Das bundesdeutsche Gesundheitssystem geht in seinen Anfängen auf die Bismarckschen Sozialgesetzgebungen zurück, mit der das reaktionäre Bürgertum Ende des 19. Jahrhunderts durch die Erfüllung einiger grundlegender Forderungen versuchte, den wachsenden Einfluss der sozialistischen Arbeiter*innenbewegung zurückzudrängen. Da es aus sozialen Kämpfen hervorgegangen ist, findet sich in ihm das Solidaritätsprinzip. Solidarität bedeutet in diesem Kontext, dass gesunde Menschen bereit sind, für die Behandlung von Kranken einzustehen. In den Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKVs, im krassen Unterschied zu den Privaten Krankenversicherungen, PKVs) gibt es dafür einen Risikoausgleich: Die Beiträge der Einzelnen werden nicht relativ zu deren individuellem Risiko zu erkranken festgelegt, sondern prozentual vom Lohn oder Gehalt. Dadurch findet insgesamt eine Einkommensumverteilung der Versicherten bei Anspruch auf gleiche Leistungen statt. Obwohl in Deutschland eine Versicherungspflicht besteht, sind längst nicht alle Menschen gesetzlich versichert, da die Mitgliedschaft vom jeweiligen Einkommen abhängt. So sind Besserverdienende, Beamt*innen und Selbstständige in der Regel privat versichert, diese Gutverdiener entziehen sich also der Finanzierung des Solidarsystems.
Was heißt eigentlich Ökonomisierung?
Ökonomisierung lässt sich generell mit zwei Definitionen erklären. Zum einen ist die Verbesserung der Effizienz durch Einsparung von Mitteln bei gleichbleibender Zielerreichung gemeint. Zum anderen die Organisation neuer Bereiche des gesellschaftlichen Lebens nach marktförmigen Kriterien. Im bürgerlichen Mainstream wird zumeist die erste Definition einer scheinbar neutralen Effizienzsteigerung verwendet.
Wer hätte nichts dagegen, dass etwa bestimmte Abläufe in der Gesundheitsversorgung effizienter organisiert und Patient*innen schneller behandelt werden? Effizienz wird dabei jedoch stillschweigend mit Kosteneffizienz im Sinne kapitalistischer Rentabilität gleichgesetzt. Allerdings lässt sich beim Blick auf die Geschichte der Ökonomisierung des Gesundheitswesens feststellen, dass in der Regel eine als ineffizient eingestufte Organisation im Sinne der ersten Definition diagnostiziert und die Lösung in einer Ökonomisierung im Sinne der zweiten Definition gesehen wurde. Seit den 1980er Jahren setzten sich somit immer stärker neoliberale Prinzipien durch.
Dazu gehört seit 1996 die ‹freie Kassenwahl›, die zu einer Konkurrenz unter den Krankenkassen bezüglich ihrer Leistungen, Angebote und ihrer Beitragssätze führte. Des Weiteren setzte sich materiell und diskursiv die Modellierung des Ärzt*in-Patient*innen-Verhältnisses als Konsument*innen-Beziehung durch. Patient*innen sind in dieser Logik Kund*innen – also mündige Konsument*innen – die spezifische Dienstleistungen und ‹Waren› freiwillig erwerben. Da sie jedoch krankheitsbedingt in einer Zwangslage sind und in der Regel nicht über das nötige Wissen verfügen, kann kaum von einer tatsächlichen Entscheidungsfreiheit gesprochen werden. Der Logik der Ökonomisierung folgt auch die zunehmende Privatisierung vormals kommunaler Krankenhäuser, die ab 1985 rechtlich möglich wurde, und damit das massive Wachsen privater Krankenhauskonzerne wie zum Beispiel Asklepios, Rhön AG, Fresenius/Helios.
«Ziel war neben der Ökonomisierung des Gesundheitswesens die Begrenzung der Krankenkassenbeiträge, die als Teil der Lohnkosten direkt die Gewinne der Kapitalisten schmälern.»
‹Reformen› gegen ‹Kostenexplosionen›
Für ein weiteres grundsätzliches Übel in der Gesundheitsversorgung steht das sogenannte Fallpauschalensystem (Diagnosis Related Groups, kurz DRG). Dieses ist vor dem Hintergrund einer angeblichen ‹Kostenexplosion› im Gesundheitsbereich in den Krankenhäusern durchgesetzt worden, obwohl der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttosozialprodukt, also der gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfung, gar nicht gewachsen war. Ziel war neben der Ökonomisierung des Gesundheitswesens die Begrenzung der Krankenkassenbeiträge, die als Teil der Lohnkosten direkt die Gewinne der Kapitalisten schmälern. Bis dato galt das Prinzip der Kostendeckung in der Krankenhausfinanzierung. Die tatsächlichen Ausgaben der Krankenhäuser, die außerdem einer Wirtschaftlichkeitsprüfung unterzogen wurden, waren die Grundlage ihrer Finanzierung, für welche die GKV verantwortlich waren. Außerdem gab es ein Gewinnverbot, aus dem resultierte, dass die Krankenhäuser das gesamte ihnen zugewiesene Geld auch wieder in den Krankenhausbetrieb steckten. Es blieb somit im System und ging nicht etwa in die Gewinnausschüttung.
Reformen forderte insbesondere die ‹Arbeitgeber›-Seite, indem sie einen Nachteil im internationalen Wettbewerb aufgrund steigender Lohnnebenkosten behauptete. Die maßgebliche Diagnose war vor allem seit den 1990er Jahren, dass Krankenhäuser aufgrund von Ineffizienz in ihrer Arbeitsorganisation und ihrer Fehlzuweisung von Ressourcen die ‹Kostenexplosion› selbst verursacht hätten. Doch was ist von der Annahme zu halten, dass die Krankenhäuser durch eine strukturelle Misswirtschaft zu einer ‹Kostenexplosion› beigetragen hätten? Fest steht, dass die Ausgaben der GKVs tatsächlich höher waren als ihre Einnahmen. Unter anderem die hohe Erwerbslosenquote nach dem Anschluss der DDR verschlechterte die Einnahmen der Sozialversicherungen. Die Gründe für das fortwährende Überschreiten der Ausgaben gegenüber den Einnahmen sind also in bestimmten politischen Entscheidungen zu finden. So wurden von der ersten schwarz-roten Koalition unter Angela Merkel die Beiträge der Arbeitgeberseite bei 7,3 Prozent eingefroren – die Last bei der Erhöhung von Beiträgen trugen also einseitig die Arbeitnehmer*innen.
Ferner kommen viele Bundesländer auch aufgrund der Folgen der verordneten Austeritätspolitik ihrer gesetzlichen Aufgabe, die Investitionskosten der Krankenhäuser (Krankenhausneu/umbau, Erstausstattung, Beschaffung von bestimmten Geräten) zu tragen, bereits seit Jahrzehnten nicht nach. Die unterbliebenen Investitionen bedeuten für Krankenhäuser erhöhte Kosten, etwa für Modernisierungen und Sanierungen. Bleiben diese aus, entstehen beispielsweise aufgrund veralteter und somit reparaturanfälliger Gerätschaften steigende Betriebskosten. Diese müssen wiederum die GKVs für die Kliniken tragen. Der so entstandene teils riesige Investitionsstau war dann wiederum ein wesentliches Argument dafür, die stark sanierungsbedürftigen Krankenhäuser an private Gesellschaften zu verkaufen. Diese investierten dann zwar, wandeln in der Folge die Krankenhäuser aber in profitorientierte Unternehmen um. Doch diese ‹Entlastung› der Länderhaushalte durch privates Kapital konnte nur erfolgen, weil es für das Kapital Profit-Aussichten gibt. Somit werden die Gesundheitsreformen, die eine Profit-Orientierung im Krankenhausbereich ermöglichen, nahezu zu einem politischen Imperativ, in den sich die Bundesländer selbst hinein regiert haben.
«Die Rede von der ‹Kostenexplosion› ist höchst ideologisch, da sie den Effekt hat, die Folgen einer ‹Politik des Kapitals› als eigentliche Ursache der Finanzierungsmisere im Gesundheitswesen zu verdecken.»
Vor diesem Hintergrund zeigt sich die Rede von der ‹Kostenexplosion› als höchst ideologisch, da sie den Effekt hat, die ‹Politik des Kapitals› als eigentliche Ursache der Finanzierungsmisere im Gesundheitswesen zu verdecken. Die marktförmige Umstrukturierung des Gesundheitswesens zeigt sich als ein neoliberales Projekt zur Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums. Nun stellt sich die Frage, wer von dieser Reform bis heute profitiert – und wer nicht?
Die alltäglichen Folgen der DRGs
2003 wurden letztendlich die Fallpauschalen (DRGs) eingeführt. Dabei handelt es sich um eine Kategorisierung von im Krankenhaus behandelten Fällen nach Diagnosen in insgesamt 467 Gruppen. Dadurch wird ermöglicht, die Leistungen im Krankenhaus als ‹Produkte› zu behandeln, die mit einem Preis versehen werden. Statt wie zuvor die tatsächlichen Kosten erstattet zu bekommen, erhalten die Krankenhäuser Pauschalbeträge für die bei den Krankenkassen in Rechnung gestellten DRGs. Einerseits ermöglicht ihnen dies Gewinne zu machen, indem sie mit ihren Kosten unter den Fallpauschalen bleiben, andererseits führt es zu einem allgemeinen Druck, die Kosten bei der Behandlung von Fällen zu senken.
«Vor allem die gesellschaftlich besonders notwendige Grundversorgung wird systematisch unterfinanziert.»
Damit wurde ein Anreizsystem geschaffen, dem eine betriebswirtschaftliche Logik der Kostensenkung und Einnahmeerhöhung zugrunde liegt. Ihm werden die Anforderungen einer guten Gesundheitsversorgung sowie das Wohl der Patient*innen und der Beschäftigten in den Krankenhäusern untergeordnet. Seit Einführung der DRGs hat dies zu einem grundlegenden Wandel in der gesamten Ausrichtung der Krankenhausversorgung geführt. Drei Tendenzen lassen sich dabei ausmachen:
- Unterversorgung: Aufgrund des Drucks, die Kosten unter den Fallpauschalen zu halten, wird vor allem beim Personal gespart. Dies ist der flexibelste und teuerste Kostenpunkt im Krankenhaus. Bei Maschinen und medizinischer Technik lässt sich nicht so ohne weiteres sparen. Außerdem ist Pflegearbeit emotionale Arbeit mit Menschen, sodass die Beschäftigten eher bereit sind, Personallücken durch eigene Sorgearbeit auszugleichen. Dadurch ist der Betrieb auch mit einer absolut unzureichenden Personalausstattung möglich. Für die Beschäftigten führt dies zu einem sehr belastenden Arbeitsalltag und zu krankmachenden Arbeitsbedingungen. Des Weiteren entstehen so gefährliche Situationen für die Patient*innen, da die Stationen permanent unterbesetzt sind und das Personal dauergestresst mehr Fehler macht. Gespart wird zudem bei der Patient*innenversorgung, etwa durch die Verwendung von billigerem Verbandsmaterial und eine Verkürzung der Liegezeiten. «Blutige Entlassungen» von Menschen, die noch nicht wirklich ausgeheilt sind, sind die Folge. Seit Einführung der DRGs wurden 50000 Pflegestellen (das heißt circa 15 Prozent) abgebaut, während die Anzahl an behandelten Patient*innen um 11 Prozent gestiegen und die Verweildauer um 25 Prozent gesunken ist. Es werden also mehr Patient*innen in kürzerer Zeit mit weniger Personal behandelt.
- Überversorgung: Die Einnahmen der Krankenhäuser steigen mit der Anzahl an DRGs, die sie bei den GKVs abrechnen können. Daher steigt die Zahl der Diagnosen und mit ihnen der Operationen, auch wenn diese nicht immer notwendig sind. So ist beispielsweise die Zahl der Hüft- und Knieoperationen seit Einführung der DRGs drastisch gestiegen, was sich medizinisch eigentlich nicht rechtfertigen lässt. Auch wird jetzt in erster Linie operiert, statt lange betreuungsintensive Therapien durchzuführen. Für Patient*innen ist das ebenso verheerend wie die Unterversorgung, da nicht danach entschieden wird, welcher Eingriff ihrem Wohle am ehesten dienlich ist, sondern was am Profitabelsten für das Krankenhaus ist. Zugleich steigen dadurch die Ausgaben im Gesundheitswesen insgesamt. Entgegen der propagierten Kostensenkung bei Einführung der DRGs haben sich die Ausgaben um mehr als 25 Prozent erhöht (!!), was nicht allein auf eine teurere Technik zurückgeführt werden kann.
- Selektion: Es gibt DRGs, die eher Gewinn abwerfen und solche, die für die Krankenhäuser verlustreich sind. Dies hängt vor allem davon ab, wie gut die Behandlung punktgenau durchgeführt werden kann. Die Parole lautet daher ‹Schlanke Prozesse›. Dies ist vor allem mit routiniert durchgeführten, lange planbaren Spezialeingriffen möglich, für die die Patient*innen direkt zur OP ins Krankenhaus einbestellt werden und für die man viel Technik (die den ‹Preis› der DRG erhöht) und wenig Personal braucht. Das führt dazu, dass die Krankenhäuser ihre Ressourcen (Personal und Finanzen) in Spezialbereiche wie die Herzchirurgie fließen lassen, die ihnen einen guten Erlös versprechen, während sie aus anderen abgezogen werden. Zu Letzteren gehören Notversorgung, Allgemeinchirurgie, Kinder- und Jugendmedizin oder auch die Geburtshilfe, weil dafür immer freie Kapazitäten vorgehalten werden müssen und die Auslastung weniger geplant werden kann. Vor allem die gesellschaftlich besonders notwendige Grundversorgung wird somit systematisch unterfinanziert. Dies führt auch zu einer Benachteiligung der öffentlich geführten Krankenhäuser gegenüber den Privaten, da sich diese zumeist auf solche profitablen Bereiche spezialisieren, während die Öffentlichen gesetzlich verpflichtet sind, eine Grundversorgung aufrechtzuerhalten. Somit entsteht bei den Öffentlichen zusätzlicher Druck, beim Personal zu sparen und zugleich zur Kompensation mit den Privaten um die gewinnbringenden Bereiche zu konkurrieren, also die unter Zweitens behandelte Überversorgung auszudehnen.
Mit der Ökonomisierung einher geht auch ein grundlegender Kulturwandel im Gesundheitswesen. Es brach die Ära der Finanzverwaltungen und Unternehmensberatungen an, die den Krankenhausbetrieb nach ihrem Bilde umgestalten. Die Chefärzt*innen und Stationsleitungen werden dazu angehalten, sich an die vorgegeben finanziellen Kennzahlen zu halten. Das verstärkt den Wandel der medizinischen Ethik: vom Patient*innenwohl als Maßstab der Entscheidungen hin zu einem diesem gegenüber gleichgültigen betriebswirtschaftlichen Zynismus.
Doch inzwischen zeigen die Proteste der Pflegebewegung an den Krankenhäusern erste Wirkungen: Nachdem die Personalkosten (befristet) aus dem DRG-System herausgenommen wurden, steht dieses auch als Ganzes infrage. Inzwischen haben ver.di, die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Deutsche Pflegerat (DPR) der Öffentlichkeit ein alternatives Instrument zur verbindlichen Bemessung des notwendigen Pflegepersonals präsentiert, mit dem sich die Ausgangsposition für Kämpfe um ein bedürfnisorientiertes Gesundheitssystem enorm verbessern würde (mehr dazu in unserem Artikel zum aktuellen Stand der Pflegebewegung). Die Streiks an den Krankenhäusern, die sich politisch auch immer gegen die Ökonomisierung des Gesundheitswesens gerichtet haben, tragen also erste Früchte.