Ludwig Lugmeier
Wo der Hund begraben ist
Roman, Stroemfeld/Roter Stern-Basel/Frankfurt a. M.
1992, 272 Seiten
In knapper Darstellung sind das die Fakten, die jedem bürgerlichen Sensationsreporter den Speichel in die Mundwinkel treiben, und vielen Autoren Stoff liefern würden für marktfüllende Thriller. Lugmeier hat einen Roman geschrieben. Besser gesagt, er hat uns einen vorgezeigt, der seinen besten im Knast und danach geschriebenen Gedichten um nichts nachsteht. Wieviele Romane er geschrieben oder erdacht hat, weiß er allein. Wie sehr die Isolationsfolter, der er jahrelang ausgesetzt war, zum Denken oder Schreiben inspiriert, bleibt unserer Fantasie überlassen. Als rebellierender Gefangener wurde Lugmeier durch mehere ,,Vollzugsanstalten“ der BRD geschleppt. Die enge Freundschaft mit RAF-Gefangenen gab vielleicht seiner Rebellion eine Richtung. Näheres über sein praktisches Engagement besonders für schwer mißhandelte ausländische Mitgefangene wird uns die nach den Einzelheiten seiner Biographie gierende Journallie von SPIEGEL bis FAZ verschweigen, ist ihr doch schon die Wahl der Thematik für seinen Roman unverständlich bis suspekt. Anstatt den Lesern einen durch die Kunst im Knast geläuterten Schwerverbrecher zu präsentieren, erzählt Lugmeier von einem Dutzendtyp, einem der Verlierer, die dieses System so dringend zum Überleben braucht. Die Subversivität dieses „Helden“ liegt nicht in seiner Rebellion gegen irgendwelche Lebensumstände, sondern in einer schier unglaublichen Art, die Schrecken der Zeit zu ertragen, einer Art, die Millionen von lebenslangen Verlierern nicht nur zum Wiedererkennen herausfordert, sondern ihnen auch die Abgründe der Knechtsseele als Spiegel vors Gesicht hält.
„Ein Mensch ist die Summe seiner Mißgeschicke. Man sollte meinen, eines Tages bekommt das Mißgeschick es satt. Aber dann ist die Zeit dein Mißgeschick.“
Dieser Satz aus William Faulkners „Schall und Wahn“ ist das eigentliche Thema des Romans „Wo der Hund begraben liegt“ von Ludwig Lugmeier. Bonifaz, ein bayrischer Knecht, Halbwaise und Kriegskrüppel, krückt durch den engumrissenen Raum bundesdeutscher Provinz. Die Orte der Handlung zeigt eine Karte auf dem Schutzumschlag des Buches, nicht zufällig, wie sich zeigen wird. Denn einzig Orte sind konkret. Lugmeier macht das deutlich. Kameramann und Beleuchter in einem, mißt er sie aus mit schier unbestechlichem Blick, dem er trotzdem mißtraut. Sein Mut auch zum scheinbar nebensächlichen Detail dehnt die Zeit, wie es der Film eigentlich sonst nur tut, in einer Angst vor dem Lauf der Dinge, eines Laufs, der das Verschwinden der Dinge möglicherweise miteinschließt. Der Autor weiß um die Vergeblichkeit des Festhaltens an den Dingen-so-wie-sie-sind. Er weiß mehr als sein Held, von dem gesagt wird:
„Was ist er schon? Nichts. Von der Marie der Bankert, von wem, das mag wissen, wer will. Der Pfarrer vielleicht. Dem ist sie die Tür eingelaufen ihrerzeit. Dann ist sie jeden Tag ein paarmal von der siebten Stufe der Treppe runtergehupft.“ Oder anderswo: „Der Bauer bin ich, sagt der Bauer. Olga ist für dich immernoch wer. Das merkst dir. Dann kommt lang nichts. Dann kommt die Marie. Die ist Magd. Dann kommt wieder lang nichts. Und dann erst du.“
Die schreckliche Folgerichtigkeit brauner Ideologie in bayrischen Dörfern, ausgelotet bis in den Gestus der Figuren; die schleichende Normalität eines Krieges, auf den alles hinauslief; das Heraufkriechen des Adenauerstaats wie Phönix aus der Scheiße: Lugmeier lädt die Ereignisse seinem Helden auf die zerbrechlichen Knochen, läßt Sie bersten unter dem Druck angestauter Zukunft, die so nicht kommen will und kann. Der störrische Widerwille des Autors, die Handlung nach vorn hin fließen zu lassen, pflanzt sich fort bis in die Silben, staucht die Sätze wie die Worte zu schreienden Kümmerlingen, die nicht Schöpfung des Autors allein sind. Der gesprochene Dialekt selbst, der vor jeder geschriebenen Literatur ist, hat sie geschaffen. Lugmeier hat zugehört. Diese Satzfetzen erinnern an die beinahe tierischen Schmerzenslaute der ländlichen Geschöpfe eines Franz Xaver Kroetz, denen hier wie anderswo die Liebe des Autors zu ihnen wie seine verzweifelte Hoffnung in sie erst ihr Menschsein einhaucht. Bei Bonifaz geschieht das im tobenden Wahnsinn, dem letzten Fluchtpunkt dieser gebeutelten Kreatur. Davor liegen alle Lügen. Zum Beispiel die vom Desertieren aus der Wehrmacht, die zur Voraussetzung einer kurzen KPD-Mitgliedschaft wird. Aber auch das ist auf Sand gebaut:
„Da sind immer die Augen. Die beobachten ihn. Die warten. Die wollen wissen, wann es ihm das Bein abgerissen hat, 1941 oder 42? Und wie das war mit dem Noak und ihm? Und warum der Noak abgehaun ist als die Gegenoffensive angefangen hatte? Und was das für ein Dorf war, das sie angezündet haben? Und was das für Leute waren, die geschrien haben? Das wollen sie wissen, die Augen. Darum schaun sie ihn an.“
Dort wo Lugmeier konsequent bleibt, immer wieder vor dem Weiterverfolgen einer genau beschriebenen Handlung zurückweicht in deren Herkunft, hat der Roman seine Höhepunkte. Erst das Aufgeben dieser Vorgehensweise treibt den jetzt wie von selbst sich abspulenden Stoff der Katastrophe zu, die in ihrer anrührenden Harmlosigkeit verblaßt vor den aktuellen Katastrophen, die jeder Beschreibung spotten und zu deren Geschichte dieser Roman einiges zu sagen hat.