Das Polikliniksyndikat

Das Polikliniksyndikat ist ein Zusammenschluss des Gesundheitskollektivs Berlin, der Poliklinik Hamburg Veddel, der Poliklinik Solidarisches Gesundheitszentrum Leipzig und des Gesundheitskollektivs aus Dresden. Ziel des Zusammenschlusses ist es, den «Aufbau von solidarischen Alternativen» zur herrschenden Gesundheitspolitik auch auf Bundesebene zu thematisieren. Solimed Köln strebt die Mitgliedschaft beim Polikliniksyndikat an.

Gesundheits-AG: ¿Aus welchen Gründen habt ihr euer Projekt begonnen?

Solimed Köln: Wir haben uns aus der Motivation heraus gegründet, ein solidarisches Stadtteil-Gesundheitszentrum aufzubauen. Wir sind etwa zehn Menschen, die sich seit Anfang 2019 als Gruppe treffen und strukturieren. Ob Menschen gesund oder krank sind, hängt nicht nur von ihrem individuellen Verhalten und ihrem körperlichen Zustand ab, sondern auch von den gesellschaftlichen und sozialen Verhältnissen, in denen sie leben. Als Projekt, das sich auf die Gesundheit von Menschen bezieht, wollen wir solche sozialen Determinanten mitdenken und verändern. Unser Ziel ist es, ein Zentrum zu gründen, in dem neben medizinischer und psychosozialer Versorgung und Beratung gesellschaftspolitische Ebenen von Gesundheit mit einbezogen werden.

Gesundheitskollektiv Berlin: Wir arbeiten seit sechs Jahren als eine Gruppe mit circa 30 Menschen auf ein Stadtteil- und Gesundheitszentrum hin, das inzwischen in der Bauphase ist und 2021 endlich Realität wird. Ausgangspunkt waren Erfahrungen des Medibüro Hamburg. Zudem haben uns kollektive Versuche in der Vergangenheit, Gesundheitsversorgung anders zu organisieren und Gesundheit gesellschaftlich zu denken, genauso inspiriert wie Besuche in ähnlichen Projekten, wie etwa bei den Solikliniken in Griechenland oder bei den Community Health Centers in Kanada und Belgien.

Seit unserem Bestehen ist unser Projekt von der Frage motiviert, wie eine gute Gesundheitsversorgung für alle Menschen aussehen kann und welche gesellschaftlichen Bedingungen sich dafür verändern müssen. Und da sehen wir es ähnlich wie unsere Freund*innen von Solimed: Public Health Studien belegen schon seit langem, dass die Lebens- und Arbeitsverhältnisse, in denen wir uns befinden, wesentlich entscheidend sind für den langfristigen Gesundheitszustand – auch wesentlich entscheidender als der individuelle Lebensstil. Im bestehenden ökonomisierten und profitorientierten Versorgungssystem wird dies aber nicht berücksichtigt!

Poliklinik Hamburg-Veddel: Das Stadtteilgesundheitszentrum Poliklinik Veddel, so wie es seit knapp vier Jahren besteht, geht auf das Medibüro Hamburg und auf eine langjährige Auseinandersetzung mit den Konzepten der WHO, der Commission on Social Determinants of Health, dem Primary Health Care Ansatz und den Empfehlungen der Ottawa Charta zurück. Wichtig waren außerdem die Auseinandersetzungen mit der Ecosocial Theory Nancy Kriegers und der Forschung der Lateinamerikanischen Sozialepidemiologie, welche stark von Antonio Gramsci und Paolo Frere beeinflusst ist.

¿Ihr möchtet also mehr als eine klassische ambulante Praxis sein. Wie genau wollt ihr Angebote, die über eine reine gesundheitliche Behandlung hinausgehen, in eure Ansätze integrieren?

Berlin: Wir führen seit mehreren Jahren bereits mobile Beratungsangebote zu Themen durch, die von bestehenden Zusammenhängen (zum Beispiel Elterngruppen, Moscheen oder Frauentreffs) an uns herangetragen werden. Da geht es dann um Rückenschmerzen, Pubertät, seelische Gesundheit oder Erste-Hilfe-Kurse für Eltern. In unserer bereits bestehenden kinder- und jugendmedizinischen Praxis, die dann später ins Zentrum mit einziehen wird, gibt es bereits eine eigens eingerichtete Stelle, die für Familien mit besonderen Bedarfen eine Sozialberatung bzw. Familienbegleitung durchführt. Sie erfüllt eine Art Lotsen­funktion hin zu bestehenden Angeboten und baut Zugangshürden ab. Diese direkte Verzahnung ist in der bestehenden ambulanten Versorgungslandschaft ziemlich einzigartig. Später soll es dann viele Möglichkeiten geben, über den primärmedizinischen Behandlungsaspekt hinauszugehen: Neben einem Café im Erdgeschoss wird es Räume für Sozialberatung und Gruppenräume geben, die von Selbsthilfegruppen oder Nachbarschaftsinitiativen genutzt werden können.

«Wir wollen multiprofessionell arbeiten, also mit Medizin, Psychologie, Pflege, Naturheilkunde, juristischer und sozialer Arbeit. Dazu wollen wir uns vernetzen mit Expert*innen, Aktivist*innen, Stadtteilbewohner*innen und anderen politischen Gruppen.»

Köln: In Köln haben wir ähnliche Ideen: Wir wollen multiprofessionell arbeiten, also mit Medizin, Psychologie, Pflege, Naturheilkunde, juristischer und sozialer Arbeit. Dazu wollen wir uns vernetzen mit Expert*innen, Aktivist*innen, Stadtteilbewohner*innen und anderen politischen Gruppen. Dabei stellen wir uns neben der medizinischen Versorgung Veranstaltungen, Gruppenangebote und Bildungsarbeit vor. Es soll aber auch Raum für Selbstorganisation und für das Zusammenkommen verschiedener Akteur*innen geben.

Wir wollen aber nicht den Menschen des Stadtteils von außen unsere guten Ideen aufdrängen. Die konkrete Umsetzung unserer Angebote kann also nicht unbedingt im Vorhinein genau geplant werden, sondern muss sich im Prozess und Austausch mit den Menschen, die uns aufsuchen, entwickeln. Es müssen Ideen ausprobiert, hinterfragt und verändert werden.

¿Apropos Stadtteile: In welchen Stadtteilen baut ihr eure Gesundheitskollektive auf? Seht ihr euch dabei eher als ‹Lückenfüller› in einem unterversorgten Gebiet? Oder seht ihr noch ein anderes Potenzial mit eurem Projekt?

Berlin: Wir haben eine Sozialraumanalyse für den Rollberg- und Flughafenkiez in Neukölln durchgeführt, in der wir die soziale Lage, die gesundheitliche Situation der Anwohner*innen sowie die Angebots- und Versorgungslandschaft im Kiez gemeinsam mit Akteur*innen aus dem Stadtteil beleuchtet haben.

Neukölln ist ein Stadtteil mit einer hohen Erwerbslosigkeit. Die Einkommensarmut ist fast viermal so hoch wie in ganz Berlin. Mehr als 60 Prozent der Kinder wachsen in Familien auf, in denen mindestens ein Elternteil Leistungen nach SGB II bezieht. Der für ganz Deutschland bestehende Unterschied in der Lebenserwartung von acht bis elf Jahren zwischen den Ärmsten und den Reichsten spiegelt sich auch in Berlin wider – in Neukölln zeigt sich dies konkret in der vorzeitigen Sterblichkeit und Erkrankungsrate gegenüber beispielsweise dem wohlhabenderen Bezirk Zehlendorf. Hinzu kommen weitere Faktoren wie steigende Mieten, Verdrängung und Angst vor Wohnungsverlust oder auch Rassismuserfahrungen, die sich konkret auf die Lebensqualität der Menschen auswirken. Zugleich ist das Angebot primärmedizinischer Versorgung mit einer geringen Hausärzt*innen- und Kinderärzt*innen-Dichte im landesweiten Vergleich schlecht.

«Es braucht ein anderes, ein bio-psycho-soziales Verständnis von Gesundheit, das die Lebensverhältnisse mit einbezieht. Es soll ein Raum entstehen, in dem Gesundheit nicht wie gewohnt als höchst individuelles Thema verhandelt wird.»

Wenn der größte Einflussfaktor auf die Gesundheit die sozialen Bedingungen sind, unter denen wir leben, reicht es nicht aus, hier Versorgungslücken zu füllen. Es braucht ein anderes, ein bio-psycho-soziales Verständnis von Gesundheit, das die Lebensverhältnisse mit einbezieht. Es soll ein Raum entstehen, in dem Gesundheit nicht wie gewohnt als höchst individuelles Thema verhandelt wird. Wenn die Lebensverhältnisse im Kiez (steigende Mieten, Schimmel, Lärm oder Stress mit dem Jobcenter) unsere Gesundheit zu einem großen Teil mitbestimmen, gibt es einen Zusammenhang zwischen meiner Gesundheit und der meiner Nachbar*innen. Es können Verbindungen entstehen zwischen den Menschen, die unser Zentrum aufsuchen oder dort arbeiten und im besten Fall verändern wir gemeinsam die Verhältnisse, die uns krank machen.

Hamburg-Veddel: Wir verstehen uns als reale Utopien bzw. Laboratorien, in denen neue Formen der Versorgung und Zusammenarbeit ausprobiert werden. Dabei geht es auch um die Schaffung einer gesellschaftlichen Macht außerhalb herkömmlicher Institutionen als Basis für eine gesellschaftliche Transformation. Nach 30 Jahren Neoliberalismus und Individualisierung braucht es neue Orte des Gemeinsamen.

Gerade in Zeiten der gesellschaftlichen Polarisierung, in Zeiten eines Rechtsrucks und einer erstarkenden AfD brauchen wir eine Revitalisierung des Solidargedankens. Wir brauchen neue soziale Infrastrukturprojekte, wie zum Beispiel Stadtteilgesundheitszentren und andere lokale Ansätze, welche die Vorstellungskraft der Menschen für eine solidarischere Gesellschaft und ein solidarischeres Miteinander freisetzen.

¿Bei allen Projekten mit mehr oder weniger großen Zielen merkt man ja oft: Aller Anfang ist schwer. Wie verlief bislang der Gründungsprozess? Welche Hürden und welche Differenzen sind in eurem Projekt aufgetreten?

Köln: Wir merken, dass der Gründungsprozess viel Zeit braucht. Auf der einen Seite ist da eine Gruppe von Menschen, die sich vorher wenig kannte und noch nicht politisch zusammengearbeitet hat. Da ist das Bedürfnis nach Kennenlernen, Gruppenprozess und inhaltlicher Einarbeitung groß. Außerdem sind die meisten im Alltag sehr eingebunden in Beruf, Ausbildung oder andere politische Aktivitäten. Auf der anderen Seite wollen wir schnell aktiv werden und Ideen umsetzen.

Es sind also viele Fragen zu diskutieren: Wo liegt der Fokus unserer politischen Arbeit? Wer ist eigentlich die Zielgruppe? Wie schnell wollen wir auf den konkreten Ort, das Stadtteil-Gesundheitszentrum, hinarbeiten? Diese Fragen sehen wir aber nicht unbedingt als Hürden, sondern eher als Teil des Prozesses.

Berlin: Wir sind schon einen kleinen Schritt weiter. Auf dem Weg von der kleinen Anfangsgruppe mit fünf bis sieben Menschen zum heutigen Verein mit fünf Angestellten, einem Bauvorhaben und zwei Kassensitzen sind wir auf so einige Hürden gestoßen. Diese brachten uns letztlich dazu, unsere ursprüngliche Vision neu zu justieren. Wir mussten etwa feststellen, dass es aus rechtlichen Gründen entweder nur Ärzt*innen oder Physiotherapeut*innen unter einem Träger geben kann. Wir entschieden uns für die ärztliche Praxis. Um einen Teil der erforderlichen Arbeit im Gesundheitskollektiv auch durch bezahlte Stellen abzudecken, brauchten wir Gelder und entschieden uns nach langer Diskussion dafür, uns von der Robert-Bosch-Stiftung fördern zu lassen. Aktuell bekommen wir zudem Gelder vom Berliner Senat – da stellt sich natürlich immer die Frage, wer wen vor seinen Karren spannt.

«An die Schaffung von entlohnter Arbeit im Kollektiv knüpfen sich dann natürlich viele weitere Fragen. Wie werden wir ein*e gute*r Arbeitgeber*in? Wer ist eigentlich die Arbeitgeber*in in einem Kollektiv und trifft damit Entscheidungen über Gehälter und Entfristungen? Wer gehört zum Kollektiv?»

An die Schaffung von entlohnter Arbeit im Kollektiv knüpfen sich dann natürlich viele weitere Fragen. Wie werden wir ein*e gute*r Arbeitgeber*in? Wer ist eigentlich die Arbeitgeber*in in einem Kollektiv und trifft damit Entscheidungen über Gehälter und Entfristungen? Wer gehört zum Kollektiv? Entscheiden alle, die gerade zufällig auf dem Plenum sind? Ein weiteres großes Thema, an dem wir schon lange diskutieren, ist die Lohndebatte. Wie wollen wir uns bezahlen? Einheitslohn? Nach Bedarf? Was sind ‹gültige› Bedarfe neben den klassischerweise angebrachten Kriterien wie Kindern und zu versorgende Menschen? Zahlen wir mehr für die Übernahme von Verantwortung? Sind Ehrenamt/Aktivismus nicht eigentlich auch unbezahlte Überstunden? Arbeiten Menschen bei uns, wenn sie sonst das Zwei- bis Dreifache verdienen könnten?

Die Beantwortung und Auseinandersetzung mit diesen Fragen kostet viel Zeit, Energie und professionelle Begleitung und muss als Prozess verstanden werden, in dem wir uns einer Vision nähern. Bis dahin stolpern wir immer wieder über die Kluft zwischen dem Anspruch, ein*e gute*r Arbeitgeber*in zu sein und der tatsächlichen Schaffung von nicht prekären Arbeitsbedingungen.

¿Gibt es aktuelle oder historische Beispiele aus der Gesundheitsbewegung, auf die ihr zurückgreifen könnt?

Hamburg-Veddel: Wichtig ist zu nennen, dass Deutschland bis in die 1990er Jahre mit den Polikliniken im Osten ein bedarfsorientiertes und interdisziplinäres Versorgungssystem besaß, welches im Zuge des Anschlusses der DDR an die BRD, vor allem auf Drängen der Westdeutschen Standesvertretungen der Ärzt*innen abgewickelt wurde. Hier wurde die Möglichkeit versäumt, an ein bereits vergesellschaftetes ambulantes Versorgungssystem anzuknüpfen und es mit direktdemokratischen und präventiven Elementen weiterzuentwickeln.

Wenn man Gesundheit weiter fasst, dann sind weitere wichtige historische Bezugspunkte jenseits der primären Gesundheitsversorgung die Arbeiter*innenclubs in den Anfängen der Sowjetunion, die Sozialrechtsbüros und Nachbarschaftskliniken der Black Panther, die Solidarischen Kliniken des griechischen Aufstandes und nicht zuletzt die Centros in Spanien. Sie waren alle Orte emanzipatorischer Wissensbildung und Ausgangspunkt für Kämpfe um ein besseres Leben. Ein aktueller Bezugspunkt ist die Community Health Care Center Bewegung in Kanada, welche der deutschen Poliklinik-Bewegung 20 bis 30 Jahre voraus ist. Sie hat ihre Wurzeln in der kanadischen Bürgerrechtsbewegung und migrantischer Selbstorganisierung. Heute ist diese Vorreiterin einer multiprofessionellen, häufig mehrsprachigen, communitynahen Infrastruktur, die ihr emanzipatorisches Potenzial trotz Integration in ein staatliches Gesundheitssystem aufrechterhalten konnte.

¿Seit den späten 1960er Jahren gibt es im ambulanten Bereich immer wieder das Bemühen, ‹kollektive› und ‹übergreifende› medizinische Einrichtungen zu schaffen. Vor allem aus wettbewerbsrechtlichen Gründen wird dies behindert. Gemeinschaftspraxen oder Medizinische Versorgungszentren (MVZ) sind hier fast die einzig mögliche Rechtsform. Wie versucht ihr gegen die strukturellen Hürden vorzugehen beziehungsweise diese zu umgehen?

Berlin: Die Schaffung von interdisziplinären und kollektiv strukturierten Formen in der sozialmedizinischen ambulanten Versorgungslandschaft wird leider von diversen bestehenden Paragraphen der Sozialgesetzgebung torpediert. Ein MVZ kann nach aktueller Gesetzeslage nur von zugelassenen Ärzt*innen, Krankenhäusern sowie Anbietern von Dialyseleistungen gegründet werden. Dass die ambulante Gesundheitsversorgung nach der Logik eines konkurrierenden Gesundheitsmarktes strukturiert ist, zeigt sich zum Beispiel auch am Zuweisungsverbot zwischen Ärzt*innen und Heilmittelerbringer*innen. Hierdurch können wir nicht unter einem Dach etwa Physiotherapeut*innen und Allgemeinmediziner*innen zusammenarbeiten lassen, die gemeinsam Patient*innen betreuen.

Aus der Frage der Rechtsform im bestehenden System ergeben sich unterschiedliche Gebundenheiten und Verantwortlichkeiten, über die auch in der Vergangenheit kollektive Ansätze der Gesundheitsbewegung gestolpert sind. Gesellschafter*innen im MVZ dürfen rechtlich eben nur Psychotherapeut*innen oder Ärzt*innen sein, Medizinische Fachangestellte (MFA) oder Sozialarbeiter*innen nicht. Das Aufbrechen von Hierarchien wird damit nicht vereinfacht. Der/die Ärzt*in als Einzelunternehmer*in oder GmbH-Gesellschafter*in auf einem Gesundheitsmarkt ist die Form, wie ambulante Versorgung rechtlich vorstrukturiert ist. Hier muss es darum gehen, diversere und demokratische Strukturen zu schaffen und zum Beispiel gemeinnützigen Vereinen die Möglichkeit zu geben, ein MVZ zu gründen.

Modelle, an die sich hier anschließen lassen könnte, bestehen etwa in Form von sozialpädiatrischen Zentren. Diese SPZs sind Versorgungsstrukturen für Kinder und Jugendliche mit komplexem Behandlungsbedarf. Hier wird interdisziplinär in Teams aus Therapeut*innen, Ärzt*innen und Heilmittelerbringer*innen gearbeitet und über feste Quartalspauschalen pro Patient*in abgerechnet. Ähnliche Modelle könnten auf Stadtteilebene gedacht werden, um eine interdisziplinäre Versorgung für komplex chronisch erkrankte Menschen zu schaffen, die eben auch das soziale Umfeld mit einbezieht.

Hamburg-Veddel: In den letzten Jahren lässt sich, auch auf Grund eines veralteten, erstarrten und auf Ärzt*innen fokussierten ambulanten Gesundheitssystems, ein verstärkter Eingriff der Gesundheitsbehörden in die Gesundheitsversorgung beobachten. Das heißt es gibt eine ganze Reihe an Fördermöglichkeiten und Innovationsgeldern. Der Erfolg der Poliklinikbewegung ist eng an die Frage geknüpft, ob es gelingt, die Ökonomisierung des ambulanten Sektors aufzuhalten und ein ganz im Sinne des ursprünglichen Solidargedankens funktionierendes kommunales und populations- und community-orientiertes Versorgungssystem aufzubauen. Längerfristiges Ziel muss die Etablierung der multiprofessionellen Gesundheitszentren als Einrichtungen des öffentlichen Rechts sein.

¿Was sind eure Wünsche für die Zukunft? Und was würdet ihr euch von politisch Aktiven als Unterstützung wünschen?

Köln: Natürlich wünschen wir uns grundsätzlich, in Köln ein solidarisches Stadtteil-Gesundheitszentrum umsetzen zu können. Wir wünschen uns aber auch, dass der Zusammenhang zwischen Gesundheit und sozialen Verhältnissen auch in aktivistischen Kreisen mehr Beachtung findet und das Potenzial gesehen wird, gesundheitliche Themen als gesellschaftliche Auseinandersetzungen angehen zu können.

Wir wollen statt vereinzelnder Ohnmachts- und Abhängigkeitserfahrungen im Gesundheitssystem kollektiv handlungsfähig sein. Wir wünschen uns, einen Beitrag zu einem freien und guten Zugang zu Gesundheit für alle zu leisten. Und wir hoffen, dass Veränderungen durch die Klimakrise und die politischen Verhältnisse überhaupt zulassen, dass unsere Ideen und Utopien noch Raum und Relevanz haben.

«Die Gefahr besteht, dass wir vor lauter konkreter Arbeit den Blick über den eigenen Tellerrand jenseits des Zentrums nicht mehr schaffen. Hier benötigen wir im Zweifel Kritik an unserer Vereinsmeierei, aber vor allem auch ein politisches Netzwerk, um in der konkreten Arbeit immer wieder die Frage nach gesellschaftlichen Zusammenhängen zu stellen und Möglichkeiten für gemeinsame Kämpfe anzugehen.»

Berlin: Wir wünschen uns einen Ort, an dem wir neue solidarische Verbindungen erproben können und Gesundheit als soziales Verhältnis erfahrbar wird. Real werden wir vor und nach der Zentrumseröffnung viele Stunden über vereins- und mietrechtliche Fragen, Planung von Angeboten zur Patient*innenversorgung, Datenschutz und Farbleitkonzepten, Türschildern oder Cafébetrieb brüten. Die Gefahr besteht, dass wir vor lauter konkreter Arbeit den Blick über den eigenen Tellerrand jenseits des Zentrums nicht mehr schaffen. Hier benötigen wir im Zweifel Kritik an unserer Vereinsmeierei, aber vor allem auch ein politisches Netzwerk, um in der konkreten Arbeit immer wieder die Frage nach gesellschaftlichen Zusammenhängen zu stellen und Möglichkeiten für gemeinsame Kämpfe anzugehen. Wir haben daher ein Polikliniksyndikat gegründet, um hier in gesundheits- und gesellschaftspolitischen Fragen Position beziehen zu können und an vielen Orten Polikliniken zu schaffen.

Hamburg Veddel: Wir brauchen in Deutschland eine stärkere Verbindung von lokaler progressiver Basisarbeit, welche an den Alltagsproblemen und dem Alltagsverstand der Menschen ansetzt, mit einer linken Bewegungspolitik, die eher eine gesamtgesellschaftlichen Perspektive und Intervention anstrebt.