Jenseits des Tellerrandes
„Wir kennen diese Frage nicht“, meint ein griechischer Genosse zur Gewaltfrage. „Mein Großvater war kommunistischer Partisan, die Generation meiner älteren Geschwister stand im Widerstand gegen die Diktatur, bei den Anti-NATO-Demonstrationen in den 80er Jahren waren es Hunderttausende, die verlangt haben, die US-Botschaft niederzubrennen. Ich habe nie verstanden, wie sich die BRD-Linke diese Diskussion hat aufzwingen lassen.“
Die fanatischen Eiferer
Es war einer der erheiterndsten Momente meines Lebens, als auf einer Demonstration gegen den Golfkrieg ein bekennender Pazifist einem Freund blutige Lippen schlug. Der Freund zertrümmerte mit Steinen die Fensterscheiben einer Bank, als ihn von hinten ein Friedensbewegter anfiel und wutschäumend auf ihn einprügelte. „Du gewalttätiges Schwein“, schrie er den Freund an, und seine Begleiterin, taubenbesteckt, brüllte uns an: „Ihr Chaoten“.
Die andere Seite
Bewaffnung ist zur bundesdeutschen Wirklichkeit geworden. In vielen Fällen geht es um Selbstverteidigung, die Medien jammern, die Polizei rüstet auf, - und Teile der Linken feiern den Zerfall des staatlichen Gewaltmonopols. Das entbehrt nicht eines bitteren Nachgeschmacks. Auch wenn man weiß, für wen und gegen wen das staatliche Gewaltmonopol in Gang gesetzt wird, auch wenn man erkennt, daß Bewaffnung legitim, unvermeidbar ist, gibt es nichts zu jubeln über die neuen Verhältnisse. Schmetterlingsmesser in der Grundschule...
Die unglaublich unsägliche Gewaltfrage
Es gibt nur wenige Diskussionen, die der Linken so von außen aufgezwungen wurde wie die Gewaltdiskussion der vergangenen 15 Jahre. Im Anschluß an den Herbst 1977, vor allem mit dem Beginn der Friedensbewegung wurde die Frage zum Gewissensbekenntnis.
So wie die SPD mit den Berufsverboten das Treuebekenntnis zum bürgerlichen Staat zur Bedingung für den Eintritt in den öffentlichen Dienst gemacht hatte, so wurde Ende der 70er die Distanzierung von der Gewalt von links zur Grundvoraussetzung für „Diskussions- und Arbeitsfähigkeit“ in Bündnissen. Die Fraktionierung der Grünen in Systemunterstützer (Realos) und -oppositionelle (Fundis) wurde mit dem Thema vorangetrieben, die wichtigsten sozialen Bewegungen gespalten und die bewaffnete Linke in der BRD isoliert.
Wer Militanz als Mittel vor den AKW- Baustellen oder NATO-Camps nicht ausschließen mochte, wurde genauso ausgegrenzt wie diejenigen, die in den Gefangenen des 2. Juni und der RAF nicht nur Kriminelle sahen.
Anders aber als bei den Berufsverboten machten sich die Betroffenen selbst zu Bütteln der von oben vorgegebenen Katharsis des Widerstands. Es war letztendlich nicht der Staatsapparat, sondern die Vollmers und heutigen Befürworter einer Intervention in Bosnien, die die Distanzierung von der Gewalt durchsetzten.
Natürlich war die Debatte um „Friedfertigkeit gegen Gewaltbereitschaft“, in der die „Friedfertigen“ als moralisch dastanden, eigentlich immer ein durchsichtiges Manöver gewesen. Die offizielle Seite hatte mit Gewalt an sich keine Probleme. Ihr ging es um die Wahrung des staatlichen Monopols darauf, – was sie auch beherzt vorführte, wenn es einmal ein wenig enger wurde. Wer erinnert sich nicht an die CS-Gasgranaten – ein in den Genfer Konventionen geächtetes Kriegsgas –, die aus Hubschraubern vor Wackersdorf auf die Menschenmenge geschleudert wurden? Oder an die prügelnden Polizeieinheiten vor Brokdorf, die Ausrüstung von immer neuen Sondereinheiten oder die in der SPD/FDP Regierung im Herbst 1977 geführte Diskussion, „stündlich einen Gefangenen der RAF zu erschießen“ (aus den Regierungsprotokollen)?
Aber auch von Seiten der Bewegungsfriedlichen war das Verlangen nach Militanzverzicht ein höhnischer Einwand. In Anbetracht bestehender Gewaltverhältnisse, in denen Alkoholismus, Obdachlosigkeit, Arbeitsplatzverlust, Vergewaltigung und rassistische Überfälle Bestandteil des gesellschaftlichen Normalzustands sind, klangen und klingen sie nach Komplizenschaft. Wer gegen gewalttätige Zustände nicht mit allen Kräften Position bezieht, bezieht Position. Er stellt sich, gewollt oder ungewollt, auf die Seite der Normalität, auf die Seite herrschender Gewalt.
Friedfertigkeit gab es deswegen nie. Schon der Begriff beinhaltet, daß einvernehmliche Lösungen immer möglich sind. Das aber ist ab einem bestimmten Punkt nicht nur eine Illusion, es ist ein Verbrechen. Wer die Entlassung von Hunderttausenden als wirtschaftlich unvermeidbar bezeichnet oder die Obdachlosigkeit normal findet, hat Stellung bezogen: klar und unmißverständlich auf der Seite derjenigen, die von den Verhältnissen profitieren. Es müssen keine Fäuste fliegen oder Schüsse fallen, damit Gewalt herrscht.
Der soziale und politische Widerstand in der BRD hat das lange Jahrzehnte nicht verstanden. In Italien hagelt es Backpfeifen für Streikbrecher, in Frankreich legen Bauerndemonstrationen Hauptverkehrsstraßen mit Strohbarrikaden lahm, und im spanischen Staat bauen Stahlarbeiter im Arbeitskampf mit großem Elan Geschütze, um die Polizei vom Betriebsgelände fernzuhalten. Man weiß, daß die Alternativen nicht „friedlicher“ wären als das, was man tut.
Bei uns – aber nicht nur bei uns – zieht man dagegen das Bitten dem Fordern vor. Das Fehlen einer Widerstandskultur – keine einzige Revolution schafften die Deutschen außer der nationalsozialistischen – war kein Zufall, sondern hatte seinen historischen Rahmen: Von preußischer Autoritätshörigkeit und den Bismarckschen Sozialgesetzen, die die Arbeiterklasse zum „Sozialpartner“ verpflichteten, über die Ausmerzung der kämpferischen Linken unter den Nazis, bis hin zur halb-totalitären Adenauer-Demokratie spannt sich der Bogen, der es den Getretenen in Deutschland immer so schwer gemacht hat, den Kopf oder die Hand nach oben zu erheben. Deutsche Bürgerinnen identifizieren sich mit ihrem Staat, sie erkennen ihn als neutralen Schiedsrichter an, als ob er zwischen den Interessenseiten stünde. Die Philosophie des aus den USA kommenden Fordismus wie auch der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ beherrscht die Köpfe. „Arbeiterinnen und Unternehmerinnen sitzen in einem Boot“. Der Staat tut so, als ob er der institutionalisierte Konsens zwischen beiden wäre.
Und wirklich – in Deutschland, aber nicht nur hier, schien diese Losung lange aufzugehen; als sie nicht mehr aufging, wurde auf Kosten der Nachbarn dafür gesorgt, daß sie weiter aufgehen kann. Das ist das Tragische an der Konfrontationsfeindlichkeit nach innen: Die Sehnsucht nach Harmonie unter den Klassen grenzt andere aus. Lebensverhältnisse in Deutschland „sozialpartnerschaftlich“ lösen, bedeutet, die Außengrenzen dicht zu machen, mit Infrarot, Bundesgrenzschutz und Hetzjagden. Die „Friedfertigkeit“ nach innen beinhaltet die latente Aggression nach außen. Nie war sich Deutschland so einig, Arbeiterinnen und Unternehmerinnen so Freund wie damals in den „goldenen 12 Jahren“.
Nun zerbricht das Boot wieder, schon seit einem Jahrzehnt, die Gleichung Lohnerhöhung=Wachstum geht nicht mehr auf; was gut ist für die Unternehmerinnen, ist Arbeitslosigkeit für die anderen. Die allermeisten haben es trotzdem noch nicht begriffen. Die Kali-Kumpel aus Bischofferode klagen über die Treuhand. Mißmutig quengelt man über die schlechte „Vereinigungspolitik“ der Regierenden, als ob man den Begriff „Klassengesellschaft“ für eine Erfindung des MfS hielte. Aber eine echte Perle der alten und neuen Staatsbürgerlichkeit auch unter den Linken bot sich auf einer Antifa-Demo im Berliner Stadtteil Marzahn. Demo-eigene Ordner verjagten Demonstrantinnen vom Mittelstreifen der Straße mit dem Argument, daß „die Polizei nur die Fahrbahn, nicht aber den Grünstreifen genehmigt hätte.“ Die Auseinandersetzung kulminierte in dem schönen Satz „Wollt Ihr ordentlich marschieren oder Radaukommunismus?“ – Wie süß klang mir das dahingenäselte Wort in den Ohren. Radaukommunismus – das muß etwas sehr lebendiges sein, z.B. das Abenteuer eines Mittelstreifens oder die Übertretung einer Verordnung. Ich ahnte süße Träume zwischen Plattenbauten und Wurstbuden, geordnet marschierend.
Ostermarsch 1961
„Im Auftrag des Herrn Landrat bestätige ich ihre Anmeldung für den sogenannten Ostermarsch. Soweit die Demonstration durch das Gebiet des Landkreises Obernburg führt, darf nur auf Feldwegen und Landstraßen 3.Ordnung demonstriert werden. Die rechte Straßenseite ist streng einzuhalten, und es darf nur in Zweierreihen gegangen werden. Eine Kundgebung auf dem Marktplatz von Obernburg wird nicht genehmigt, weil dadurch am Samstagnachmittag Ruhestörungen und Belästigungen zu erwarten sind. Für ihre Kundgebung steht ihnen das Sportgelände direkt am Main zur Verfügung. Da nicht auszuschließen ist, daß bei der Demonstration kommunistische Parolen mitgeführt werden, sind sie verpflichtet, alle Parolen und Flugblattexte, bevor sie öffentlich zugänglich gemacht werden, meiner Behörde zur Einsicht vorzulegen. Die beantragte Benutzung von Lautsprechern kann nicht genehmigt werden. Sofern sie auf ihrer Demonstrationsstrecke die Bundesstraße 469 überqueren müssen, hat sich die Demonstration vorher aufzulösen, und alle Transparente sind einzurollen.“
(Ostermarsch 1961 – zitiert nach Lutz Taufer)
Militanter Pazifismus...
Natürlich gab es in der BRD-Linken auch andere Gegner der politischen Gegengewalt als die quengelnden, moralisierenden Untertanenoppositionellen. Da waren zum Beispiel jene militanten Pazifistinnen, die mit respektabler Ausdauer Anfang der 80er Jahre NATO-Stützpunkte blockierten und in Rüstungsfabriken Sabotage betrieben. Für sie war klar, daß Widerstand die vom Staat zur Legalität gemachten Grenzen nicht zu beachten braucht, weil dieser Staat selber Träger von Gewalt ist. Sie verhielten sich eindeutig, kämpferisch, setzten sich mit denen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr und riskierten einiges dabei.
Grundlage ihres gewaltfreien Verhaltens war die Erkenntnis, daß man von den „Mitteln geformt wird, die man gebraucht“, daß auch der revolutionäre Krieg Menschen zu Soldaten macht. Sie dagegen forderten, die angestrebte Gesellschaft radikal vorwegzunehmen, indem sie eben nicht handelten, wie es der Gegner tut. Das ist richtig und auch wieder nicht. Im Falschen gibt es nichts einwandfreies, in der unterdrückten Gesellschaft keinen ganz „neuen Menschen“, in der Gewalt keine völlige Friedfertigkeit.
Das soll nicht heißen, daß ihre Kampfformen wie Sitzblockaden kein Mittel sein könnten, auch nicht, daß sie in der Anti-NATO-Bewegung nichts bewirkt hätten. Ihr kämpferisch-pazifistisches Dagegenhalten taugt einfach nur für bestimmte Situationen. In Rostock hätten weder Menschenketten noch Blockaden etwas erreicht. Es hätte die Rassisten, die ihre verlorengegangene Identität dadurch gewinnen, daß sie nach unten, gegen die Schwächeren durchtreten, nur in ihrem Bild bestätigt. Die anderen sind Schwächlinge, sie aber sind stark. Wer Nazis das zeigt, gibt ihnen Rückenwind. In der neuen Situation, in der wir uns befinden, wählen wir die Mittel unseres Widerstandes nur noch bedingt, andere wählen sie für uns.
Kämpferischer, ziviler Ungehorsam kann deswegen nicht die einzige Kampfform bleiben. Spätestens nach dem 2.Massaker an einer Demonstration zerbricht der gewaltfreie Widerstand an seiner Hilflosigkeit. Zum Kämpfen gehört immer auch Aussicht auf Erfolg, der Ausbruch aus der Opferrolle. Wer immer nur geschlagen wird, steht nicht mehr auf. Es sei denn, es gelingen kleine moralische Siege: eine Sabotageaktion, die eine ganze Fabrik lahmlegt, der Tod eines Folterers, der 3. Stromausfall in einer Woche, obwohl die Straßen voller Militärs sind. Man braucht nur nach dem Chile der Militärdiktatur schauen oder nach Kurdistan heute. Hätte die chilenische Menschenrechtsbewegung so lange gekämpft, wenn es die Nadelstiche gegen die Pinochet-Schergen nicht gegeben hätte? Oder würden die Oppositionellen in Diyarbakir ihre Hilflosigkeit gegenüber den türkischen Truppen ertragen, wenn sie nicht wüßten, daß in den Bergen rundherum die Folterknechte nichts zu lachen haben? Überhaupt ziviler Ungehorsam: Kolumbianische Linke gehen immer mindestens zu sechst, wenn sie nachts Sprüche an die Wände schreiben: 2 malen, die anderen kontrollieren bewaffnet die nächsten Straßenzüge. Wer erwischt wird, wird erschossen.
Die Herrschenden benützen in der Verteidigung ihrer Privilegien alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, militärische sind ein Teil davon. Niemand kann die Gesellschaft grundlegend verändern, ohne sich dagegen zu organisieren. Und genau deswegen ist ziviler Ungehorsam allein einfach zu wenig.
...oder by any means necessary?
Das vielleicht einzig Positive an der gewalttätiger werdenden BRD-Wirklichkeit ist, daß dem moralisierenden Diskurs des „Gewalt oder Friedfertigkeit“ der Boden entzogen worden ist. Mit den 5000 Überfällen und Anschlägen der faschistischen Terrorgruppen seit 1990 wird es immer schwerer, sich individuell darauf zurückzuziehen, daß man für sich persönlich Gewalt ablehnt. Die Wirklichkeit verlangt der Linken heute viel klarere Entscheidungen ab, als dies vor ein oder zwei Jahrzehnten der Fall war.
Trotzdem ist es ist keine Antwort, wenn – nachdem die „Friedfertigkeit“ als Lüge enttarnt ist – Gewalt zum wichtigsten der politischen Mittel hochstilisiert wird, wie das unter den Befürworterinnen des bewaffneten Kampfs vielfach der Fall war oder ist und sich heute in der Antifa-Bewegung teilweise wiederholt. Militanz, das heißt die kämpferische Bereitschaft, etwas zu riskieren und mit allen Mitteln Widerstand zu leisten, läßt sich mit Gewalt nicht gleichsetzen; auch mit Entschlossenheit nicht. In vielen lateinamerikanischen Ländern oder in der türkischen Republik ist es härter, politisch zu arbeiten, als in die Berge zu gehen. Während das Leben in der Guerilla berechenbar ist, tobt in den Städten der schmutzige Krieg gegen die legale Linke. Die Bereitschaft, das Leben zu ändern, notfalls auch zu sterben – also militant zu sein –, macht sich nicht an den Waffen fest. Genausowenig sind sie Garantie für einen schnelleren Erfolg.
„By any means necessary“1 ist deswegen ein pauschales Schnellurteil. Gewalt ist natürlich nicht in jedem Fall notwendig. Auch wenn völlig auf der Hand liegt, daß die Gegenseite immer bereit ist, ihre Ordnung und Herrschaft notfalls auch militärisch zu verteidigen, sagt das nichts über den Sinn eigener Gewalt aus. Gerade dann, wenn von Gegnern die militärische Konfrontation gesucht wird, ist es sinnvoll, ihr aus dem Weg zu gehen.
Es läßt sich zum Beispiel die Frage stellen, ob nicht Malcolm X’ Satz „By any means necessary“ für die Black Panther Party zum Verhängnis wurde. Die schwarze Organisation zeigte ihre Bereitschaft bewaffnet zu kämpfen bei jeder Gelegenheit. Auf Postkarten der BPP sagten schwarze Kinder zu ihren Daddies „schenk mir eine Knarre zu Weihnachten“. Und das zu einem Zeitpunkt, wo in den ganzen USA gerade einmal ein paar hundert Leute in der BPP organisiert waren. Die Organisation stand auf wackligen Beinen, auf die Repression, die danach kam, war sie nicht vorbereitet. Hätte sie die militärische Seite ihres Kampfes nicht so betont, wäre es ihr wahrscheinlich leichter gefallen, sich in den Ghettos zu verankern. Andersherum hätte den staatlichen Stellen ein gutes Stück Legitimation gefehlt, gegen die BPP loszuschlagen.
Das ist natürlich kein Argument dagegen, daß die Entscheidung, sich zu bewaffnen, gerechtfertigt war. Und es stimmt auch, daß die Anziehungskraft der Panthers auch deswegen groß war, weil sie nach Jahrhunderten der Sklaverei die erste landesweite Organisation war, die sich zum bewaffneten Kampf bekannte. Trotzdem eskalierte die Situation für die Black Panthers wahrscheinlich zu früh. Der heraufbeschworenen Konfrontation war sie nicht gewachsen.
Das ist kein echtes Urteil über die BPP. Es ist nur ein Beispiel dafür, daß sich das Problem der politischen Gewalt für die Linke ganz anders stellt. Sie muß – wenn sie die Verhältnisse wirklich grundlegend verändern will – immer militant kämpfen, d.h auch mit Mitteln, die ihr der Staat versagt. Aber sie muß mit der politischen Gewalt als Kampfmittel sehr bewußt umgehen, sie darf sich den Moment ihrer Verwendung nicht aufzwingen lassen, und vor allem muß sie das Reaktionäre in ihr ständig erkennen.
Das Geschick liegt letztendlich darin, sich auf Situationen vorzubereiten, ohne sie dadurch herbeizubeschwören, Eskalationen abzusehen, ohne sie im falschen Moment zu verschärfen. Ich werde darauf noch zurückkommen.
Der fehlende Begriff gesellschaftlicher Macht
„Das Weltbild der Revolutionäre, ob im Trikont oder in den Metropolen, war in den vergangenen Dekaden geprägt von jenem klassischen Verständnis des Politikmachens, in dem die Hauptagenten des politischen Manövers und der politischen Macht Großorganisationen wie Staaten, Parteien, Gewerkschaften, schließlich nationale Befreiungsbewegungen sind, Vorstellungen, die auch die ersten Jahre des Aufbruchs hier geprägt haben und sich noch immer großer Sympathie erfreuen. Es ist ein Verständnis, das seine Wurzeln im 18. und 19. Jahrhundert hat, wo jene zentralen Instanzen der Gesellschaftsorganisationen von oben, der Staat der Moderne und seine Apparate, Parteien, schließlich Gewerkschaften, aus der Taufe gehoben wurden. Der Staat, die Gesellschaft von oben organisierend, ist der Angelpunkt des Politischen, die Revolutionäre kämpfen entweder um die Erringung oder die Abwehr der Staatsmacht. Sie haben dieses Weltbild, das in besonderen Fällen den Charakter eines Duells annimmt, in dem die Gesellschaft überhaupt nicht mehr vorkommt, gegen alle Anfechtungen der Wirklichkeit sorgfältig verteidigt...“ (Lutz Taufer, „Wird Zeit, daß wir rauskommen“ in: Odranoel)
„(...) wir werden um die Erkenntnis nicht herumkommen, daß ein altes System – schon gar nicht so ein ausdifferenziertes – mit bloßen Machtmitteln nicht beseitigt werden kann, solange nicht ein neuer ökonomischer und sozialer Sinn herangewachsen ist, der das alte, zu eng gewordene Machtgebäude sprengt.“ (Taufer, „Wird Zeit, daß wir rauskommen“ in: Odranoel)
Für die Linke – damit meine ich die emanzipatorischen Bewegungen insgesamt –, stellt sich die Wahl der Gewalt als politisches Mittel als pragmatische Frage. Man muß Gewalt nicht prinzipiell bejahen, um sie dennoch anzuwenden. Wer erkannt hat, daß Klassenkampf nicht gemacht werden muß, weil er bereits vorgefunden wird, wer Rassismus, sexistische Gewaltverhältnisse, Elend gesehen und die Ursachen in den gesellschaftlichen Verhältnissen erkannt hat, redet nicht mehr von Gewaltfreiheit. Das ist die moralische Grundlage des Konzepts bewaffneter Kampf.
Die entscheidende Frage lautet dann allerdings, ab wann bewaffnete Politik sinnvoll ist und in welcher Weise. Die sich bewaffnenden Linken der vergangenen Jahrzehnte sind hier fast alle „gescheitert“. Zugegebenermaßen gab es zu manchen Niederlagen keine Alternative. Es gab Augenblicke, wo man gegen einen übermächtigen Gegner kämpfen mußte, selbst wenn man nicht die kleinste Aussicht auf Erfolg hatte.
Aber es gab Niederlagen, die glimpflicher hätten sein können oder vermeidbar waren. Einer der Gründe dieses „Versagens“ liegt darin, daß es bei den Anhängerinnen des bewaffneten Kampfs (und nicht nur bei ihnen, sondern auch bei den Befürworterinnen eines „friedlichen Übergangs zum Sozialismus“) ein mangelndes Verständnis davon gab, wie gesellschaftliche Macht funktioniert.
Renato Curcio, einer der Gründer der italienischen Roten Brigaden meinte in einem Interview im Frühsommer: „wir sind authentische Bewegungen gewesen, sehr naiv, wir haben uns gewehrt, weil es großen sozialen Druck gab. Wir sind dann mit einer Organisierung der Macht zusammengestoßen, die uns unbekannt war. Sie war viel wehrhafter und vielschichtiger, als es uns unsere Analysen zu verstehen erlaubt hätten.“
Der Punkt aber ist entscheidend. Ebenso wie sich ein Teil der Linken im „Marsch durch die Institutionen“ abarbeitete und letztendlich aufgesaugt wurde, weil sie das System zu wenig begriff, sind andere Linke der letzten Jahrzehnte an ihrem militaristischen Machtverständnis gescheitert. Sie begriffen den Konflikt nur noch – wie Lutz Taufer schreibt – als „Duell, in dem die Gesellschaft überhaupt nicht mehr vorkommt“.
Die frühen Texte der RAF sind dafür wahrlich ein Beispiel. Ulrike Meinhof schrieb 1976 an Hanna Krabbe: „das ist scheiße, was du da redest. dein gedankengang ist imaginär. als wäre der feind die ideologie, die er ausspuckt, das gewäsch, die plattitüden, die dir da aus dem kasten in der wand (...) entgegenkommen.“ Oder Meinhof und Baader im gleichen Jahr: „worum es geht, ist, in den metropolen die zweite demarkationslinie, die determiniert ist, durch die dialektik der rückwirkungen der befreiungskriege an der peripherie des systems in den metropolen, also den versuch der strategischen rekonstruktion des us-kapitals durch zurücknahme seiner linien in den zentren – ideologisch, politisch, militärisch, ökonomisch ja auch – zur FRONT zu entwickeln, zur politisch-militärischen auseinandersetzung der prozesse, der den klassenkampf in den metropolen als teil des befreiungskrieges in der 3.welt definiert, indem er hier antizipiert, was proletarische politik heute ist: befreiungskrieg.“
Auch wenn es natürlich stimmt, daß die Konflikte Anfang der 70er Jahre vor allem ihre militärische Seite zeigten, auch wenn man berücksichtigt, daß damals in weiten Teilen der Welt Guerillakrieg herrschte – Vietnam war nur dessen heftigster Ausdruck –, selbst wenn man der Ansicht ist, daß der bewaffnete Kampf einen notwendigen Bestandteil auf dem Weg zur Veränderung darstellt, so bleiben die Aussagen Meinhofs und Baaders trotzdem falsch.
Die Stabilität einer Gesellschaftsordnung fußt längst nicht nur auf ihrer Fähigkeit, militärisch-polizeilich ihre Gegner zu unterdrücken. Unter den drei Stützen der Macht – Modernisierungsfähigkeit, politisch-kulturelle Hegemonie und Herrschaft- erlangt die militärische Seite der Herrschaft erst dann Bedeutung, wenn sich ein Konflikt zuspitzt, wenn die normalen Mechanismen der Herrschaftsreproduktion nicht mehr funktionieren.
Die Ostblockstaaten haben das gezeigt: Obwohl sie vor Waffen starrten, waren sie nicht in der Lage, die Opposition niederzuhalten. Es war unsicher geworden, ob Polizisten und Soldaten Befehle überhaupt noch ausführen würden. Die herrschende Klasse besaß zwar die Kontrolle über den Staatsapparat, aber keine Glaubwürdigkeit mehr. Die Hegemonie, also die Fähigkeit politische und kulturelle Werte durchzusetzen, war ihr entglitten.
Noch wichtiger als das war die Unfähigkeit des Systems, sich zu erneuern. Die bleierne Trägheit der realsozialistischen Apparate verhinderte noch die banalsten Reformen. Erneuerung, Anpassung an veränderte weltgesellschaftliche Bedingungen fanden schleppend oder gar nicht statt. Am Ende war der wirtschaftliche und politische Zerfall so weit, daß große Teile der herrschenden Klasse im Realsozialismus sich vom bisherigen Modell abwandten. Die alte Gesellschaftsordnung brach zusammen, ohne daß ein einziger Schuß fiel. Nicht ihre militärische Schwäche, sondern die Unfähigkeit, sich zu erneuern und eine politisch-kulturelle Hegemonie aufzubauen, führte zum Zusammenbruch der realsozialistischen Regime.
Es ist eine Erkenntnis, die wir immer noch viel zu wenig verstehen. Verhängnisvoll ist das deswegen, weil die Reduzierung von Macht auf das Militärische auch zu einer politischen Beschränkung der bewaffneten Organisationen geführt hat. Sie fingen an, sich in der militärischen Konfrontation zu verlieren, durch die subjektiv erlebte Verschärfung der Widersprüche verschwammen andere gesellschaftliche Entwicklungen, bis nur noch die beiden Armeen sichtbar waren. Die Bevölkerungsmehrheit wurde zu passiven Beobachtern, zu Statisten.
Das spricht nicht gegen den bewaffneten Kampf allgemein. Es spricht gegen ein bestimmtes Konzept bewaffneter Kämpfe.
Ein Rückblick auf die bewaffneten Kämpfe
Seltsamerweise taucht beim Stichwort Guerilla immer wieder die Assoziation nationale Befreiungsbewegungen seit Mitte der 60er Jahre auf. Lange aber vor den antiimperialistischen Kämpfen jener Jahre, sogar lange vor Cuba, ist die Guerilla Widerstandsform von Bevölkerungen gewesen.
Zum ersten Mal als feststehende Bezeichnung taucht der Begriff während der französichen Besetzung Spaniens 1808 auf. Guerilla – die Verkleinerungsform von guerra (Krieg) – stand für den von einer irregulären Armee geführten Kleinkrieg gegen das stehende Heer Napoleons. Die Guerilla war die naheliegende Organisationsform einer mittellosen Bevölkerung gegen einen mächtigeren Feind. Sie zermürbte den Gegner in Kleinstgefechten, griff ihn an, wenn er es nicht erwartete, zerstreute sich vor den Angriffen des feindlichen Heers in der Bevölkerung.
Im Rußland des 19.Jahrhundert bekam der Kleinkrieg eine neue Komponente. Die Volkstümler (Narodniki) übten in kleinen Geheimgruppen Terror (wie sie selbst sagten) gegen das Zarenregime aus in der Hoffnung, damit das System zu destabilisieren und schließlich zu enthaupten.
Diese Erwartung erfüllte sich nicht. 1881 gelang es den Narodniki zwar, den Zar Alexander Il. bei einem Attentat zu ermorden. Aber anstelle des Zusammenbruchs des Regimes folgte seine Konsolidierung. Alexander III. ersetzte den alten Zaren lückenlos, er galt sogar als noch weitaus tyrannischer als sein Vorgänger. Aufgrund dieser Erfahrungen grenzten sich die russischen Sozialdemokraten vom Terrorismus in den kommenden Jahrzehnten radikal ab. Lenin, dessen älterer Bruder bei den Narodniki gekämpft hatte und gestorben war, betonte wie andere Sozialdemokraten auch, daß nur eine organisierte Klasse das Zarenregime ernsthaft gefährden könne, nicht aber der von wenigen getragene Terror gegen die Herrschenden. Die Position war durchaus inkonsequent, denn trotz dieser Kritik führten auch die Bolschewisten den bewaffneten Kampf. Ihre „technischen Einheiten“ waren die aktivsten bewaffneten Gruppen Rußlands in den ersten Jahren des 20.Jahrhundert. Sie verübten Anschläge auf Regierungstruppen und zaristische Beamte, überfielen Banken und Waffendepots, womit einerseits die politische Arbeit finanziert und zweitens Stoßtruppen für die Revolution ausgebildet werden sollten. Auch wenn sie von der offiziellen kommunistischen Geschichtsschreibung verachtet wurden, spielten sie über Jahre hinweg eine wichtige Rolle bei der Destabilisierung des zaristischen Regimes.
Auf Terror gegen die herrschende Klasse als ein Mittel der Destabilisierung und als eine Art Katalysator für die Massenbewegung setzten auch Teile der Anarcho-Syndikalisten in Spanien in den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts. Buenaventura Durrutti, der historische Kopf der spanischen Revolution, war lange Jahre einer der meistgesuchtesten „Terroristen“ in Spanien und Lateinamerika. Stärker als bei den russischen Narodniki machte sich in Spanien bemerkbar, daß Anschläge, auch wenn sie nur von wenigen verübt wurden, durchaus mobilisierend für eine Massenbewegung sein können. Das Gefühl, daß die Herrschenden nicht unverwundbar sind und für ihre Greueltaten bestraft werden können, führte dazu, daß sich Durrutti und andere in Volkshelden verwandelten, und gleichzeitig die Massenbewegung erstarkte.
Yehudi Menuhin
Der Dirigent Yehudi Menuhin auf die Frage „Was sagen Sie einem Skinhead?“: „Das sind arme Kinder, die nie Liebe und Zärtlichkeit kennengelernt haben. Ein Kind soll träumen, aber seine Träume sollten nicht vom Fernsehen kommen oder aus Medien, in denen nur Brutalität vorkommt. So werden seine Träume auch brutal oder angsterfüllt. Das ist schade, denn es gibt fabelhafte Bücher heute, die für die Kinder geschrieben sind, wirklich schöne Bücher. Kinder können heute mehr lernen als je zuvor. Kinder, die täglich sieben Stunden lang vor dem Fernseher sitzen und ihre Gedanken und ihre Phantasie mit diesen Schrecklichkeiten anfüllen, entwickeln sich nicht gut. Das sollte nie, nie erlaubt werden. Aber dafür müssen die Eltern sich opfern und selber nicht fernsehen. Und natürlich auch nicht rauchen ...“
Der erste, der den revolutionären Prozeß dann theoretisch und praktisch als Krieg begriff, war in den gleichen Jahren auf der andere Seite der Erdkugel Mao TseTung. Entgegen der Anweisungen der Moskauer Zentrale der Komintern unter Stalin baute der junge chinesische Kommunist konsequent ein Volksheer auf, das sich in Rückzugsgebieten festsetzte und zum ersten Mal in der Geschichte der marxistischen Linken vorrangig auf die Bauernschaft stützte. Im Kreml hielt man Mao deshalb für einen Spinner, der die chinesischen Kommunisten womöglich in den Untergang führen werde. Erstaunlicherweise jedoch war das Konzept des langanhaltenden revolutionären Krieges, der von 1924 bis ’49 dauerte, in China schließlich erfolgreich.
Das bahnbrechende an diesem Konzept war, daß der bewaffnete Aufstand nicht mehr als begleitende Komponente im gesellschaftlichen Prozeß gesehen wurde, sondern zur tragenden Achse der Revolution wurde. Der revolutionäre Krieg sei, so Mao, die höchste Stufe zur Auflösung des sozialen Konflikts, ein allmählicher Wachstumsprozeß, in dem sich Widersprüche zuspitzen und Kräfte gesammelt werden.
Was nach Mystifizierung von Gewalt und Waffen klingt, hat eine sehr einleuchtende Begründung: Eskalierende gesellschaftliche Konflikte führen dazu, daß die Staatsmacht ihren Krieg in Form bedingungsloser Repression entwickelt. Der revolutionäre Krieg, der wie Mao meint „ein Krieg gegen den Krieg sei“, nimmt deswegen die unvermeidbare Entwicklung vorweg. Anstatt darauf zu warten, daß die Gegenseite ihren Krieg eröffnet, also z.B eine Streikbewegung zerschlägt, muß sich die Linke nicht nur frühzeitig für die Auseinandersetzungen rüsten, sie rfiuß die Konfrontation sogar beginnen, bevor sie ihr aufgezwungen wird…
Hier zu entgegnen, daß nur defensive Gewalt legitim sei, geht an der Frage vorbei. Die Erfahrung, auf der Mao und danach zahlreiche andere revolutionäre Bewegungen aufbauten, ist ja die eines täglich erlebten „Klassenkampfs von oben“, dessen Leiden bereits so groß sind, daß sie durch den Ausbruch eines offenen Krieges nicht mehr großartig verschlimmert werden würden. Zwar ist der Krieg brutal, aber er bietet immerhin noch die Hoffnung auf Veränderung.
Mit einem ähnlichen Selbstverständnis entstanden in der ganzen Dritten Welt2 in den Folgejahren antiimperialistische Befreiungsbewegungen, die als Guerillas agierten. Die lateinamerikanische Form des revolutionären Krieges war der von Che Guevara und Regis Debray geschaffene Fokismus. Demnach müsse die revolutionäre Bewegung einen bewaffneten foco, d.h. einen Herd oder eine Brandstelle schaffen, von dem aus sich der Konflikt ausbreite. Tatsächlich hatte in Cuba ja die Errichtung einer einzigen bewaffneten Front mit weniger als 20 Leuten gereicht, um innerhalb von 3 Jahren (1956–59) die Regierung Batista zu stürzen. Davon ausgehend behauptete der Fokismus, daß kleine Gruppen, die den bewaffneten Kampf aufnehmen würden, eine gewaltige Katalysatorwirkung erlangen würden. Einerseits würden sich immer mehr Menschen der Landbevölkerung diesen Guerilla-Einheiten anschließen, und zum zweiten hätten die Schläge der Guerilla gegen das System eine motivierende Wirkung auf die Opposition in den Städten. Letztendlich führe die Verschärfung der Widersprüche zum Volksaufstand, zur „Insurrección“.
Auch in Ländern ohne strategische Rückzugsgebiete auf dem Land, wie z.B in Uruguay, kamen Elemente des fokistischen Konzepts zur Anwendung. Die Tupamaros, die für zahlreiche westeuropäische Guerillas Vorbild waren, entwickelten in Uruguay eine Stadtguerilla. Auch sie sollte als Brandherd den Politisierungsprozeß beschleunigen und die Konfrontation verschärfen, d.h eine Entscheidung herbeizwingen.
Der Fokismus breitete sich von 1960–75 rasend schnell aus, und das, obwohl er fast überall entweder in raschen Niederlagen oder in Stagnation mündete. Die lateinamerikanischen Guerillaherde, die Anfang der 60er Jahre entstanden waren, verglimmten überall mit Ausnahme Kolumbiens, Guatemalas und Nicaraguas, wo die Guerilla 1979 siegte.
Es stellte sich heraus, daß der Foquismo in noch schärferer Weise als der revolutionäre Krieg Entwicklungen vorwegnahm. Die Armen in Lateinamerika verstanden die Gerechtigkeit eines bewaffneten Kampfs gegen die Hungerregimes, aber diese allein moralische Zustimmung reichte als Motivation für eine aktive Beteiligung nicht aus.
Der Grund dafür lag nicht nur in der geschickter werdenden Aufstandsbekämpfung, die sich verstärkt über massenpsychologische Entwicklungen Gedanken machte. Wesentlich war auch, daß die fokistischen Guerillas zum offenen, militärischen Angriff übergingen, wo die gesellschaftlichen Konflikte noch kaum entwickelt waren. Maos revolutionärer Krieg hatte zwar bewiesen, daß Bewußtsein im Krieg wachsen könne, aber er zeigte dies vor allem in der Situation der offenen japanischen Besatzung, die von jedem Durchschnittschinesen abgelehnt und als Terror erlebt wurde. Nicht nur, daß die foquistischen Guerillas diesen eindeutigen Gegner nicht besaßen, sie begannen ihren Krieg auch in viel überstürzterer Form: Mit oft nur 20–25 Personen wurde die militärische Konfrontation eröffnet. Zwar gingen dem Aufbau eines „Focos“ soziologische und historische Feldstudien voraus – wo nämlich aufgrund der sozialen Lage und der historischen Traditionen eine bewaffnete Gruppe besonders gute Aussichten habe, – aber dies bedeutete meistens nicht, daß es wirklich ausgebildete Konflikte gab. Der Fokismus war in vielen Ländern den realen Prozessen um zu viele Schritte voraus, er wurde für die Bevölkerung unnachvollziehbar.
Unabhängig vom richtigen Anteil dieser Kritik wird oft übersehen, daß die fokistischen Guerillas trotzdem Massenbewußtsein schufen: Durch die Fähigkeit, die Herrschenden zu bestrafen, selber offensiv zu sein, und durch ihre große, moralisch eindrucksvolle Entschlossenheit mobilisierten wenige Guerilleros erhebliche Teile ihrer Bevölkerung. In Uruguay die Tupamaros, in Kolumbien die ELN, in Italien die Roten Brigaden oder im Baskenland die ETA; sie waren keineswegs Bremser gesellschaftlicher Prozesse. Ganz im Gegenteil beschleunigten sie zeitweise Massenbewegungen, die nicht offen auftreten konnten oder an ihre Grenzen geraten waren. Das pauschal verwendete Argument, Guerillas würden Massenbewegungen blockieren, stimmt in dieser Farm einfach nicht.
Das entscheidende Problem (das zu lösen fast keiner Guerilla fokistischen Ursprungs gelang) war, daß das entstehende Massenbewußtsein, die vage Sympathie, nicht organisiert wurde. In ihren konspirativen, engen Strukturen war kein Platz für die vielen, die von den bewaffneten Organisationen angesprochen wurden.
Selbst wenn die Guerillas zu den Massenorganisationen Beziehungen aufrecht erhielten, indem Militante der illegalen Organisationen dort verdeckt arbeiteten (wie dies eigentlich überall der Fall war), gelang die Einheit nicht. Die Eigendynamik der militärischen Konfrontation, in der sich die meisten Guerillaorganisationen befanden, verschärfte den Konflikt, ohne daß dies von den AktivistInnen außerhalb der Guerillas begriffen wurde. Die bewaffneten Organisationen waren immer wieder außerstande, die Eskalation, die sie benutzten, auch wieder außer Kraft zu setzen. Die Spirale „Aktion – Repression – mehr Bewußtsein – neue Aktion“ führte zu einer Eigenlogik wachsender Härte. Der Krieg galt ja als entwickeltste Form des Konflikts. Diese Verschärfung, die natürlich nicht nur von den Guerillas ausging, sondern auch durch härtere Repression bedingt war, trieb unkontrolliert weiter. Die Roten Brigaden, die mit Anschlägen auf Fahrzeuge von Firmenbonzen begonnen hatten, meinten 1979, dazu gezwungen zu sein, den entführten Christdemokraten Moro zu erschießen. Sie waren im Krieg, und das Hinhalten durch die Regierenden mußte bestraft werden. Gleichermaßen sah die RAF keine Alternative zur Ermordung von Schleyer, schließlich handelte die BRD Tag für Tag faschistoider, nahm die Brutalität gegen die Gefangenen zu. Wieviel sinnvoller aber wäre es gewesen, die Staatsmacht als Aggressor bloßzustellen. Aldo Moro und Schleyer waren sicherlich für vieles verantwortlich, aber aus welchem Grund sollten sie sterben? Die Bevölkerungsmehrheit begriff diese Morde nicht, dem Staat dienten sie zur Legitimation neuer Unterdrückung, und geschwächt wurde der Apparat in keiner Weise. Bei den Roten Brigaden gab es diese Diskussion, dennoch setzte sich der Beschluß durch, Moro zu töten. Die Logik des Krieges war entwickelter als das Verständnis politischer Prozesse. Auch das ist kein allein westeuropäisches Phänomen. Die Eskalation des Krieges gab es ähnlich auch in Lateinamerika. Der sehr subjektiv erlebte Krieg, von dem nur ein paar Dutzend oder hundert Guerilleros und die Landbevölkerung einer Region betroffen war, verstellte den Blick für andere Realitäten.
Die wahrgenommene Verschärfung wurde auf das ganze Land produziert. Dazu kam die Durchsetzung eines militaristischen Bewußtseins. Unter dem enormen Außendruck entwickelte sich die Repression nach innen: In der ELN Kolumbiens waren Erschießungen Mitte der 70er Jahre bei Meinungsverschiedenheiten keine Seltenheit. Das Verhältnis zu Massenorganisationen gestaltete sich ebenfalls wie im Krieg: militärisch, hierarchisch und instrumentell. Die gewollte, antizipierte Eskalation der Verhältnisse überrollte die bewaffneten Organisation selbst.
Dennoch sollte man sich hüten, in traditionell kommunistischer Manie von individuellem Terrorismus zu reden und sich von den bewaffneten Organisationen zu entsolidarisieren.
Anders als die unentschlossen hin und her lavierenden kommunistischen Parteien unter der Fuchtel Moskaus haben die Guerillas moralische Integrität ausgestrahlt. Und man sollte das nicht vergessen, sie waren auch erfolgreich: In den antikolonialen Befreiungskriegen, zuletzt 1979 in Nicaragua, stürzten sie die Regime. Im Baskenland oder in Nordirland sind bewaffnete Organisationen Orientierungspunkt für breite Teile der Linken, in El Salvador oder Kolumbien haben sie Landesteile sozial neu organisiert. Wieviele andere linke Bewegungen, Parteien und Organisationen können von sich behaupten, mehr geschafft zu haben?
Ein Mitglied der kolumbianischen UCELN hat folgendes Resumee gezogen: „Heute wird der Fokismus stark kritisiert, alle stellen fest, daß das ein avantgardistisches Konzept ist, und es ist ja wirklich ein Problem, daß die Guerilla in Kolumbien sich seit 25 Jahren in den Bergen herumschlägt, ohne daß der revolutionäre Prozeß wirklich bedeutend vorangekommen wäre. Trotzdein sind unsere Guerilla-Fronten weiterhin nach dem Modell des Focus konzipiert und wir glauben nicht, daß das falsch ist.“ Und an anderer Stelle: „Die fokistische Guerilla hatte viel vom Mythos der guten Jungs an sich, die aus den Bergen kommen und irgendwann mal die Veränderung bringen. In der Praxis kannte die Guerilla dann eigentlich nur zwei Schritte der Politik: einmal Protest abzuwarten und anzuführen und dann den beteiligten Menschen eine revolutionäre Lösung schmackhaft zu machen.“
Kurzum: Ihr ist nicht gelungen, verschiedene Kampfformen miteinander zu kombinieren, und eine eigenständige, kreative Organisierung der Bevölkerungsmehrheit voranzubringen. Daran ist sie gescheitert.
Aber ist das den sozialen Bewegungen, den kommunistischen Parteien oder undogmatischen Gruppen irgendwo gelungen? Welche Alternative einer anderen Gesellschaft und welche Garantie dafür bieten diese an? Warum sollte legalen Parteien wie der mit so großem Interesse verfolgten brasilianischen Arbeiterpartei PT etwas anderes widerfahren als den meisten anderen konsequenten Reformbemühungen:
Sie werden zermürbt, integriert oder zerschlagen? Und letztendlich: Welche Alternative haben wir, als uns einem menschenfeindlichen System auf allen Feldern, und d.h. klar auch dem militärischen, zu stellen? – Die Zeiten werden härter, die Winter roter, das Schlucken tiefer, jeden Tag bleibt uns weniger die Wahl der Mittel. Längst wählen sie andere für uns.
Was von jetzt ab kommt, werden wir alle tragen müssen, nicht mehr nur 15 straighte KämpferInnen. Die Zeit, um längst Begriffenes einfach so zu vergessen, haben wir nicht....