Das Besondere sind vor allem die Forderungen, die sich nicht um eine höhere Entlohnung, sondern um mehr Personal drehen, womit direkt in die internen Betriebsabläufe eingegriffen wird. Indirekt wird damit auch das DRG-System angegriffen, da die Kosteneinsparung beim Personal einer der Haupthebel für die Krankenhäuser ist, Gewinne zu erzielen (siehe den Artikel zur Ökonomisierung im Gesundheitswesen im Heft). Nicht ohne Grund begann die Streikbewegung an den Unikliniken, die oft eigene tarifliche Regelungen haben. Den Start machte die Charité 2015. Aufgrund der Austeritätspolitik der vergangenen Jahre war die Klinik nicht Teil des Arbeitgeberverbands und besaß einen eigenen Haustarifvertrag mit zunächst deutlich geringeren Löhnen. Das ermöglichte es aber auch, unabhängig von den landesweiten Tarifbewegungen aktiv zu werden und mit neuen Kampfformen und Praktiken zu experimentieren. Ausgangspunkt war ein Streik 2011 für die Angleichung an den Flächentarifvertrag. Viele Streikende gaben damals kund, dass es ihnen vor allem um die besonders drückenden Arbeitsbedingungen ging, weshalb die Betriebsgruppe beschloss, 2015 in eine Auseinandersetzung für mehr Personal zu gehen.

Der erfolgreiche Ausgang dieses Streiks führte dazu, dass auch Betriebsgruppen an weiteren Krankenhäusern dem Berliner Beispiel folgen wollten. Im Saarland reichte bereits die Streikandrohung, um die Landespolitik kurz vor den Landtagswahlen 2017 zum Nachgeben zu bewegen. Es gab bei ver.di sogar Pläne für eine bundesweite Entlastungsbewegung kurz vor den Bundestagswahlen 2017. Allerdings stieß dies auch innerhalb der Gewerkschaft auf Widerstände. Ein Flächenbrand wurde befürchtet. Dann wurde aus der bundesweiten Bewegung für Entlastung eine Bewegung auf politischer, betrieblicher und tariflicher Ebene. Statt einem bundesweiten Tarifkampf wurden lediglich 20 Häuser nach nicht eindeutigen Kriterien ausgewählt. Ein schwacher Abklatsch, der viele Beschäftigte frustriert zurückließ, die, wie bei Vivantes in Berlin, eigentlich streikbereit waren, aber nicht unter die ausgewählten 20 kamen.

«Einen Durchbruch stellte der Streik an den Unikliniken in Essen und Düsseldorf dar, der sich im Sommer 2018 über mehrere Wochen hinzog und mit harten Bandagen ausgefochten wurde.»

Die Bewegung für Entlastung breitete sich jedoch regional weiter aus. Träger waren Betriebsgruppen und lokale Gewerkschaftssekretär*innen, die mit Hilfe von Organizer*innen Arbeitskämpfe für mehr Personal an einzelnen Krankenhäusern vorbereiteten und durchführten. Einen Durchbruch stellte der Streik an den Unikliniken in Essen und Düsseldorf dar, der sich im Sommer 2018 über mehrere Wochen hinzog und mit harten Bandagen ausgefochten wurde. Die erfolgreiche Durchführung des Arbeitskampfes und das große öffentliche Aufsehen, das er erzeugte, führte dazu, dass an anderen Kliniken, wie etwa in Augsburg, die Gegenseite schon nach ersten Warnstreiks schnell einlenkte. Auch in Jena reichte kurz vor den thüringischen Landtagswahlen 2019 bereits ein Warnstreik, damit die Landesregierung Druck auf die Klinikleitung ausübte und diese nachgab.

Insgesamt wurden auf diese Weise bis Ende 2019 an 14 Häusern Entlastungstarifverträge bzw. schuldrechtliche Vereinbarungen durchgesetzt. Zuletzt haben sich die Unikliniken in Schleswig-Holstein auf den Weg gemacht, wo die Mobilisierung jedoch aufgrund der Ausbreitung der Corona-Pandemie unterbrochen wurde.

Streik im Krankenhaus

Die Streikbewegung zeichnet sich durch eine besondere Kreativität in der Entwicklung neuer Kampf- und Organisationsformen aus. Um der üblichen Propaganda der Gegenseite zu begegnen, die behauptet, unter dem Streik würden vor allem die Patient*innen leiden, hat sich die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Bündnissen als sehr hilfreich erwiesen. Diese haben nicht nur bei der Mobilisierung der Beschäftigten geholfen, sondern organisierten auch die Solidarität der Patient*innen und machten sie sichtbar. Auf diese Weise konnte unter dem Motto «Nicht der Streik, sondern der Normalbetrieb gefährdet die Patient*innen!» auch die öffentliche Berichterstattung positiv im Sinne der Streikenden beeinflusst werden. Dennoch besteht das Dilemma, dass es sich bei der Arbeit im Krankenhaus vor allem um die Arbeit mit Menschen handelt und diese bei einer Arbeitseinstellung nicht gefährdet werden sollen. Daher wurde bereits während der Charité-Streiks das Instrument der Notdienstvereinbarung entwickelt. Das bedeutet, dass ver.di der Krankenhausleitung im Vorfeld erklärt, welche Stationen streikbereit sind und diese sich wiederum verpflichtet, die entsprechenden Betten für die Patientenaufnahme zu sperren. Nicht selten verweigerten die Krankenhausleitungen jedoch eine solche Vereinbarung und belegten die Stationen trotzdem mit Patient*innen. Daher stand teilweise zu Beginn der Streiks, wie bei der Charité 2017, eine Auseinandersetzung um die Anerkennung der Notdienstvereinbarung.

«Eine Prämie der Krankenhausleitung für Arbeitswillige haben die Beschäftigten für sich genutzt. Auf Stationen, die sie aus moralischen Gründen nicht schließen wollten, sind die eingeplanten Pflegekräfte in den Streik getreten und ihre Kolleg*innen sprangen dafür aus dem Frei für sie ein, sodass sie die Prämie kassieren konnten.»

Auch aus diesen Gründen waren es oft nur wenige hundert Pflegekräfte, die aktiv streikten, dennoch legten sie jedes Mal große Bereiche der Krankenhäuser lahm und verursachten hohe Einbußen. Das ist ein Symptom des akuten Personalmangels, aber auch das Ergebnis einer geschickten Streiktaktik. In Düsseldorf streikten die Beschäftigten in den Operationssälen und in der Anästhesie (Narkose) im Wechsel, um die Lohneinbußen für die Streikenden so gering wie möglich zu halten bei maximalem finanziellen Schaden für das Krankenhaus. Beides sind Schlüsselbereiche im Krankenhausbetrieb. Wenn nur einer davon ausfällt, können keine Operationen stattfinden und die Krankenhäuser folglich keine DRGs abrechnen. Eine Prämie der Krankenhausleitung für Arbeitswillige nutzten die Beschäftigten für sich. Auf Stationen, die sie aus moralischen Gründen nicht schließen wollten, traten die eingeplanten Pflegekräfte in den Streik und ihre Kolleg*innen sprangen dafür‹aus dem Frei› für sie ein, sodass sie die Prämie kassieren konnten. Auf diese Weise konnten die Streikenden mehrere Wochen durchhalten, ohne Ermüdungserscheinungen zu zeigen.

Die Organisation solcher Streiks mit Notdienstvereinbarung benötigt jedoch auch eine gute Verbindung der Streikleitung mit den Beschäftigten auf den Stationen. Ein sehr wichtiges Instrument war daher die Wahl von Teamdelegierten an vielen Krankenhäusern. Bereits 2015 wurden sie erstmals bei der Charité unter der Bezeichnung Tarifberater*innen aufgestellt. Dabei handelt es sich um Delegierte, die von den Beschäftigten auf den Stationen ernannt werden und die nicht notwendigerweise Gewerkschaftsmitglied sein müssen. Sie halfen nicht nur bei der Organisation der Streiks, sondern begleiteten auch die Tarifverhandlungen aktiv und entschieden mit. Es handelte sich also zugleich um eine Demokratisierung der Entscheidungsfindung während des Streiks. Zuletzt zeigte sich bei den Streikvorbereitungen in Jena, welches Potential in solchen Strukturen steckt. Die Delegierten trugen entscheidend zum Erfolg der Mobilisierung mit Mehrheits- und Fotopetitionen bei und waren an der Aufstellung der Forderungen beteiligt. Die Verhandlungen wurden von den Delegierten in einem anliegenden Hörsaal verfolgt und sie konnten immer wieder intervenieren, um die Behauptungen der Gegenseite zu widerlegen, was der Tarifkommission einen strategischen Vorteil verschaffte.

Bisher war es jedoch meist so, dass die Delegiertenstrukturen schnell wieder einschliefen, sobald der Streik vorbei war. In Jena gibt es nun den Versuch, sie zu verstetigen, da sie auch für die Umsetzung des Tarifvertrages benötigt werden.

Die Entlastungstarifverträge

Die Streikenden lernten nicht nur bei der Organisation der Auseinandersetzungen voneinander. Auch die vereinbarten Tarifvereinbarungen wurden beständig weiterentwickelt. Der erste Tarifvertrag an der Charité 2015 sieht eine verbindliche Personalbemessung anhand der PPR (Pflegepersonalregelung) vor. Dabei handelt es sich um eine Regelung aufgrund von Arbeitslaufzeitmessungen, die den einzelnen Arbeitsschritten Minutenwerte zuordnet und anhand derer der Personalaufwand für die stationäre Patient*innenversorgung festgelegt wird. Sie wurde 1993 eingeführt, aber nur wenige Jahre später als verbindliches Personalbemessungsinstrument wieder ausgesetzt, da sich herausstellte, dass eine sehr viel höhere Personalaufstockung nötig gewesen wäre, als man bereit war zuzugestehen. Es handelt sich hierbei faktisch um eine Re-Normierung der Arbeitsleistung, wie sie eigentlich für den Taylorismus charakteristisch ist. Die Hoffnung besteht darin, dass in Zeiten der indirekten Steuerung über die Erzeugung ökonomischer «Sachzwänge», in denen die Krankenhausleitungen die Autonomie der Beschäftigten und sogar ihre kollegialen, solidarischen Beziehungen zu nutzen verstehen, um den Betrieb trotz Personalnot am Laufen zu halten, die PPR von den Beschäftigten als Instrument zur Begrenzung der Arbeitsverdichtung genutzt werden kann. Der Widerspruch bleibt jedoch, dass eine solche technische Normierung den individuellen Bedürfnissen nur schwer gerecht wird, zumal die emotionalen Aspekte der Sorgearbeit, etwa Patient*innen auch mal zuzuhören oder die Hand zu halten, darin nur unzureichend berücksichtigt werden.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass der Tarifvertrag bei der Charité keinerlei konkrete Regelungen bezüglich der Konsequenzen bei Nichteinhaltung enthält, weshalb die realen Auswirkungen bis heute gering geblieben sind. Aus diesem Grund wurden in spätere Tarifverträge Klauseln für ein «Konsequenzenmanagement» aufgenommen. Sie reichen von Bettensperrungen, finanzieller Kompensation, wie in Düsseldorf und Essen, bis hin zu automatischem Belastungsausgleich in Form von zusätzlichen Freizeiten, sollten die Personalregelungen unterschritten werden, wie in Augsburg und Jena. In Jena entschieden sich die Beschäftigten außerdem gegen die PPR und stattdessen für die Festlegung eines Patienten-Personal-Verhältnisses für jede einzelne Station. Die Beschäftigten werden damit faktisch zu Kontrolleur*innen ihrer Arbeitsbedingungen, was aber auch ein entsprechendes Engagement über den Arbeitskampf hinaus erfordert. Ermöglicht werden soll dies durch die Delegiertenstruktur, die während der Mobilisierung aufgebaut wurde.

Die Pflegebewegung angesichts von Corona

Kurz vor dem Ausbruch der Corona-Krise erfolgte die Meldung, dass sich ver.di und die Deutsche Krankenhausgesellschaft auf eine Überarbeitung der PPR geeinigt haben, als Basis für ein zukünftiges bundesweites Gesetz. Auch die Herausnahme der Pflege aus den DRGs und die Einführung von Pflegepersonaluntergrenzen (siehe Artikel zur Ökonomisierung) können als Erfolge der Streikbewegung bewertet werden. Weitere Streiks waren in Vorbereitung, vor allem mit Blick auf das Wahljahr 2021. Die Ausbreitung der Pandemie hat zunächst aber vieles wieder in Frage gestellt. Selbst die völlig unzureichenden Pflegepersonaluntergrenzen wurden wieder außer Kraft gesetzt. Zugleich erhalten die Pflegekräfte ein großes Gewicht in der öffentlichen Debatte und auch die in den Streiks geschaffenen Strukturen blieben nicht untätig. Als Erstes reagierte der Koordinierungskreis der Teamdelegierten in Jena mit einem offenen Brief an die thüringische Landesregierung, gefolgt von den Betriebsgruppen bei Charité und Vivantes in Berlin, die sehr schnell innerhalb von einer Woche über 4500 Unterschriften an den Berliner Krankenhäusern zur Unterstützung ihrer Forderungen sammelten.

«Dass die Bundesregierung sogar in Corona-Zeiten nicht vorhat, daran etwas zu ändern, zeigt das von Gesundheitsminister Spahn erlassene Krankenhausentlastungsgesetz.»

Die Beschäftigten fordern vor allem bessere und ausreichend Schutzausrüstung, eine angemessene Risikozulage, aber auch ihre Aufnahme in die Krisenstäbe und letztlich ein Ende der Ökonomisierung, sprich des DRG-Systems. Dass die Bundesregierung sogar in Corona-Zeiten nicht vorhat, daran etwas zu ändern, zeigt das von Gesundheitsminister Spahn erlassene Krankenhausentlastungsgesetz. Statt Krankenhäuser kostendeckend zu vergüten, wird mit diesem Gesetz an einer Pauschalfinanzierung festgehalten, sodass es nach wie vor eine betriebswirtschaftliche Erwägung der Krankenhäuser bleibt, ob und wie sie sich im Kampf gegen Corona engagieren. In den Reaktionen auf dieses Gesetz wurde aber auch deutlich, dass das DRG-System öffentlich zunehmend unter Druck gerät. Zudem konnten die Beschäftigten von Vivantes und Charité dem Berliner Senat die Zusage abringen, bei der Gesundheitsminister*innenkonferenz am 30. September und 1. Oktober 2020 in Berlin die Abschaffung der DRGs zu beantragen. Zu diesem Zeitpunkt stehen auch Auseinandersetzungen um den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst an, bei denen laut ver.di die Krankenhäuser eine Schlüsselstellung einnehmen sollen. Bereits im Vorfeld soll es bundesweit eine Fotopetition an mehreren Häusern für die Personalforderungen und die Abschaffung der DRGs geben. Die Bewegung wurde durch Corona also keinesfalls aufgehalten, sondern nimmt gerade wieder an Fahrt auf.

Sie kann nun auch auf eine größere Sensibilität in der Öffentlichkeit setzen.