Wenn wir nach kontinuierlichen und überregionalen Massenmobilisierungen mit Einfluss auf die nationale Politik fragen, dann lassen sich zur Zeit wohl nur zwei große soziale Bewegungen mit einer linken Perspektive identifizieren: Die Antikriegsbewegung und die Migrantenbewegung. Doch keine der beiden hat eine klare kapitalismuskritische Perspektive. Wie in vielen anderen Ländern, ist die Arbeiterbewegung auch in den USA heute stark fragmentiert. Die Fronten verlaufen schon lange nicht mehr entlang des Widerspruchs zwischen Arbeit und Kapital.
Reagan-Ära beendete den Widerstand
Historisch hatten die außerparlamentarischen Kämpfe einen Höhepunkt in der Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre und in den Protesten gegen den Vietnamkrieg. Die Politisierung der US-Gesellschaft reichte bis weit in die 1970er Jahre hinein. Vor allem in der marginalisierten afroamerikanischen Bevölkerung und unter linken Studierenden entstanden damals sozialrevolutionäre Bewegungen. Doch sprang der Funke weder auf die Arbeiterklasse noch auf die Mittelschicht über. Stattdessen wurden die militanten Gruppen unter dem enormen Druck staatlicher Repression aufgerieben. Die radikalen „Überbleibsel“ dieses historischen Moments – vor allem die feministische Bewegung und die Umweltbewegung – wurden nach und nach von den Universitäten und anderen gesellschaftlichen Institutionen absorbiert. Der endgültige Sieg der konservativen Konterrevolution kam mit Ronald Reagan.
In den 1980er Jahren setzten sich zwei reaktionäre Wertesysteme durch, die die US-Gesellschaft bis heute dominieren: Eine zutiefst patriarchale, nationalistische und homophobe Form des „Sozial-Konservatismus“, kombiniert mit einem wirtschaftlichen Neoliberalismus, der den Sozialstaat bekämpft. Zwar provozierte die Regierung Reagan auch Widerstände, zum Beispiel die Bewegung gegen das nukleare Wettrüsten und kreative und militante Proteste von Aids-AktivistInnen. Doch spätestens mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Staatssozialismus und dem Triumph des neoliberalen Diskurses vom „Ende der Geschichte“ machte sich in der US-Linken Resignation breit.
Anstösse aus dem Ausland
Ähnlich wie in Europa wurde außerparlamentarische Politik in den USA erst Mitte der 1990er Jahre durch soziale Kämpfe in anderen Teilen der Welt wieder belebt: vor allem durch den Aufstand der ZapatistInnen 1994 in Chiapas und den Generalstreik in Südkorea 1996. Die globalisierungskritische Bewegung, die 1999 in Seattle in Erscheinung trat, gehört zu den ersten wirklich systemkritischen und weltweit vernetzten sozialen Bewegungen seit der Hochphase der 1960er und 1970er Jahre. Wie auch in Deutschland sind die radikalen Teile dieser Bewegung antikapitalistisch und autonom. Doch ist diese Fraktion innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung in der Minderheit. Die „Teamsters and Turtles“, die in Seattle gemeinsam protestierten, sind sich zwar einig bei der Kritik an transnationalen Unternehmen und neoliberaler Politik, doch ist es fraglich, inwieweit sie auch eine Kapitalismuskritik teilen.
Anders als in Deutschland gab es in den USA nur wenige Strukturen, in denen die radikalen Protestkulturen der 1970er Jahre während der Reagen-Ära „überwintern“ konnten. Kritisches Denken, autonome Organisationsformen und militante Praktiken wurden kaum von einer Generation an die nächste weitergegeben. Die jungen AktivistInnen mussten hart arbeiten, um sich ihre eigene Widerstandsgeschichte zu erschließen. Allen Widrigkeiten zum Trotz hat sich hier in den vergangenen Jahren viel getan. Im Gegensatz zur Stimmung der 1980er und frühen 1990er Jahre ist es heute in den USA wieder möglich, über „eine andere Welt“ nachzudenken und den Kapitalismus zu hinterfragen. Mit dem Wiederaufleben einer Kapitalismuskritik im oppositionellen Diskurs ist endlich auch eine wichtige Bedingung wieder hergestellt, damit sich radikale soziale Bewegungen und Kämpfe überhaupt artikulieren können.
Antikriegsbewegung mobilisiert Tausende
Die Anschläge auf das World Trade Center vom 11. September 2001 versetzten der globalisierungskritischen Bewegung in den USA einen schweren Schlag. Der Patriotismus und der „Krieg gegen den Terror“ unterdrückten für einen Moment alle sozialen Kämpfe: „United we stand!“ war die nationale Parole. Gerade die Abwesenheit jeder Kapitalismuskritik im US-Mainstream und die damit einhergehende Ignoranz gegenüber den globalen Effekten der Außen- und Handelspolitik der USA waren wichtige Gründe dafür, dass so vielen US-AmerikanerInnen durch die Anschläge vom 11. September zutiefst traumatisiert wurden. Es dauerte mehrere Jahre, bis die verschiedenen Teile der globalisierungskritischen Bewegung wieder zusammenfanden und zumindest ein Stück ihrer ehemaligen Stärke wiedererlangten. Eine wichtige Rolle spielten dabei die weltweiten Demonstrationen im Februar 2003 gegen die USInvasion im Irak. Denn mit den Antikriegsprotesten öffnete sich auch in den USA wieder ein Raum für kritischen Diskurs und basispolitische Praxis.
Fast könnte man sagen, dass die globalisierungskritische Bewegung in den USA in den Antikriegsprotesten aufgegangen ist. Diese beschränkten sich in der Anfangsphase noch auf Großdemonstrationen, die vor allem von den zwei Bündnissen United for Peace and Justice (UFPJ) und Act Now to Stop the War and End Racism (ANSWER) organisiert wurden. Doch in dem Maße, in dem sich die Besetzung des Irak in einen blutigen Albtraum verwandelte und die Folterpraktiken in Guantánamo und Abu Ghraib, die Entführungen und geheimen CIA-Flüge ans Licht kamen, hat sich die Antikriegsbewegung in den USA in eine vielfältige Protestkultur verwandelt.
Gruppen wie Code Pink, deren zentrale Figur Cindy Sheehan ist (die Mutter eines in Irak gefallenen Soldaten), organisieren medienwirksame Auftritte, um parlamentarische PolitikerInnen unter Druck zu setzen. Aber auch direkte Aktionen häufen sich, immer mehr SoldatInnen (und mittlerweile auch Offiziere) verweigern den Einsatz im Irak und die Zahl der lokalen Protestgruppen wächst beständig. Der Widerstand beschränkt sich dabei nicht auf den Krieg im Irak sondern wendet sich auch gegen den Abbau von Bürgerrechten und gegen die rechte Politik der Regierung von George W. Bush. In diesem Sinne hat die Antikriegsbewegung mit Sicherheit großen Anteil an dem aktuellen Stimmungswandel in den USA, in dem sie diese reflektiert diesen und ihm ein Gesicht verleiht.
Umfragen zufolge sprechen sich mittlerweile zwei Drittel der US-AmerikanerInnen gegen den Krieg im Irak aus. Die Niederlage der Republikaner bei den Wahlen zum Kongress im November 2006 war eine klare Absage an die Politik von George W. Bush. Dennoch ist die Bewegung immer noch nicht stark genug, um einen Rückzug aus dem Irak zu erzwingen. Aus der Sicht einer radikalen Gesellschaftskritik können die Antikriegsproteste keinen Ersatz für die globalisierungskritische Bewegung bilden, mangelt es ihnen doch weitgehend an einer kapitalismuskritischen Perspektive.
Impulse und Organisierung
Die andere große soziale Bewegung mit einem systemkritischen Potenzial ist die Migrantenbewegung. Im Frühjahr 2006 gingen Millionen von Menschen im ganzen Land auf die Straße und beteiligten sich an Demonstrationen, Streiks und Boykotts, um gegen die weitere Militarisierung der Grenzen und gegen eine Kriminalisierung von MigrantInnen zu protestieren. In Kalifornien und anderen Staaten im Südwesten der USA verließen Tausende lateinamerikanische SchülerInnen den Schulunterricht – eine Aktionsform, die sie sich bei den Kämpfen der 1960er und 1970er Jahre „abgeguckt“ hatten.
Doch scheint es fast, als hätten die Proteste mehr Fremdenhass als Solidarität erzeugt. Als George W. Bush im Oktober 2006 ein Gesetz unterzeichnete, dass den Bau von über 1.000 Kilometern Hochsicherheitszaun an der Grenze zu Mexiko vorsieht, blieben die Straßen leer. Genauso plötzlich, wie die riesigen Demonstrationen aufgetaucht waren, scheinen sie wieder verschwunden zu sein. Ob die migrantischen Widerstände noch einmal an Kraft gewinnen, ob sie eine emanzipative Perspektive entwickeln und ob sie den Sicherheitswahn der US-Regierung in Frage stellen – all das bleibt abzuwarten. Um ein vollständiges Bild der Basisproteste in den USA zu zeichnen, müsste man noch viele andere Initiativen behandeln: zum Beispiel die Justice-for-Janitors-Kampagne der prekarisierten Angestellten im Reinigungsgewerbe, die Gründung lokaler Zentren, in denen sich migrantische TagelöhnerInnen organisieren, oder auch die direkten Aktionen militanter Öko- und TierschutzaktivistInnen. Gerade die Umweltbewegung könnte in naher Zukunft wieder an Kraft gewinnen. Auch in den USA erhält die Klimakatastrophe Einzug in den öffentlichen Diskurs. Der Hurrikan Katrina, der im Sommer 2005 New Orleans verwüstete, hat vielen Menschen die Notwendigkeit eines grundlegenden Politikwandels vor Augen geführt. Vielleicht wird es ja von dieser Seite einen neuen Impuls geben, um die außerparlamentarischen und linken Bewegungen in den USA zukünftig weiter zu stärken.