die ersten bewaffneten Gruppen entstehen (etwa die GAP des Verlegers Feltrinelli oder „22. Oktober“ in Genua) wird 1970 von der „pro­letarischen Linken“ in einem Treffen festgestellt, daß ihre Aktionsformen nicht mehr angebracht sind, die Gruppe löst sich auf, es entstehen auch Kleingruppen, darunter auch der Kern der späteren Roten Brigaden, mit, unter ande­ren, Renato und Mara, die sich an den Kämp­fen in der Fabrik Pirelli beteiligen. Dort entste­hen die Roten Brigaden als Fabrikguerilla, sie greifen mit Anschlägen (z.B. auf Autos) unter­stützend in die Kämpfe der Arbeiter ein. Die Verankerung in den Stadtteilen und Fabriken gelingt: am 25.April (Tag des Partisanenwiderstandes) 1971 und 1972 werden in zwei proletarischen Stadtvierteln Mailands von der Bevölkerung über 200 selbstgenähte Fahnen der Brigate Rosse gehißt. Die ersten Waffen der BR (Pistolen und MG’s) stammen von alten Partisanen, die in den BR würdige Nachfolger sehen. Die Organisation wächst, Ziel ist der Aufbau einer bewaffneten, breiten Gegenmacht von unten. Die Aktionen nehmen zu und ihre Qualität verändert sich: im März 1972 findet die erste Entführung statt. „Beiß zu und fliehe. Nichts wird ungestraft bleiben. Treffe einen, um hundert zu erziehen. Alle Macht dem bewaffneten Volk.“ Lauten die ersten Slogans die die Organisation „berühmt“ machen. Arbeiteten sie zunächst noch „halblegal“, d.h. sie mieteten Wohnun­gen unter ihrem Namen an, vertraten ihre Positionen auf öffentliche Versammlungen usw., gingen sie nach der Entführung in die Illegalität. Bedeutende Teile der Linken Italiens sind mittlerweile bewaffnet und finanzieren ihre Arbeit durch Banküberfälle, die BR bauen Gruppen in immer mehr Städten und Fabriken (FIAT, Mirafiore u.a.) auf.

Im Juni 1974 kommt es zu den ersten Toten bei einer BR-Aktion, bei einem Überfall auf die Parteizentrale den faschistischen MSI in Padua werden zwei Faschisten bei einer Schießerei getötet. Die BR bekennt sich zu der Aktion, betont aber ausdrücklich dies sei nicht die politische Linie der Organisation.

Am 8.September 1974 wird Curcio, mit anderen BR-Militanten durch Einsatz eines V-Mannes verhaftet. Am 18.2.1975 wird Renato durch ein 20köpfi­ges BR-Kommando (unter der Leitung von Mara) durch einen Überfall auf das Gefängnis Casale Monferrato befreit. Während die außerparlamentarische Bewegung wieder abflaut, nehmen die bewaffneten Aktionen zu, eine immer mehr militärische Logik setzt sich durch, auch die BR werden umstrukturiert und neuorganisiert.

Am 5.6.1975 wird Mara Cagol bei einer Befreiungsaktion der Polizei für einen entführten Industriellen erschossen. Renato Curcio wird am 18.2.1976 wieder verhaftet und in Folge immer wieder zu neuen Haftstrafen verurteilt, niemals jedoch wegen Aktionen, bei denen Menschen verletzt oder getötet wurden. Angelastet werden ihm meh­rere Knastrevolten während seiner Haftzeit und eine „geistige Verantwortung“, als Mit­gründer und „theoretischer Kopf“ der BR trage er auch die Verantwortung für alle in Folge ausgeführten BR-Aktionen, auch für die nach seiner Verhaftung.

Die Linie der BR draußen unterscheidet sich immer mehr von der der Gefangenen, die dennoch weiterhin in Prozessen zu den BR stehen. Während Ende der ’70er und Anfang der ’80er alle bewaffneten und nicht bewaffneten linken Bewegungen in Italien durch riesige Repressionswellen Zer­schlagen werden (Über 10.000 Verhaftun­gen, Tausende gehen in den Untergrund oder fliehen ins Ausland) hält der Widerstand in den Knästen vorerst an.

Das Pentiti (Reuigen), und das Dissociati (Losgesagten)-Gesetz werden eingeführt, ersteres entspricht faktisch der Kronzeugenregelung, zweiteres bringt kleine Vorteile, wenn sich die Gefangenen von ihrer Politik distanzieren und vom bewaff­neten Kampf lossagen.

Obwohl er die Phase des bewaffneten Kampfes in Italien als abge­schlossene Erfahrung betrachtet, verrät Renata niemanden und lehnt es ab sich „von seiner Geschichte loszusagen“. Er verbleibt im Knast und wird zu einem der prominentesten Gefan­genen, während sich andere die an vielen Aktionen mit tödlichem Ausgang beteiligt waren wieder in Freiheit befinden, da sie andere verraten hoben. Renato fordert weiter­hin eine politische Lösung. Seit Anfang April 1993 ist er Freigänger, d.h. er darf den Tag, da er fest in einer Verlagskooperative arbeitet, außerhalb des Gefängnisses verbringen und muß abends zurückkehren.