Dies änderte sich spätestens mit der Frage, ob das inzwischen marktgerecht ‹optimierte› Gesundheitssystem genug schwerkranke Corona-Patient*innen überhaupt werde versorgen können, und mit der schnell realisierten Erkenntnis, dass gut gemeintes Klatschen die Arbeitsbedingungen in der Pflege kaum verbessern wird. Schön, dass wir nun die Gelegenheit haben, mit einer arranca!­-Ausgabe die bestehende Praxis reflektieren und das gestiegene Interesse inhaltlich unterfüttern zu können – herzlich willkommen!

Für uns ist die Gesundheits-Ausgabe keine Corona-Ausgabe – auch wenn wir inhaltliche Bezüge eingewoben haben. Für uns war und ist diese Ausgabe die Chance das Thema Gesundheit und die Kämpfe im und um das Gesundheitssystem grundlegender zu beleuchten. Und so gibt sie auch den coronabezogenen Debatten um Gesundheit ein solides Fundament.

«Plötzlich macht Corona wieder massive staatliche Eingriffe in Wirtschaft und Gesellschaft möglich. Es ist kein schöner Anlass – aber festzuhalten bleibt, dass als unumstößlich geltende Gewissheiten in Bewegung geraten (können).»

Schließlich erzeugt die Pandemie eine weltweite ökonomische Krise, die aufsetzt auf eine Klimakrise, die spätestens seit 2019 unverrückbar auf der Tagesordnung steht, auf eine sogenannte Flüchtlingskrise, die vom Westen fortwährend durch Abschottung, Kriegs- und Ausbeutungspolitik verschärft wird, und auf eine ohnehin vorhandene soziale Krise vieler Menschen als Resultat eines seit 1990 anhaltenden neoliberalen Umbaus der Gesellschaft. Diese Krisen motivieren zahlreiche Menschen zu widersprechen. Diese Melange rückt erneut, wie bereits in der Bankenkrise 2008/2009, die Möglichkeit staatlicher Gestaltungsmacht in Form von Eingriffen in Wirtschaft und Gesellschaft ins Scheinwerferlicht. Es ist kein schöner Anlass und das Ergebnis weit entfernt von Gerechtigkeit – aber festzuhalten bleibt, dass als unumstößlich geltende Gewissheiten in Bewegung geraten (können).

Trotzdem ist es bisher nicht gelungen, die systemrelevante Pflege aus der Klammer der Ökonomisierung zu befreien – aber immerhin wankt das System der diagnosebezogenen Fallgruppen (DRGs) als neoliberale Leitwährung der Krankenhäuser in der Coronakrise beträchtlich.

Entgrenzte Arbeitszeiten, die intensivierte Pflege von Angehörigen und generell höhere physische wie psychische Belastungen schufen für uns, wie für so viele Menschen Alltagserfahrungen, die deutlich machten, wie sehr eine radikal linke Kritik und Praxis im Gesundheits- und Carebereich notwendig ist. Die Beiträge dieser Ausgabe sind vielfältig und zahlreich, weshalb ihr nun eine recht umfangreiche arranca! in den Händen haltet. Nicht deshalb, sondern, weil unser Preis in die Jahre gekommen ist erhöht sich er mit dieser Ausgabe auf 5 Euro.

Zahlreiche Beiträge beschäftigen sich mit der Situation in den Krankenhäusern, angefangen mit einer Kritik an der Ökonomisierung des Gesundheitssystems, über einen radikalen Gegenentwurf eines klassenlosen Krankenhauses, das leider nie gebaut wurde und Artikel über die Kämpfe der Krankenhausbeschäftigten sowie der linksradikalen politischen Arbeit zu den Kämpfen in der Pflege. Andere Artikel beleuchten die feministische Perspektive auf Sorgearbeit, auf reproduktive Gerechtigkeit und die Kämpfe darum. Der Text «Männlich? Weiblich? Divers!» berichtet vom Ausgeliefertsein in diesem Gesundheitssystem. «Aus Krankheit eine Waffe machen» und «Activist Grief» richten den Blick über den deutschen Tellerrand hinaus, während der Artikel «Gesundheitsversorgung für Alle?» die schwierigen Auseinandersetzungen um die Gesundheitsversorgung von illegalisierten Menschen in Berlin thematisiert.

Artikel und Interviews von und mit Aktivist*innen der Gesundheitskollektive zeigen auf, wie eine bessere Gesundheitsversorgung konkret aussehen kann und warum soziale Lebensbedingungen nicht von individueller Gesundheit zu trennen sind. Andere Artikel, wie «Kapital und Gesundheit», eine Reflexion der Psychiatriekritik und «Carearbeit, die krank macht» in der Kinder- und Jugendhilfe nehmen Geschichte und Status Quo unter die Lupe. Schließlich widmen sich Artikel wie Resilienz als «neuester heißer Scheiß», «Digitalisiert und durchleuchtet» und «Aussortiert» den neuen Entwicklungen im Gesundheits- und Sozialsystem und deren Folgen.

Eure arranca!-Redaktion
im September 2020