arranca!: ¿Du zitierst Joao Pedro Stédile von der Landlosenbewegung (MST) in Brasilien mit dem Satz: «Die Machtfrage wird nicht dadurch gelöst, dass man einfach den Regierungspalast übernimmt – was das Einfachste ist und was oft geschehen ist –, sondern indem man die sozialen Beziehungen verändert.» In deinem Buch Beziehungsweise Revolution setzt du sie an eine zentrale Stelle. Wie können wir durch die Veränderung sozialer Beziehungen Machtfragen stellen?

Bini Adamczak: Der Begriff Beziehungsweise ist ein Analysewerkzeug, das helfen soll, Gesellschaft zu verstehen im Hinblick auf ihre emanzipatorische Veränderung. Der Fokus richtet sich nicht auf Subjekte (Individuen) und auch nicht auf die Totalität (den Staat), sondern auf etwas dazwischen, eben ‹die Verhältnisse›. Die queerfeministische Pointe besteht darin, dass der Begriff sowohl für die Nahbeziehungen der Freund*innenschaft, Bekanntschaft, Familie usw. als auch für die Fernbeziehungen von Ware, Kredit, Bürokratie usw. gilt. Wir sind es gewohnt von Liebesbeziehung zu sprechen, aber nicht von Warenbeziehung. Die Hoffnung, die sich mit dem Begriff verbindet, ist, dass wir Veränderungen eher denken können, wenn wir die Gesellschaft als Ensemble von Beziehungsweisen begreifen, als wenn wir sie als Aneinanderreihung von Individuen vorstellen oder als ‹die Struktur› bzw. ‹das System› verdinglichen.

Dadurch wird es möglich, die Blickrichtung zu ändern: Es geht nicht zuerst um ‹den Widerstand›, der auf Subversion oder Negation zielt – ‹das Privateigentum abschaffen›, ‹Grenzen sprengen›, ‹Staat zersetzen› –, sondern zunächst um die Fragen: Wie wollen wir leben? In welcher Weise wollen wir uns verbinden? Welche Beziehungen wollen wir eingehen? Die Frage, was uns im Bestehenden stört, worunter wir hier leiden, ist darin schon vorausgesetzt. Die klassische Machtfrage aber, wenn du so willst, taucht hier erst im zweiten Schritt auf, als die Frage danach, was uns daran hindert, befriedigendere Beziehungsweisen zu leben. Was sind die Hindernisse, die sich dem Versuch, gleichere, freiere, solidarischere Beziehungen zu führen, in den Weg stellen? Und wie lassen sich diese Hindernisse überwinden?

¿In Beziehungsweise Revolution schaust du dir sehr genau die Zeit nach der Revolution an – für ‹klassische Revolutionär*innen› eher untypisch. Was gibt es dort zu lernen?

Da gibt es sehr viel zu lernen! Viel zu sehen, zu verstehen, zu staunen, zu trauern. Ein Punkt ist sicherlich, dass in der klassischen Revolutionstheorie und -politik genau der Frage, was denn nach der Revolution passieren kann und soll, zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Der Fokus lag sehr auf der Machteroberung und den verschiedenen Wegen zu ihr (durch Wahlen, durch Propaganda der Tat, durch eine Krise, durch einen Staatsstreich), während die Frage, was dann geschehen sollte, verschoben wurde. Entweder wurde der Prozess als ein Automatismus vorgestellt, der sich durch die Änderung der Eigentumsverhältnisse von allein ergeben würde, oder die Beantwortung der Frage wurde in die Zukunft verlagert und den kommenden Revolutionär*innen aufgebürdet. Häufig wurde die Weigerung, sich mit der Frage zu beschäftigen, sogar als bewusste Entscheidung verbrämt: Der wissenschaftliche Sozialismus wolle im Gegensatz zum utopischen der Zukunft keine Vorschriften machen und beschränke sich auf die Analyse der materialistischen Gesetze der Geschichtsbewegung.

«Die Veränderung der sozialen Beziehungen geschieht gar nicht ‹nach› der Revolution, sondern es ist die Revolution. Es ist das, worum es geht.»

Eine Verschiebung der Aufmerksamkeit führt jedoch auch zu einer anderen Wahrnehmung. Die Veränderung der sozialen Beziehungen geschieht gar nicht nach der Revolution, sondern es ist die Revolution. Es ist das, worum es geht. Befriedigende Beziehungen zu schaffen, ist der Grund dafür, dass Revolutionen überhaupt unternommen werden. Die Eroberung oder Zersetzung oder Abschaffung der Staatsmacht hingegen ist nur ein Mittel zu diesem Zweck, nicht der Zweck selbst. Sie ist deswegen auch noch keine Revolution.

¿Wenn wir diese Verschiebung der Aufmerksamkeit auf aktuelle soziale Bewegungen übertragen – wo der Fokus auf die Negation meist auch bestimmend ist – welche Schlussfolgerungen ergeben sich dann für die Bewegungspraxis?

Ich weiß nicht, ob sich das so pauschal für soziale Bewegungen sagen lässt. In den Platzbesetzungen von 2011 an gab es eine starke Aufmerksamkeit für Prozesse der Selbstorganisation. Fragen der Reproduktion wie Aufräumen und Versorgen waren nicht bloß nerviges Beiwerk. Die feministischen Bewegungen legen hier traditionell einen anderen Fokus und auch bei Ende Gelände oder den Klimacamps sind die Fragen der Beziehungen innerhalb der Bewegung nicht vor allem instrumenteller Natur: Es geht also nicht nur darum, wie wir schlagfertiger und effizienter werden können. Das ist oft auch Ausdruck eines eher anarchistischen Erbes.

Die positiven Zielvorstellungen bleiben tatsächlich oft verwaschener als die negativen: ‹Her mit dem schönen Leben› ist ja eher abstrakt, während ‹1,5°C› ziemlich konkret (wenn auch schwer vorstellbar) ist. Letzteres ist aber eine negative Zielgröße: Es geht um Reduktion. Wie eine ökologische Beziehungsweise aussehen könnte, taucht selten in Schlagwörtern auf und es gibt auch wenig zirkulierende Bilder dazu.

Die Kampagne Deutsche Wohnen enteignen ist eine der mächtigsten und schönsten der letzten Jahre und sie bezieht ihre Schönheit ja auch aus der Einfachheit. Sie formuliert einen klaren Gerechtigkeitsanspruch und benennt das Hindernis, das eine Stadtgesellschaft an der Gestaltung des Lebens hindert. Aber wir tun gut daran, neben der Frage der Enteignung, die Antwort der Aneignung nicht zu vernachlässigen. Wie lässt sich Privateigentum wirklich auflösen, wie lässt sich vergemeinschaften? Welche Beziehungsweisen können an die Stelle der hierarchischen und entfremdeten Beziehungsweise des Eigentums an Häusern treten?

¿Deine Frage nach ökologischen Beziehungsweisen, in denen wir leben wollen, erinnert an die Praxen der ‹Selbsthilfegruppen› der 1968er, wo zum Beispiel Frauen zusammen ergründet haben: Wie leben wir gerade? Warum fühlen wir uns so und so? Was bräuchten wir, um gut zu leben und was hindert uns daran? Also die revolutionäre Kraft aus dem Erkennen der eigenen Bedürfnisse zu schöpfen. War das ein Beispiel für einen solchen Fokus auf Beziehungsweisen?

Ich habe vor wenigen Jahren die Neuauflage von Marge Piercies Woman at the edge of time gelesen. Im Vorwort spricht sie davon, warum es in den 1970ern so leicht war, utopische Science-Fiction zu schreiben, während in den letzten Jahren dsytopische Science-Fiction dominiert oder solche, die lediglich technische Veränderungen darstellt, während die soziale Wirklichkeit einfach nur die herrschende Gegenwart kopiert: Unter anderen Kräfteverhältnissen ist es leichter zu träumen, leichter, die Frage zu stellen, wie wir leben wollen, weil diese Frage eine praktische Relevanz hat. Sie macht uns nicht nur schlechte Laune, weil sie uns vor Augen führt, wie viel besser wir leben könnten, sondern gibt unserem gemeinsamen Handeln eine erwünschte Richtung.

Ich habe gesagt, dass dem Begriff der Beziehungsweise eine Dekonstruktion von Mikro- und Makroebene, von Nah- und Fernbeziehung zugrunde liegt, wobei der abgewertete Term (Nahbeziehung) zum bestimmenden wird: Auch der große Staat ist nur ein Ensemble von Beziehungen. Dies führt aber zu dem häufigen Missverständnis, dass ein Fokus auf Beziehungsweisen das Nahfeld in den Mittelpunkt stelle und vorschlage, an der Mikroebene anzusetzen. Das ist eine Gefahr, auch eine praktische. Wenn Menschen sich in Selbsthilfegruppen zusammensetzen, um zu überlegen, was sie stört und was sie ändern könnten, besteht diese Gefahr darin, dass sie sich auf das konzentrieren, was in ihrem unmittelbaren Handlungsbereich liegt und den Rest erstmal beiseiteschieben – wobei es bei diesem erstmal auch recht schnell bleiben kann.

«Die Fernbeziehungen zu greifen, die uns im Alltag begrenzen und bestimmen, ist schwerer, zum einen, weil sie sich eher als Hintergrund entziehen und es nicht leicht ist, sie überhaupt als Beziehungen wahrzunehmen.»

Die Fernbeziehungen zu greifen, die uns im Alltag begrenzen und bestimmen, ist schwerer, zum einen, weil sie sich eher als Hintergrund entziehen und es nicht leicht ist, sie überhaupt als Beziehungen wahrzunehmen. Zum anderen, weil sie uns mit einer größeren Ohnmacht konfrontieren. Daher der Sog, wegzuschauen und sich etwas Näherliegendem zuzuwenden.

¿In deinem Buch schreibst du, Beziehungsweisen wie Kooperation oder Commons gewinnen nicht, weil sie effizienter und produktiver sind, sondern weil sie befriedigendere Beziehungen herstellen. Sind diese im Hier und Jetzt veränderten Beziehungsweisen – zum Beispiel Kollektivbetriebe und Hausprojekte – eine Möglichkeit, Utopien einer anderen Gesellschaft praktisch erfahrbar zu machen und welche Rolle können sie für die Veränderung der Gesellschaft spielen?

Das sind zwei verschiedene Ebenen. Der Historiker Enzo Traverso hat die sinnvolle Unterscheidung zwischen Sieg und Niederlage auf der einen Seite und Erfolg und Scheitern auf der anderen Seite gemacht. Das erste bezieht sich auf die Auseinandersetzung mit einem äußeren Gegner, etwa der Bourgeoisie, das zweite bezieht sich auf den eigenen emanzipatorischen Maßstab. Die Pariser Kommune wurde von konterrevolutionären Truppen niedergeschlagen, diesem Schicksal konnten die russischen Revolutionär*innen entgehen, aber der Preis, den sie für ihren Sieg im Bürgerkrieg zahlten, war hoch. Sie scheiterten bei dem Versuch, eine kommunistische Gesellschaft zu erschaffen.

Das Ziel von Emanzipation sind solidarischere Beziehungsweisen, aber es kann durchaus sein, dass sie, um sich durchzusetzen, effizienter sein müssen. Wir können in der Geschichte, nicht zuletzt in der Geschichte des Marxismus, die Gefahr sehen, dass sich das Mittel gegen den Zweck verselbstständigt: Dass etwa die Idee, den Kapitalismus zu überholen, die Produktivkräfte weiter und schneller zu steigern als der Westen, zu dem eigentlichen Ziel wurde, hinter das alles andere zurücktreten musste. Aber wir haben auch zahlreiche Erfahrungen sammeln müssen mit linken Bewegungen, die in ihrer Freude über die solidarischen Beziehungen, die sie untereinander geschaffen haben, die Beziehung zur kapitalistischen Konkurrenz, zur Konterrevolution vergessen haben. Zu ihrem Unglück hat die Konterrevolution sie nicht vergessen.

Die Kollektivbetriebe, die in den 1970ern in großem Umfang gegründet wurden, waren der Versuch, anzufangen, nicht zu warten, bis das Kapitalverhältnis überwunden ist. Sie haben vielen Menschen ein anderes (Arbeits)Leben ermöglicht und noch mehr Menschen zeitweilig zeigen können, was möglich wäre. Sie waren aber konfrontiert mit weiterhin kapitalistisch strukturierten Marktbeziehungen, die die Ansprüche des Kollektivbetriebs – egalitäre, nicht entfremdete Beziehungen zu leben – mit dem Imperativ der Konkurrenz, dem Zwang zur Produktivität, zur Profitabilität konfrontierten. Unter diesem Druck sind viele Betriebe entweder eingegangen oder haben ihre internen Beziehungen transformiert, also hierarchisiert und ökonomisiert.

¿Heute bringt uns der Klimawandel und die Unfähigkeit des Kapitalismus, ihn zu begrenzen, in eine Situation in der viele eine dringende Notwendigkeit zur Veränderung empfinden. Revolutionäre Umwälzungen der Gesellschaft werden angesichts der tickenden Uhr diskutiert. Welche Bedingungen für eine solche Umgestaltung finden wir heute vor? Welche Ansatzpunkte siehst du für die Knüpfung revolutionärer Beziehungsweisen?

Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass die Coronakrise als Testlauf für die Klimakrise verstanden werden kann. Während die Verwerfungen der ökologischen Krise immer noch in die Zukunft oder in den Globalen Süden verschoben werden können – ‹so schlimm ist es hier ja noch nicht› –, sind die Auswirkungen der Pandemie und die notwendigen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung viel kurzfristiger. Hier geht es ja nicht um einen Zeitraum von dreißig oder zehn Jahren, sondern von drei Monaten oder drei Wochen. Beides Mal ist klar, was notwendig ist, aber im Fall der Pandemie ist es deutlich leichter umzusetzen.

«Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass die Coronakrise als Testlauf für die Klimakrise verstanden werden kann.»

Die Pandemie zeigt uns erstens, wie viel möglich ist – sie hat uns nicht nur überrascht, weil fast niemand mit dem Virus gerechnet hat, sondern auch, weil die drastischen Veränderungen unseres kulturellen und sozialen Lebens außerhalb unserer Vorstellung lagen. Die Pandemie zeigt uns jedoch zweitens, wie groß der Unwillen und die Unfähigkeit der Regierenden ist, notwendige Änderungen vorzunehmen, selbst wenn diese Änderungen nur darauf abzielen zur ‹Normalität› zurückzukehren.

Selbst dass eine Situation eintritt, die sich fast niemand vorher vorgestellt hatte, vergrößert nicht die Vorstellungskraft. Selbst wenn andere Regierungen demonstrieren, dass viel mehr möglich ist, erscheint es weiter als unmöglich, selbst wenn wirksamere Maßnahmen noch im langfristigen Interesse des Kapitals lägen, dominieren die kurzfristigen Interessen. Der Staat erscheint hier wie ein Tanker auf Blindkurs. Zugleich wird deutlich, dass es keine Beziehungen gibt, die stark genug wären, diesen Schrotttanker einfach liegen zu lassen und das Sinnvolle aus sich selbst heraus zu organisieren. Am Anfang der Pandemie hatten sich überall solidarische Initiativen gegründet, die Nachbarschaftshilfe organisiert haben, alte oder obdachlose oder auch illegalisierte Menschen unterstützt haben. (Sie sind schnell wieder verschwunden, sobald es Schutzmasken zu kaufen gab oder staatliche Unterstützungen verfügbar wurden.)

Aber als sich im Spätsommer 2020 abzeichnete, dass der Staat nicht beabsichtigt, die Pandemie schnell zu beenden und sich nicht mal an die eigenen Beschlüsse zu ihrer Eindämmung hielt – und zwar um dem Kapital auch die kleinsten Einschnitte zu ersparen – hatten diese oder andere Initiativen nicht die Kraft das zu organisieren, was notwendig gewesen wäre, einen dreiwöchigen Generalstreik beispielsweise. Vor den Augen eines großen Teils der Bevölkerung tut sich eine tiefe Kluft auf: Zwischen dem, was offenkundig vernünftig und machbar ist – Pandemie beenden, Klima retten – und dem, was unvernünftigerweise gemacht wird – die Maschine in Gang halten, no matter what. Wie sich diese Kluft schließen lässt, und zwar praktisch, das ist die offene Frage dieser historischen Situation.