Der Schwerpunkt dieser Ausgabe heißt Selbstschulung/Lernprozesse/Bildung, ein etwas unüblich klingendes Thema, zumindest in der heutigen Linken. Warum wir ausgerechnet diesen Bereich gewählt haben, erklärt sich aus dem in unserem letzten Vorwort formulierten Ziel, verloren gegangene Ansätze wiederzuentdecken. Wobei wir schon länger der Meinung sind, daß das Bewußtsein über Lernprozesse einer der Punkte ist, den wir als Linke am nötigsten hätten; in der realsozialistischen Geschichte war Bildung vor allem Agitation, Weitergabe von Ideologie, ohne eigene Entwicklung. Aus unserer Praxis dagegen kennen wir das Phänomen, daß überhaupt nichts mehr weitergegeben wird, aus Angst zu bevormunden. Jede Generation soll sich politische Erfahrungen wieder neu aneignen, jede und jeder ist auf sich selbst angewiesen.
Beides kann keine Lösung sein. Eine revolutionäre Veränderung braucht Menschen, die selbständig handeln und denken können, aber sie braucht auch keinen modernen Individualismus. Im Gegenteil, nur im gemeinsamen Bewußtsein der Umwälzung wird sich auch wirklich etwas verändern lassen. Der Mensch ist und bleibt ein soziales Wesen. Klar stellen müssen wir noch, daß wir beim Thema „Bildung“ selbst blutige Laien sind. Die wenigen Erfahrungen, die wir im letzten Jahr mit Lernprozessen an Hand unserer Seminare und Veranstaltungen gemacht haben, sind nicht besonders vorhergeplant gewesen. Das meiste haben wir ausprobiert und dabei immer wieder festgestellt, daß wir bestimmte Ziele zwar Klasse allgemein ausdrücken, aber sie dann so gut wie gar nicht praktisch umsetzen können. Diejenigen, die in dem Bereich mehr Erfahrungen haben, sollen sich nicht ärgern, zu viele Allgemeinplätze bei uns zu finden, sondern uns lieber ihre Erfahrungen schreiben. Der Schwerpunkt muß ja keineswegs das letzte Wort in Arranca zum Thema sein.
Neben dem Schwerpunkt haben wir es diesmal geschafft, den Reportagen/Interviewteil etwas länger zu machen als das letzte Mal. Zwei Interviews, eines mit dem italienischen Schriftsteller Nanni Balestrini und ein zweites mit einem türkischen Linken, der vor wenigen Wochen nach 12 Jahren zum ersten Mal wieder in der Türkei war, werdet Ihr finden. Außerdem ein Bericht einer antirassistisch aktiven Frau, die seit längerer Zeit eine peruanische Mula, eine in der BRD wegen Drogenimports verurteilte Frau, besucht. Der Bericht beschreibt die Repression des deutschen Staates gegen die „Kleinen“ im Drogenhandel, die materiellen Verhältnisse, die Menschen in Lateinamerika dazu zwingen, als Mulas zu arbeiten und die verschärfte Haftsituation als Ausländerin und Frau im Knast. Vervollständigt wird der Teil durch eine kurze Belfast-Reportage, die Bilder einer Reise wiedergeben will.
Im Kulturteil gibt es diesmal ebenfalls 4 Themen: die Fortsetzung der Notizen zum Kulturbegriff, ein Interview mit italienischen Hip-Hoppern, die im März 1993 in Berlin waren, eine Buchbesprechung zu Ludwig Lugmeiers „Wo der Hund begraben ist“, und ein Artikel zum Thema Alkohol/Drogen.
Wir hoffen, daß Ihr die Zeitung wieder einigermaßen bunt findet. Daß wir in dieser Ausgabe so viele Interviews haben, nämlich fünf Stück, ist nicht geplant gewesen. Wir finden Dialogformen zwar nicht schlecht, aber daß es so viele geworden sind, hat dann doch mehr mit einem Zufall zu tun: mehrere Themen fanden wir schließlich als Gespräch anschaulicher geschildert.
Das Interview, das ein Freund mit uns über die „Bildungsarbeit“ bei Fels, d.h. mit einigen aus der Redaktion geführt hat (special thanks, you’re pc, pi), ist das klassische Beispiel dafür. Wir haben das nicht gemacht, weil wir uns selbst so wichtig finden, sondern weil sich niemand zugetraut hat, das Thema als Text niederzuschreiben, wir es aber trotzdem nötig fanden, neben theoretischen Allgemeinforderungen auch etwas zu unserer Praxis von Seminaren und unseren Erfahrungen damit zu sagen.
Warum wir keinen Artikel zum Anschlag der RAF in Weiterstadt geschrieben haben, hat nichts damit zu tun, daß wir diesem keine Bedeutung beimessen. Die Veränderungen der RAF sind unserer Meinung nach eines der wichtigsten Anzeichen für eine Neuzusammensetzung der Linken. Die Ausstrahlung, die von einem Projekt so großen moralischen Gewichts (wie es die RAF darstellt) auf die ganze Linke ausgeht, schätzen wir sehr hoch ein, und hoffen, daß das auch die GenossInnen selbst so sehen. Ihre moralische Integrität, ihr langer Atem und die Tatsache, daß sie seit über 20 Jahren immer wieder den Staat anzugreifen vermochten, verleiht ihnen eine besondere Rolle in einer linken Neuorientierung. Das sagen wir nicht, um den Mythos wieder aufzuwärmen. Eine besondere Rolle zu besitzen, bedeutet schließlich nicht „über den Dingen zu stehen“.
Eher empfinden wir die Art des Anschlags und den Grundtenor der Erklärung als einen Schritt hin zu einem organischen, gleichberechtigteren Verhältnis von bewaffneter und politischer Linke. Die entscheidenden drei Punkte sind für uns folgende: Erstens die spürbare Bemühung, bisherige Ansätze grundsätzlich zu überdenken und dabei mit sich selbst hart ins Gericht zu gehen; zweitens die Tatsache, daß sich sowohl die Erklärung als auch die Aktion an mehr richtet, als nur an die politische Linke. Vor allem für die „sozialen“ Knackis, die bei der Forderung „die politischen Gefangenen müssen raus“ immer unter den Tisch fallen, sind diesmal direkt angesprochen worden. Und drittens schließlich – und das ist das wichtigste – hat der Anschlag gezeigt, daß bewaffnete Politik mehr als symbolisch sein kann. Sie kann tatsächlich etwas durchsetzen, nämlich daß dieser HIGH-TECH Knast nicht bezogen werden kann!
Abschließend noch einige Worte zu unserem Zeitungsprojekt: natürlich wollen wir weiterhin die Mitarbeit von anderen Leuten. Unsere Adresse steht vornedrin. Eine Tour durch ein paar Städte in Westdeutschland, die wir diese Tage machen, hat außerdem zum Ziel, das Projekt breiter vorzustellen und eventuell Leute für eine Mitarbeit zu gewinnen.
Und auch unsere zweite Initiative, der Aufruf zur Zusammenarbeit verschiedenster linker Gruppen und Zusammenhänge in Richtung einer Organisation, steht weiterhin. Vielleicht sind wir in dieser Frage etwas anachronistisch, zumindest müssen wir zugeben, daß die Telefone nicht heiß laufen bei uns, aber: Hartnäckigkeit ist die Tugend dieser Tage.
Insofern sind wir weiterhin ansprechbar.
die redaktion