Daß Bildung in der Geschichte der Linken, vor allem der realsozialistischen, oft als ideologische „Belehrung“ mißverstanden worden ist, kann man kaum bestreiten. Solche Erziehung aber, die antiautoritäre Bewegung hat es vor 25 Jahren schon gesagt, schafft kein Bewußtsein. Worthülsen können ausgetauscht werden, wie in der DDR: Nicht der Imperialismus ist mehr die Bedrohung, ein anderer Buhmann/frau wird schnell gefunden.
Die Grundlage dieser linken Belehrungs- und Verkündungshaltung in den realsozialistischen Staaten waren nicht hauptsächlich der preußische Autoritätsglaube oder die kulturellen „Rückstände“ der asiatischen Despotien (die in manchem die SED dem preußischen Deutschland und das stalinistische Regime den zaristischen Terrorherrschaften gleichen ließ). Verantwortlich dafür war vor allem der Determinismus der in den Fortschritt vertrauenden Linken, der Glaube, daß die Geschichte vorherbestimmt (=determiniert) sei und wie bei dem bürgerlichen Philosophen Hegel beschrieben „von Vernunft geleitet“. So wurde der Sozialismus als zwangsläufige Fortführung des geschichtlichen Werdegangs (antike Sklavenhaltergesellschaft – Feudalismus – bürgerliche kapitalistische Gesellschaft) gesehen, eine Stufe weiter auf der Menschheitstreppe, als ein sozusagen automatisch eintretender Höhepunkt. Weil die Entwicklung unweigerlich nach vorne schritt und sich das Ergebnis vorhersagen ließ, konnte sich die Linke an ihre Spitze setzen, mußte sie den Rest der Menschheit nur noch unterrichten.
Und so hieß es dann entlarvend auf gold umrandeten Porzellantellern in der DDR: „Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist“ (Lenin). Die Linke wurde zur Lehrerin, Befreiung zur „Volkserziehung“, zum Vollzugsakt von oben nach unten.
Meiner Ansicht nach war dieser Begriff von Pädagogik, in dem sich Wissende und Unwissende gegenüberstehen, in dem die geschichtliche Wahrheit „von außen“ über die Partei zu den Massen kam, eines der entscheidenden Hindernisse für eine sozialistische Entwicklung. Zwar war die kommunistische Tradition nicht in jeder Hinsicht so, auch schon in den Räteschulen Anfang der 20er wurde betont, daß Lehrer und Schüler beide Wissen mitbringen – letztere das konkrete, erstere das allgemeine –, aber die Grundlinie blieb: es gibt eine feststehende Wahrheit und diese muß verkündet werden. Es ging also oft nicht mehr darum, daß Menschen ihre Wirklichkeit selbständig reflektieren und erklären können, sondern daß objektive Erklärungen geliefert und von außen übergestülpt wurden.
Der Übergang von diesem Objektivismus – in dem nur das Allgemeine und Abstrakte zählt, der Einzelne jedoch verloren geht –, zu einer bedingungslosen Huldigung des Subjektiven und Individuellen ist dann nicht mehr als eine Reflexhandlung.
Vor allem in den letzten 20 Jahren hat die Gesellschaft ein Denken erfaßt, in dem alles beliebig wird. Man sagt sich, daß es nur noch subjektive Wahrheiten gibt, daß alles vom individuellen Empfinden der Einzelnen abhängt und ihre Entscheidungen deswegen von anderen kaum zu hinterfragen sind. Das ist zwar modisch, aber Quatsch. Genausowenig wie es einen Automatismus in der Geschichte gibt, läßt es sich leugnen, daß es Gesetze gibt, die die Entwicklung von Gesellschaften immer wieder bestimmen; und genausowenig wie Bildung nur das Verkünden der richtigen Botschaft bedeuten kann (wie bei der realsozialistischen Agitation), ist es revolutionär, jede Zielvorgabe bei Bildung/Pädagogik abzulehnen, „weil jedeR selbst wissen muß, was er/sie lernen will“. Natürlich gibt es Werte in der Emanzipation und diese lassen sich auch benennen. Ansonsten wäre es letztendlich egal, ob ein Nazi lernt, Menschen totzuschlagen (was aus ihm als Bedürfnis herauskommt), oder ob man versucht, kollektives Verhalten wiederzuerlernen.
Einen so definierten, Subjektives mit Objektivem verbindenden Begriff von Bildung und Lernprozessen zu gewinnen, wird für jeden revolutionären Ansatz entscheidend sein. Im Gegensatz zu einer Revolution, in der neue, wissende Avantgarden Veränderungen von oben nach unten technokratisch von den SpezialistInnen zur Bevölkerung durchsetzen, muß Befreiung zum umfassenden Bildungsprojekt werden, zur Herausbildung von Gegenmacht in allen denkbaren Bereichen: im ökonomischen, sozialen, kulturellen, militärischen und politischen. All das sind Lernprozesse. Kenntnisse müssen angeeignet, gemeinsame Erfahrungen im Handeln gemacht und reflektiert, Verhaltensweisen verändert und ein eigener Weg/Standpunkt gefunden werden. Es muß weiterhin linke Betriebe geben (egal ob sie formell als Kollektive oder Privatunternehmen auftauchen), die politischen Projekten und Aktivistinnen eine wirtschaftliche Grundlage bieten, solidarische, verläßliche Zusammenhänge (egal ob familiäre Bindungen, Freundschaften, WGs oder durch Arbeit) aufgebaut und verteidigt werden, kulturelle Treffpunkte und den kulturellen Ausdruck unserer Sehnsucht geben, die militärische Fähigkeit zur Verteidigung von Errungenschaften/Spielräumen und zum symbolischen Angriff, dazu politische Strukturen usw.
Diese verschiedenen Formen der Gegenmacht gilt es herauszubilden, wobei klar wird, daß mit Bildung nicht nur das Wissen im engeren Sinne gemeint ist. Was der Begriff demnach zu beinhalten hätte, möchte ich im folgenden zu umreißen versuchen.
Die verschiedenen Aspekte der Bildung
Wissen als Werkzeug
Im ganz traditionellen Sinne ist Wissen natürlich Macht. Das Verstehen der Zusammenhänge, die Kenntnis der Geschichte und die „Vorhersage“ von gesellschaftlichen Entwicklungen ermöglicht es den um Befreiung Kämpfenden, Konfrontationen mit dem bestehenden System zu gewinnen. Fehler, um die man aus der Geschichte weiß, müssen nicht wiederholt werden. Das Begreifen der wirtschaftlichen Zusammenhänge macht bewußt, woher der Haß kommt und gegen wen er sich zu richten hat. Auch wenn es falsch ist, Bildung wie in der Geschichte der kommunistischen Arbeiterbildung nur noch dann für sinnvoll zu halten, wenn sie für den Klassenkampf nützliche Fähigkeiten und Kenntnisse vermittelt, bleibt der Aspekt richtig: kämpfen, siegen und etwas neues schaffen kann jede systemoppositionelle Bewegung nur dann, wenn sie die Geschichte kennt, die Gegenwart einschätzen kann und von den für die Zukunft möglichen Optionen eine Vorstellung hat.
Wissen als Befreiung aus der Unmündigkeit
Es ist nicht so, wie es die Sozialdemokratie Ende des 19.Jahrhunderts vertrat, daß nämlich „Wissen frei macht“, solange die materiellen Verhältnisse so bleiben, wie sie sind. Immer nur der/die Einzelne kann sich dann durch seinen/ihren Bildungsrad aus dem Schicksal seiner/ihrer Klasse/Nationalitätenzugehörigkeit/Geschlechtes befreien. Trotzdem ist das Ende der Unmündigkeit, auch wenn es eine individuelle Errungenschaft ist, natürlich auch ein Stück Befreiung. Bei dem Antirassisten Frantz Fanon ist das Selbstverständnis des Geknechteten, sein Gefühl der Minderwertigkeit ebenso schlimm wie seine materielle Ausbeutung. Der DDR-Systemkritiker Bahro beschreibt den Schichtencharakter in den realsozialistischen Ländern damit, daß weite Bevölkerungsteile von Entscheidungsprozessen ferngehalten wurden. In jeder Unterwerfung ist das Gefühl der Ohnmacht und Ahnungslosigkeit entscheidend für die Stabilität des Systems. Unterdrückung ist immer auch ganz wesentlich Abstumpfung, Verblödung, eingeredetes Minderwertigkeitsgefühl. Jede Bildung, die dies durchbricht, ist darum Bestandteil der Emanzipation.
Lernen als Organisierungsansatz
Selbstschulung ist außerdem einer der Ansatzpunkte, über den sich Leute organisieren. Dahinter steht das Bedürfnis, erlebte Unterdrückung, moralisch empfundene Ungerechtigkeit und Erfahrungen im Alltag zu verarbeiten und erklären zu können. Eine tiefgreifende Politisierung gibt es nur dann, wenn diese konkreten Erlebnisse und Erklärungsansätze zueinander kommen. Aus punktuellen Erfahrungen, z.B. mit Bullen bei einer Besetzung, können nicht einfach nur Wut bleiben, sie müssen Erkenntnis werden. Sonst verpufft das Erlebnis als etwas einmaliges. Bildung von links, z.B. als Selbstschulungskollektiv oder als offene, langfristig angelegte Seminarreihe ist daher notwendiger Bestandteil von Organisierung. Die entscheidende Frage ist; daß diese Selbstschulung auch wieder Beziehung zu praktischem Handeln nach außen haben muß. Lernen ist also nicht nur Aneignung von Wissen, es ist Verarbeitung von Erfahrungen, Austausch mit anderen, das Entstehen kollektiven Bewußtseins und damit Voraussetzung für Handlung.
Wissen als Kampfterrain
Die gesellschaftliche Konfrontation zwischen Unterdrückern und Unterdrückten ergreift alle Bereiche. Um ein bestehendes System zu besiegen, müssen auf allen gesellschaftlichen Feldern Positionen erobert werden. Das ist der Gedanke des Stellungskriegs, den der italienische Kommunist Antonio Gramsci (1891–1937) entwickelt hat. Die Auseinandersetzung in der bürgerlichen Gesellschaft kann sich nicht nur auf den militärischen Aspekt beschränken, weil die bürgerliche Herrschaft sich im Augenblick auch nicht vorrangig auf ihre militärische Macht stützt. Die bürgerliche Gesellschaft besteht, wie Gramsci sagt, aus vielen vorgelagerten Stellungen, die sich zur kulturell-ideologischen Hegemonie (Vormachtstellung) zusammenfügen. Wichtiger für die Stabilität des Regimes in der BRD als seine Polizeitruppen und die Anzahl von Wasserwerfern und GSG-9 Einheiten ist so z.B. die Legitimität, die das Regime nach wie vor in den Köpfen der Menschen besitzt. Diese vorgelagerten Stellungen, beispielsweise die verbreitete Vorstellung, daß Regierungspolitik durch das Wählervotum bestimmt wird, müssen erst einmal „eingenommen“ werden. Das stimmt eklatant mit den Aufstandsbekämpfungskonzepten westlicher Regierungen überein. Im Santa Fe II-Dokument, einer theoretischen Schrift zur „Low-Intensity-Warfare“ (Krieg der niedrigen Intensität) in Lateinamerika, die 1988 für den neuen US-Präsidenten Bush erstellt wurde, griffen die us-amerikanischen Verfasser ausdrücklich auf Gramsci zurück und redeten von der Notwendigkeit, im kulturell-ideologischen Bereich aktiver zu werden. Ein US-Militär brachte die Überlegung auf den Punkt, indem er sinngemäß sagte: „Es dreht sich heute darum, die wenigen Zentimeter zwischen Augen/Ohren und dem Gehirn zu besetzen.“ Nicht die Fläche des militärisch kontrollierten Gebiets eines Landes ist entscheidend, der Krieg wird – das ist spätestens seit Vietnam durchgesetzte Lehre an westlichen Militärakademenien – in der Schlacht um die „Herzen und Köpfe“ gewonnen. Um in dieser Schlacht unsererseits Punkte zu machen, ist es nicht nur notwendig, die Medien als staatsgesteuert zu entlarven und zu versuchen, in ihnen wenigstens ab und zu selbst zu Wort zu kommen. Es ist ebenso wichtig, in der Wissenschaft, der Literatur, der Philosophie, der gesamten intellektuellen Diskussion Gegenpositionen zu entwickeln. Um ein Beispiel zu nennen: die Verhaltensforschung von Konrad Lorenz (die berühmten Wildgänse aus dem Biologieunterricht) soll die bestehende Gesellschaft, ihre Hierarchien und ihren Individualismus rechtfertigen. Dieser Verhaltensforschung einen anderen Begriff der Menschheit entgegenzusetzen, ist eben nicht „intellektuelle Laberei“ . Es ist gesellschaftliche Konfrontation genauso wie die Auseinandersetzung mit Bullen auf der Straße. Es mag zwar stimmen, daß ein Teil der BRD-Linken die Bedeutung der intellektuellen Konfrontation (Stichwort: linke Wissenschaftskritik; das Lernen von Altgriechisch, um die Urtexte von Platon und Sokrates lesen zu können und meint, daraus Schlüsse auf die aktuelle Politik ziehen zu können) überschätzt, aber es ist auch richtig, daß dieser Punkt bei einem anderen Teil derselben Linken schlechtweg nicht vorkommt. Auf dem Vormarsch wird die Linke erst dann wieder sein, wenn die Klopperei auf der Straße, die Nachbarschaftsarbeit und die Anstrengung, in jedem gesellschaftlichen Bereich Alternativen zu entwickeln und auszudrücken (also auch in jeder Wissenschaftssparte), in einer umfassenden Strategie zusammenfließen können.
Wissen als Zielvorgabe
Der Aufstand ist noch keine Garantie dafür, daß es nach einem Sturz des alten Regimes besser wird. Wenn wir die Geschichte anschauen, werden wir feststellen, daß der Widerstand überhaupt nichts neues darstellt. Die Rebellion ist so alt wie die Unterdrückung selbst. Aber entweder reichte die Rebellion nicht zum Umsturz oder aber der Umsturz führte nicht zur Auflösung der Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse. Die Frage, die sich stellt, ist also, wieso nach 5000 Jahren Patriarchat, Sklavenhaltergesellschaften, Feudalismus, Kapitalismus und Unterwerfung anderer Völker in immer neuen Imperien ausgerechnet in der heutigen Epoche der Durchbruch geschafft werden soll. Der sowjetische Marxismus, aber auch die alte deutsche Sozialdemokratie der Jahrhundertwende (die sich in vielem ähnlicher waren als man glaubt) würden darauf verweisen, daß erst „heute die Produktivkräfte weit genug entwickelt sind.“ Damit wird aber die Befreiung der Menschheit zum Abfallprodukt technischer Weiterentwicklung, wir selber letztendlich wieder zu den Opfern der Maschinen, die wir erfinden. Nur ihr hohes Entwicklungsniveau kann uns befreien. Ein blöder Gedanke, wenn man bedenkt, daß die robotisierte Welt nicht nur die Arbeitszeit verkürzt, sondern uns auch kontrollierbarer gemacht, unser Leben zunehmend der automatischen und wirtschaftlichen Logik unterworfen hat. Wir reden nicht mehr, um uns zu unterhalten, wir reden, um Informationen auszutauschen. Und so reden wir auch. Knapp. Sachlich. Aufs wesentliche beschränkt. Ob daraus Emanzipation resultiert, wage ich zu bezweifeln. Das einzige, was garantiert, daß mit der Rebellion der Umsturz und dahinter eine freiere Gesellschaft kommt, ist das Bewußtsein. Dieses Bewußtsein muß nicht nur die Gegenwart ablehnen können, es muß auch die Zukunft beschreiben können. Damit meine ich nicht, wie es z.B. die Frühsozialisten Fourier oder Cabet es gemacht haben, detaillierte Utopien auszuarbeiten, in denen ausgemalt wird, wieviel Güter wer zu welchem Zeitpunkt erhalten wird. Revolution ist kein technisch vorplanbarer Prozeß, in dem der Wirklichkeit eine Theorie übergestülpt wird. Revolutionäre Umwälzung ist natürlich die Entfaltung der Menschen und deswegen nicht vorherbestimmbar. Jede Diskussion über „Utopien“ geht aber in diese Richtung.
Was ich meine, ist, daß es eine gemeinsame Vorstellung darüber geben muß, was eigentlich verändert werden sollte, was Befreiung bedeuten könnte. Wenn wir uns heute gegen die Zentralisierung von Macht bei einer Person aussprechen, denken wir wie es anders sein könnte, nämlich daß es eine Versammlung gibt, in der mehrere entscheiden.
Wenn wir dann noch Erfahrungen kennen, in denen auch in Versammlungen sich wieder nur bestimmte durchsetzten, wenn wir also allmählich immer genauer beschreiben können, was wir ablehnen, dann beschreiben wir die Zukunft. In der Negation steckt das Positive mit drin, heißt es sinngemäß bei Marcuse. Über dieses Negative müssen wir zum Bewußtsein.
Das wäre der Unterschied zwischen der Rebellion, die gegen das Unrecht einfach nur aufsteht, und dem Aufbruch in eine neue Gesellschaft. Für die Rebellion reicht eine unverdaute Ablehnung des Bestehenden aus. Um etwas neues zu schaffen, muß man dagegen das Angestrebte vorwegdenken, und sei es auch nur als Negativziele, zu denen man nicht will.
Das ist umso wichtiger als das Entstehen einer sozialistischen Gesellschaft nicht fließend sein kann wie der Übergang von Feudalismus zum Kapitalismus. Während letzterer sich noch in der Feudalgesellschaft herausbilden konnte, weil er ja zumindest eine vergleichbare Logik von Ausbeutung und Herrschaft wie der Feudalismus besaß, bedeutet sozialistische Revolution notwendigerweise den radikalen Bruch mit dem bisherigen.
Noch eine italienische Kommunistin, Rossana Rossanda von der linkskommunistischen Gruppe Il Manifesto schrieb 1971 (als Kritik an den RätekommunistInnen und Anarchosyndikalistlnnen) über die Notwendigkeit, warum eine sozialistische Gesellschaft nicht einfach aus der alten wachsen kann, warum es bewußte Brüche geben muß, warum die noch im alten System entstandenen Organisierungsformen und Bedürfnisse nicht schon das neue sein können:
„Tatsächlich kann man in jeder nachrevolutionären Gesellschaft beobachten, daß die Rätestruktur – und zwar um so mehr, je authentischer, unbehelligter sie sich entwickelt – die Realität der Produzenten so zum Ausdruck bringt, wie sie die Revolution vom früheren kapitalistischen oder vorkapitalistischen System geerbt hat. Diese Erbschaft ist geprägt von der Unausgewogenheit und Ungleichzeitigkeit des Kapitalismus und erfordert daher eine radikale Umstruktrierung, bei der die Räte vor der Notwendigkeit stehen, entweder ihre bisherigen gesellschaftlichen Grundlagen selbst zu negieren und zu überwinden oder die bestehende Unausgewogenheit weiter mit sich zu schleppen. Hier kommen wir wieder zu der oben angedeuteten Ambivalenz in der Entwicklung der Produktivkräfte im kapitalistischen System: Ihr direkter politischer Ausdruck enthält in sich den interessantesten Widerspruch unserer Zeit, auf der einen Seite nämlich die Reife der Ablehnung und Verweigerung des Systems (wir denken an die Studentenbewegung, an den französischen Mai), die er inzwischen ausdrückt, seinen expliziten Zusammenprall mit der Unfähigkeit des Kapitals, die Bedürfnisse zu befriedigen, die er selbst ständig hervorruft, auf der anderen Seite die ebenfalls zwangsläufig zum Ausdruck kommende Partialität dieser Bedürfnisse, die ja eben vom Kapital abstammen. Der Rätebewegung steht in jeder nachrevolutionären Gesellschaft als reales Hemmnis entgegen, daß eine starke Einigungsbewegung erforderlich ist, um die Zersplitterung der Interessen zu verhindern, daß die überkommenen Bedürfnisse verändert werden müssen, nicht einfach unmittelbar in ihrer vorgegebenen Gestalt verwirklicht werden dürfen.“ Rossana Rossanda: „Das Problem der Demokratie und der Macht in der Übergangsgesellschaft“ (Seminar in Chile) in: „Über die Dialektik von Kontinuität und Bruch“ S.58 (Suhrkamp 9DM)
Soziale Lernprozesse als Vorwegnahme befreiter Gesellschaft
Zuguterletzt ist Lernen natürlich auch die Vorwegnahme einer anderen Gesellschaft. Revolution bedeutet veränderte Verhaltensweise und die kann man nicht erst dann anfangen zu erlernen, wenn die alte Regierung gestürzt ist. Unter den bestehenden Verhältnissen werden wir zwar keine neuen Menschen sein, – wenn das möglich wäre, bräuchte es keine Revolution mehr –, aber die alten eben auch nicht mehr. Eine linke Organisation muß den Anspruch an sich haben, überlieferte Verhaltensweise zu brechen. Das soziale Lernen, das man nicht im Kurs beigebracht bekommt, sondern nur im Alltag durch Kritik und Fehler, muß das zentrale Element einer revolutionären Organisation sein. Politische Organisation ist also wie wir es schon öfter betont haben, nicht vorrangig Instrument, sie ist Keim der neuen Gesellschaft. Wie eng die Grenzen für solche persönliche Emanzipation sind, beschreibt die Antifa M aus Göttingen in einem Interview mit der Radikal ganz richtig:
„Wir bezweifeln, daß es diese persönliche Befreiung, diesen herrschaftsfreien Raum wirklich gibt. Allein die ökonomische Abhängigkeit, wie du an Geld rankommst. Und das wird sich ja noch verschärfen, also es wird nicht mehr so einfach möglich sein, genügend Geld ohne Arbeit zusammenzukriegen, um überhaupt noch für die sogenannten Freiräume kämpfen zu können.
Und ein weiterer Punkt: Diese Politik hat in ein Ghetto geführt. Es gibt nur ganz wenige Beispiele, wo etwas aufgebrochen worden ist, denn es wurde ja nicht erreicht, ansprechbar für Leute zu sein(...) Wir beziehen uns auf die Tendenzen der persönlichen Befreiung, der persönlichen Weiterentwicklung, daß die große Politik und die persönliche Veränderung nicht getrennt werden. Wir beziehen uns auf Forderungen und Ansätze, die teilweise von der Frauenbewegung ausgegangen sind, die dann auch zeitweise fußgefaßt haben in der autonomen Bewegung Wir beziehen uns nicht auf das Konzept einer gesellschaftlichen Veränderung, die über Gegenkultur und das Leben in Nischen erreicht werden soll.“ In der (sehr lesenswerten) radikal von März 1993
Grenzen eines Bildungsansatzes
Dem Bildungsansatz in der radikalen Linken sind heute enge Grenzen gesetzt. Unter dem Druck der Ereignisse, wie z.B. die Aufbruchstimmung 1967/68, war die Bereitschaft, sich Wissen und Fähigkeiten anzueignen, und über gesellschaftliche Zustände grundsätzlicher, d.h. abstrakt, nachzudenken, sehr viel größer als heute. Die Verhältnisse brachten auch ohne äußeren Ansporn die Menschen dazu, sich selbst in Frage zu stellen und zu fordern. Auf der anderen Seite besteht die Notwendigkeit, dem Lern- und Bildungsaspekt größere Bedeutung in der radikalen Linken zu geben. Die obengenannten Punkte zeigen wie ich meine, auf, daß Bildung kein bürgerlicher Selbstzweck ist, sondern wesentlicher Bestandteil im Entstehen von Gegenmacht. Eine revolutionäre Organisation und Bewegung wird der Emanzipation nicht näher kommen, wenn sie diesen Aspekt nicht berücksichtigt, sie würde das gesellschaftliche Problem erneut auf die Frage der Machtübernahme reduzieren.
Das Problem stellt sich ebenso dar, wie die politische Arbeit der Linken im Augenblick insgesamt: wir müssen versuchen das Beste daraus zu machen, auch wenn das Beste im Moment eher mittelmäßig bleibt. Wir sollten die Erwartungen niedrig ansetzen, vor allem was die Ansprechbarkeit anderer, nicht politisierter Leute für diesen Ansatz betrifft.
Das hat bekannte Gründe. Einmal ist es wenig vielversprechend, Zeit und Energie (und Lernen ist vor allem dies) in ein Projekt von Befreiung zu stecken, auf das niemand mehr ein Pfifferling verwettet. Die Linke hat zum ersten Mal in diesem Jahrhundert etwas fossiles, sie erscheint als „konservativ“, als Dinosaurier. Sie wird dieses Bild behalten, solange sie die Sprache und das Auftreten der letzten 150 Jahre nicht aufgibt 1. Eine Unzahl von Begriffen, die analytisch gar nicht unbedingt falsch sein müssen, wirken heute belastet und bleiern, weil sie unmittelbar mit bestimmten Erfahrungen assoziiert werden. Wenn jemand neben mir das Wort „opportunistisch“ ausspricht, muß ich immer noch unweigerlich an jene grauen und einsamen Gestalten in hochgeschlagenen Parkas denken, die damals vor 6 Jahren vor meinem Schuleingang als über 30jährige die „Marxistische Schülerzeitung – Blatt der Marxistischen Gruppe“ verteilten. Nichts an ihnen wirkte wie Leben, schon gar nicht wie eine Verheißung des Neuen.
Ich glaube, daß wir immer noch nicht mit den Schablonen in Aussehen und Sprache gebrochen haben. Bei manchen gibt es aus Zukunfts- und Gegenwartsangst sogar ein richtiges traditionelles Rollback. Ich will nicht der Geschichtslosigkeit das Wort reden, aber ich finde, daß viele linke Begriffe von „revisionistisch“ bis „Antipat“ nur noch für diejenigen verständlich sind, die sowieso schon links sind. Mit der Sprache wird Abgeschlossenheit dargestellt und der Versuch gar nicht unternommen, etwas in den Worten zu erklären, die die Angesprochenen benützen. Dabei ist es natürlich ein Unterschied, an wen man sich richtet, und auch wenn Arranca! eher eine Zeitung für die Linke ist, trifft diese Kritik auch stark uns selbst.
Ein zweiter Grund, warum es so schwer geworden ist, Leute für politische Diskussionen anzusprechen, hat mit den Veränderungen in der Gesellschaft zu tun. Die Kids vom Kabelfernsehen sind fahrig, alles muß sich in der Fülle der Reize erst durch Grellheit Platz verschaffen. Das was nicht bunt, schnell, laut ist, wird. übersehen. Der Blick ist trainiert darauf, nur noch kurze bruchstückhafte Sequenzen aufzunehmen, die Fernbedienung rast in Sekundenschnelle die mehr als 25 Kanäle rauf und runter. Im Grunde ist zwar alles gleich gestrickt, die Stereotypen wiederholen sich, das bunte ist eigentlich grau, gefühllos. Aber das Grelle täuscht kreativen Reichtum, Vielfalt vor. Alles, was nicht sofort unterhält, nicht sofort Ergebnisse vorweist, seine Farbigkeit erst mit der Zeit entfaltet, wie ein Buch, in das man sich ein paar Stunden einlesen muß, bis es fesselt, erscheint nutzlos, langweilig. Uns geht es da nicht anders als dem Rest der hier lebenden Menschen auch.
Dazu kommt die grundlegende Schwierigkeit, daß wir, damit meine ich deutsche wie nicht-deutsche Bevölkerung, Teil geworden sind dieses Systems. Der sogenannten Sozialpartnerschaft ist es gelungen, uns die Notwendigkeiten des Kapitalismus als unsere eigenen erscheinen zu lassen. Der Wunsch nach dem Auto, dem Fernseher, den Aldi-Chips, dem Schokoladen-Joghurt aus der Lebensmittelfabrik, von dem einem immer schlecht wird, wird von uns nicht als Notwendigkeit des Kapitals erkannt, Massenprodukte herzustellen und zu verkaufen, sondern als ureigenstes Bedürfnis. Das ist der Grund, warum Marcuse fragt, „wie die Menschen, die das Objekt wirksamer und produktiver Herrschaft gewesen sind, von sich aus die Bedingungen der Freiheit herbeiführen können?“ Und er fügt hinzu: „je rationaler, produktiver und totaler die repressive Verwaltung der Gesellschaft wird, desto unvorstellbarer sind die Mittel und Wege, vermöge derer, die verwalteten Individuen ihre Knechtschaft brechen und ihre Befreiung selbst in die Hand nehmen könnten.“
Bildung würde erst einmal bedeuten, diese Identität mit dem System, die sich schon lange nicht mehr nur darauf beschränkt, daß wir an den Reichtümern teilhaben, zu durchbrechen. Die hektische Fahrigkeit des reizüberfluteten Menschen, der gleichzeitig auf den Verkehr, das Radio, die Plakatwerbung, die Fußgänger, die Zigarette und das Gespräch mit dem Beifahrer achtet, ist Ausdruck der Fremdherrschaft, der ganzheitlichen Unterwerfung und Teilnahme an den bestehenden Verhältnissen.
Deshalb ist die Bereitschaft, linke Positionen einzunehmen heute so gering, und deshalb haben alle unsere Politisierungswünsche so eng gesetzte Grenzen. Anders als im 19.Jahrhundert, wo in manchen Werkstätten die Arbeiter einen von den Ihren freistellten, damit dieser während der Arbeitszeit vorlesen konnte, erscheint Bildung heute nicht mehr als Bedürfnis. Es gibt zu viele Reize, zu viel Unterhaltung, zu viele Angebote scheinbarer Bildung.
Konkrete Folgerungen
Ein Bildungsansatz aus der radikalen Linken heraus kann deshalb im Augenblick nicht massenwirksam sein. Wir könnten versuchen, was wir wollten, es würde uns nicht gelingen, daß wie 1909 32.000 Personen an den Vorlesungen linker Bildungsgruppen teilnehmen. Die Zielrichtung von Bildung muß sich im Augenblick an diejenigen richten, die im weitesten Sinne bereits links/kritisch denken, also auch solche, die erst anfangen, sich zu politisieren oder zu radikalisieren.
Das ist wichtiger, als in der Linken wahrgenommen. Wenn wir nicht blind auf „das Erwachen der Unterdrückten“ warten wollen, weil wir eben einsehen müssen, daß die Verantwortung der Einzelnen entscheidend ist für jedes Befreiungsprojekt, dann müssen wir uns der Bildung von sich politisch verantwortlich fühlenden und verhaltenden Menschen verpflichtet fühlen.
Individuelle Rollen müssen ausgefüllt werden, und das in sehr umfassender Art und Weise. Sie „Kader“ zu nennen, ist nur deswegen falsch, weil der Begriff auf Deutsch einen bitteren Beigeschmack hat. Die Idee dagegen ist richtig, jede emanzipatorische Bewegung braucht VerantwortungsträgerInnen, und zwar so viele wie möglich. Das aber müssen wir lernen.
Solche Militanten-Bildung hätte nicht die gestählte Avantgarde zum Ziel, die den revolutionären Prozeß „wissenschaftlich“ anleitet/verwaltet. Es müßte darum gehen, daß so viele Menschen wie möglich in der Lage sind, soziale Prozesse in Gang zu bringen, zu organisieren, zu vertiefen, zu verbreitern, zu beschleunigen.
Es bekommt jetzt leicht einen weltfremden Touch, wenn ich versuche, diejenigen Eigenschaften aufzuzählen, die meiner Ansicht nach zentral wären, um eine solche Rolle einnehmen zu können. In ein Schulungsprogramm lassen sich sowieso nur einzelne der unten genannten Punkte einbauen. Die anderen, wichtigeren können nur im Alltag erlernt werden, als meist unbewußte Entwicklung.
Die folgenden Punkte können deshalb Denkanstöße sein, niemals aber ein Katechismus des braven und guten Revolutionärs.
Mögliche Lern-Ziele
Wichtiger als jedes politische Wissen oder taktische Schlauheit steht zunächst einmal die revolutionäre Ethik. Befreiung der Gesellschaft ist – auch das klingt evangelisch – ein Akt zur Wiedererlangung der Menschlichkeit. Jede Verantwortung im revolutionären Prozeß verlangt zuerst und vor allem den Respekt vor den Menschen – den KampfgefährtInnen, den Unbeteiligten und klar, auch den GegnerInnen. Die große subversive Kraft der cubanischen Guerilla lag unter anderem darin, daß sie ihre Kriegsgefangenen anständig behandelte, daß sie nicht zu den Mitteln zurückgriff, die der Feind gegen sie einsetzte. Die Seiten blieben unterscheidbar, und das war einer der wichtigsten Gründe ihres Triumphs. Revolutionäre Moral bedeutet sicher nicht das Fehlen von Härte, es bedeutet die Zuneigung zu den Menschen nicht zu verlieren. „Companeros“ dice el Che, „tenemos qüe aprender a ser duros, sin perder la ternura“. (Wir müssen lernen, hart zu sein, ohne die Zärtlichkeit zu verlieren- Che). Gerade an diesem Punkt haben wir in der BRD vieles zu lernen. Unsere Verbitterung ist unübertrefflich, die Linken neben uns sind ebenso Opfer von haßtriefenden Tiraden wie „die Normalos“. Jeder Versuch, dieses pauschale Mißtrauen gegen die Umwelt abzulegen, wird sofort als Heimkehr in den Schoß der „Solidargemeinschaft Deutschland“ verstanden. Über den Satz des uruguayischen Tupamaro Eleuterio Huidobro, daß „eine andere Kategorie, die wir in unserer Strategie ganz obenan stellen müssen, die Liebe ist“ („Mit neuen Augen“, Verlag Libertäre Assoziation), wurde nur deshalb noch nicht öffentlich hergezogen, weil der Mann lange im Knast saß und als Lateinamerikaner einen gewissen Exotenbonus besitzt. Ansonsten scheint in Anbetracht der Lage nur noch Bitterkeit in Frage zu kommen. Die faschistische Geschichte dieses Landes, die Serie der linken Niederlagen, die totale Entfremdung durch die kapitalistischen Verhältnisse, das elitäre Bewußtsein der Intellektuellen, das Mißtrauen des Kleinbürgers, das patriarchale Konkurrenzverhältnis, die „leninistische“ Tradition des im Grunde fremdkörperhaften Linken, all das mag eine Rolle spielen, warum die Bitterkeit als politische Maxime salonfähig ist, während jede noch so vorsichtige Offenheit für die nicht-linke Umwelt anrüchig erscheint.
Ein weiteres Ziel linker Selbstschulung müßte sein, soziale Verantwortung für Gruppenentwicklungen übernehmen zu können. Jeder soziale Prozeß braucht Eingriffe. Ansonsten entstehen die bekannten Situationen: planlos dreht sich über Monate alles im Kreis, die im einzelnen wichtigen Elemente einer Diskussion werden nicht geordnet, Erfahrungen nicht verarbeitet, Beschlüsse bleiben unklar. Diese Erkenntnis ist nichts neues. Bei F.e.I.S., wo wir seit über einem Jahr fast monatlich offene Seminare machen, ist es nicht anders. Sowohl das Entstehen und die Arbeit der Gruppe, als auch die Seminare, hingen von der Initiative einzelner ab. In einer bestimmten Situation vorantreibende Vorschläge zu machen, Konflikte auszusprechen, eine Nachbereitung einzufordern, Konsens zu schaffen, Leute anzusprechen oder Widersprüche zu benennen, stellt sich eben nicht von selbst ein. Dafür muß Verantwortung übernommen werden, und weil wir sind, wie wir selbst sozialisiert wurden, wird diese Verantwortung normalerweise abgewälzt. In eingespielten Zusammenhängen stellt sich vielleicht irgendwann ein Gleichgewicht zwischen Aktiveren und Passiveren ein. Bei offenen Gruppen, wo neue Leute dazukommen, wird sich diese Rollenaufteilung immer wieder reproduzieren. Offene Organisierung und die so oft eingeforderte Gleichheit lassen sich nicht vereinbaren, – was nicht heißen soll, daß man nicht beides gleichzeitig anstreben muß. Wenn sich dieser Widerspruch unter den bestehenden Verhältnissen nicht einfach beseitigen läßt, so kann man wenigstens versuchen, daß sich möglichst viele der sozialen Verantwortung gewachsen fühlen. Das bedeutet vor allem mit den Tücken dieser Rolle klar zu kommen. Die Macherinnen, die Wortführerinnen und Beschwichtigerinnen haben eine exponierte Position und in jeder normalen Gruppe werden sie dafür kritisiert, meistens ausgesprochen hart. Das ist schwer zu ertragen, aber für die Entwicklung einer Gruppe unverzichtbar. Ein/e Revolutionärin, ein/e linke/r Militante/r muß sich also als aktive/r Begleiter/in jedem Organisierungsprozeß begreifen. Eine Genossin, die 1992 mit Fels ein Seminar zur Volksbildung in Lateinamerika machte, unterschied linke Pädagogik (statt Pädagogik könnten wir auch Praxis sagen) in eine liberalistische Schule, bei der jede Äußerung, jede Teilnahme positiv sei und unkommentiert bleiben könne. Ergebnisse seien in dieser (in Lateinamerika vor allem von Sozialdemokratinnen geförderten) Schule der Zufälligkeit überlassen bzw. unerwünscht. Auf der anderen Seite gäbe es die traditionell kommunistische und maoistische Pädagogik, für die Inhalte, Lernziele und Ergebnisse schon im Vorfeld fest stünden. Die Lernenden sind in diesem Bildungsbegriff „Vasen, die man mit Wissen anfüllt“, wie der brasilianische Theoretiker Paolo Freire schreibt. Die Unterwerfung im kapitalistischen System wird nicht aufgehoben durch Befreiung, sondern durch eine neuerliche Unterwerfung ersetzt. Ein emanzipatorischer Begriff von politischer Bildung (nach innen und außen) darf weder der Beliebigkeit verfallen noch der autoritären Strenge. Natürlich gibt es, wie schon oben gesagt, für uns Notwendigkeiten und Ziele. Diese müssen präsent sein, und zwar nicht nur, bei den „Macherinnen“ sondern bei allen Beteiligten eines Lernprozesses. Praktisch bedeutet das für jedes Lern- und Organisierungsprojekt, sich am Anfang auf Ziele zu einigen und diese schriftlich festzuhalten. Jede Teilnehmerin kann dann entscheiden, ob in einem Augenblick des Seminars/ Kurses/ Gruppenprozesses die Ziele aus den Augen verloren worden sind. JedeR kann korrigierend eingreifen.
Bei unserer Genossin im Seminar hieß das inhaltlich ungefähr so:
- um Organisierungsarbeit zu leisten, hätten sie lernen müssen, nicht nur Kenntnisse weiterzugeben und zu organisieren, sondern sich mit Pädagogik und Gruppenprozessen auseinanderzusetzen. Bildung ist mehr als die Weitergabe von Wissen, es ist Kommunikation zwischen mehreren Subjekten.
- die Aufgabe des/der „PädagogIn“ sei es vor allem systematisierend im Kollektiv tätig zu sein, d.h. Diskussionen abzubrechen, wenn sie sich im Kreis drehen, zu verlangsamen, wenn sie sprunghaft sind, zu vertiefen oder zu einem Ergebnis zu bringen.
- entscheidend dafür, ob ein solcher Eingriff von der Runde akzeptiert wird oder nicht, ist die Einfühlung des/der „PädagogIn“ in das Kollektiv. Stimmungen müssen wahrgenommen werden, vor allem aber darf die eigene Subjektivität nicht aufgegeben werden. Der/die „PädagogIn“ handelt als Person wie die anderen auch, seine/ihre Beteiligung entspringt einer persönlichen Einschätzung. Diese muß erklärt werden. Also: meiner Ansicht wäre es jetzt richtig, diesen Punkt zu vertiefen, weil...
- der/die PädagogIn bleibt die ganze Zeit ein gleichberechtigter Bestandteil der Gruppe, der kritisierbar, angreifbar und zur Selbstkritik in der Lage sein muß.
Unsere These ist jetzt, daß jede Organisierung, nicht nur Bildung im engeren Sinne, solche Rollen braucht. Mehr noch: jeder offene Ansatz wird, wenn er wächst, von neuem in die Ausgangslage zurückgeworfen. Gerade wenn in einer Gruppenzusammensetzung die Aktiv- und Passivrollen ausgeglichener geworden sind, muß sie sich auflösen. In der neuen Zusammensetzung findet sich das alte Gefälle von Erfahrenen und Unerfahrenen wieder, mit dem Unterschied, daß jetzt ehemals eher passive selbst Aktivrollen einnehmen. Nur so kann eine politische Bewegung sich verbreitern, können Erfahrungen vermittelt und pro zeßbestimmende Personen ersetzbar werden. Nur so könnte eine politische Bewegung organisiert wachsen.
Ohne Herleitung habe ich jetzt angefangen, von „PädagogInnen“ zu reden. Auch hier stellt sich das Problem, daß der Begriff negativ besetzt ist. Gemeint ist, wie schon gesagt, die Person, die die Rolle des/der Systematisierenden in einem Lernprozeß übernimmt. Diese Aufgabe kann natürlich wechseln, oft in minutenschnelle. So kann in Diskussionen jede und jeder systematisierend/organisierend eingreifen. Trotzdem liegt auf der Hand, daß wie bei allen Arbeitsaufgaben einzelne die Vorbereitung und Organisierung übernehmen, d.h. sich auch stärker verantwortlich begreifen (mit Ausnahme von den erwähnten aufeinander eingespielten Kollektiven). Diese Verantwortlichkeit in einem Lemprozeß, der langfristig ist, muß reflektiert werden. Vor allem müssen solche „Organisierenden“ Teil des Lernprozesses bleiben. Es gibt Aspekte von Wirklichkeit, die andere ins Gespräch bringen und einem unbekannt sind, es gibt soziale Erfahrungen in der Gruppe, die man so noch nie erlebt hat, und es gibt Kritik an einem selbst, die einen verändert. Deswegen sind alle Beteiligten eines Seminars, eines Selbstschulungskollektivs oder einer politischen Gruppe immer sowohl Lernende als auch Vermittelnde. JedeR gibt Kenntnisse an andere weitere, jedeR erfährt etwas und das wesentlichste ist die gemeinsame Verarbeitung des Zusammengetragenen. Auch wenn sich ein Thema wiederhat, ist diese Verarbeitung nie die gleiche, weil ja auch nicht immer die gleichen Erfahrungen zusammengetragen werden.
Die Festschreibung von LehrerInnen- und SchülerInnen-Rollen, von Aktiven und Passiven ist nur dann möglich, wenn man den allgemein verbreiteten Begriff von Lernen verwendet: daß nämlich nur das Wissen im engsten Sinne, das theoretisch-wissenschaftlich erworbene Wissen, Bildung ist. Wenn dagegen jede soziale Erfahrung als Bildung anerkannt wird, dann muß jeder Lernprozeß alle Beteiligten in die Doppelrolle von LehrerInnen und SchülerInnen bringen. Die Verantwortung tragenden Personen, die ich PädagogInnen genannt haben, erfüllen nur noch eine „formale“ Funktion. Sie bereiten den Rahmen vor, in dem sich der gemeinsame Prozeß abspielen kann. Oder wie es bei dem brasilianischen Theoretiker der „Befreiungspädagogik“ Paolo Freire heißt:
„Im Bankiers-Konzept der Erziehung ist Erkenntnis eine Gabe, die von denen, die sich selbst als Wissende betrachten, an die ausgeteilt wird, die sie als solche betrachten, die nichts wissen. Wo man anderen aber absolute Unwissenheit anlastet – charakteristisch für die Ideologie der Unterdrückung – leugnet man, daß Erziehung und Erkenntnis Forschungsprozesse sind. Der Lehrer zeigt sich seinen Schülern als notwendiger Gegensatz. Indem er ihre Unwissenheit für absolut hält, rechtfertigt er sein Dasein.“
Die ganze Auseinandersetzung um Lernprozesse wäre relativ überflüssig, wenn wir nicht den Anspruch hätten, mehr zu werden. Entscheidend für ein Projekt der Umwälzung ist, ob wir als Militante in der Lage sind, neue Leute zu gewinnen und einzubinden. Auch das ist bereits angedeutet worden, und das Konzept FelS als offene Gruppe aufzubauen, geht darauf zurück. Eine solche Offenheit eines politischen Projekts erfordert von den Militanten verschiedene Eigenschaften: als erstes natürlich das menschliche Zugehen auf andere Leute. Niemand kommt nur deswegen in eine Gruppe, weil er/sie deren Statut richtig findet. Organisierung, egal ob im Sportverein oder in der revolutionären Organisation, hat immer zuerst mit gegenseitiger Sympathie zu tun. Die kann man nun nicht heucheln und auch nicht wie der Waschmaschinenverkäufer im Work-Shop lernen. Aber es ist natürlich ein Unterschied, ob eine Gruppe gelangweilt das vereinbarte Programm runterrasselt, oder ob man auf andere, neu dazukommende zugeht, ihnen erzählt, was man macht, fragt, zuhören kann. Als allererstes für eine andere Gesellschaft müssen wir versuchen, das weitverbreitete Desinteresse an allem außer sich selbst aufzugeben. Nicht weil das die Eigenschaft eines „guten Kaders“ und „notwendig im Kampf“ wäre, sondern weil es menschlich ist, denn die Kollektivität letztendlich ist ein Bedürfnis von uns allen, wie tief sie im Moment auch verschüttet sein mag. Jetzt sind wir allerdings auch kein Kegelverein, sondern eine Bewegung, die sich in der Konfrontation befindet mit einem Gegner. (Das merkt man im Augenblick zwar erst ansatzweise, aber das könnte sich ändern). FelS ist schon öfter kritisiert worden, als eine Gruppe, die der Repression Tür und Tor öffnet. Der Vorwurf ist relativ lächerlich, wenn man bedenkt, daß es in revolutionären Bewegungen anderer Länder unter härteren Bedingungen offene Organisationen gibt. Offenheit muß nie treudoofes Vertrauen bedeuten. Entscheidend ist die verschiedenen Ebenen auseinanderzuhalten, also zu definieren welche Positionen öffentlich sind und welche es nicht sein können. Letztendlich schließen sich offene und klandestine Konzepte nicht aus, sie brauchen sich gegenseitig. Wichtig ist, daß der Kontakt in einer politischen Gruppe so sein muß, daß die Lebens-, Familien-, und Wohnverhältnisse nicht außen vor bleiben. Bei jeder/m Neuen muß natürlich auch ein Einblick ins Private stattfinden. Gerade bei offenen Gruppen muß der Blick aufeinander sehr genau sein. Und schließlich bedeutet die Offenheit von Gruppen auch ihre innere Unterschiedlichkeit. Fels besteht heute, obwohl wir nicht gerade viele sind, aus verschieden Ebenen. Es gibt Seminare, die politisches Grundwissen vermitteln und solche, die eine tiefergehende Diskussion erreichen wollen. Es gibt Treffen, für neue, politisch unerfahrene Leute, die ziemlich unkontinuierlich kommen wollen, und es gibt das Plenum, in dem die politische Arbeit weitgehend stringent geplant wird. Auch wenn man wirklich nicht behaupten kann, daß Fels bisher ein ausgesprochen erfolgreicher Ansatz gewesen ist, zumindest nicht was seine Größe betrifft, finde ich diese Aufteilung an sich sinnvoll. Es muß in der Linken lockerere und festere Organisierungsformen (die alte Unterscheidung von Massen- und Kaderpartei) geben, die nebeneinander Bestand haben und ineinander verknüpft sind. Was es nicht geben darf, ist die hierarchische Unterordnung des lockereren Rahmens unter den Zirkel der verschworenen Politcracks (der Massenorganisation unter die Kaderpartei).
Zuguterletzt muß ein Bildungs- und Selbstschulungsprogramm natürlich auch politisch-theoretisches Wissen beinhalten. Wichtig auch hier ist, daß nicht einfach von objektiver Wissenschaft ausgegangen wird, die es anzueignen gilt, sondern die eigene Motivation geklärt wird. Unsere lateinamerikanische Genossin (s.o.) meinte sinngemäß auf dem Fels-Seminar zur Pädagogik: „Am Anfang steht bei uns immer das Kennenlernen und Vertrauenschöpfen und dann die individuelle, subjektive Annäherung an ein Thema. Egal ob wir ein Seminar mit Intellektuellen oder mit Bäuerinnen machen.“ Nicht die Frage an sich muß geklärt werden, sondern die Frage aus der subjektiven Sicht der Teilnehmerinnen. Für jede Aufnahmefähigkeit ist es immer wichtig, zu wissen, was hat das mit mir zu tun. Über Ökonomie, Geschichte, Politik läßt sich sinnvoll nur dann reden, wenn die Frage von den eigenen Erfahrungen ausgeht. Also nicht „wie funktioniert das Wertgesetz?“, sondern „warum fühle ich mich nach der Arbeit so leer, warum kotzen mich diese Politiker an?“ Deswegen finde ich es auch (zumindest im Augenblick) problematisch zu definieren, was an politisch-geschichtlich-ökonomischem Wissen für uns linke Militante unverzichtbar ist. Die Themenwahl muß von den Bedürfnissen und Erfahrungen der sich zum Lernen Zusammensetzenden ausgehen (d.h. nicht daß diese dann beliebig sind und sich keine allgemeinen Ziele nennen ließen). Vielleicht würde es in einem Rahmen einer besser organisierten Linken auch einmal ganz reizvoll sein, Bildungsprogramme zu entwerfen, so nach dem Muster einer revolutionären Organisationsschule. Aber bis dahin dürfte ja wohl noch einige Zeit verstreichen, und zumindest heute bei der allgemeinen Despolitisierung muß die subjektive Seite Ausgangspunkt sein.