Alltag und Reservat
Aus diesem Grund fühlen wir uns auf positive Weise herausgefordert, selber etwas Tinte auszuschwitzen, um eine kleine Portion Alltagsflair aus unserem ganz persönlichen Leben rüberzubringen. Objektivitätsansprüche melden wir besser nicht an. Außerdem überlassen wir das Verbraten sozialwissenschaftlicher Allgemeinplätze über das Dasein Behinderter gerne jenen normalen Fachleuten des Wissenschaftsbetriebs, die sich wertfrei oder auch mal philantropisch über unseren Alltag hermachen.
Wir selbst bewegen uns in unserem konkreten Alltag weder im bürgerlichen Mainstream noch auf der entsprechend angepassten Behindertenschiene. Wir sind weder im Blindenverband noch in einer der verschiedenen alternativ gestrickten Selbsthilfegruppen. Solche Organisationen können sicherlich sehr hilfreich sein. Doch aus unserer Sicht sind sie selbst Teil jenes Reservats für Behinderte, das die bürgerliche Gesellschaft für Leute wie uns fürsorglich eingerichtet hat.
Wir aber fühlen uns auf den holprigen Pfaden des Radikalen sehr viel wohler als in der abgeschotteten Sicherheit des Reservats.
Ein scheinbares Klischee
Trotzdem müssen wir ein bekanntes Klischee scheinbar bestätigen: Wir sind sehbehindert und machen Musik. Typisch blind, schallt es da schon mal aus den Tiefen des Publikums. Die meisten Menschen glauben tatsächlich, dass Leute wie wir zum Musikmachen besonders geeignet, quasi verpflichtet sind, weil wir von Natur aus angeblich über ein phänomenales Gehör verfügen. Dieser alte Glaube wird sogar von Sehbehinderten selbst zum Teil gepflegt und wir kennen solche Vorstellungen auch aus linken Kreisen.
Nun wollen wir gar nicht bestreiten, dass es unter Blinden und Sehbehinderten relativ viele Leute mit sehr guten Ohren geben kann, vielleicht sind sogar wir beide damit ausgestattet, was uns keineswegs ärgern würde. Einen Vergleichstest mit dem Gehör der „Normalen“ haben wir jedoch nicht gemacht. Wir bestreiten ohnehin, dass nur unser Gehör Grund für die Aufnahme einer Musiker_innentätigkeit gewesen ist. Immerhin gibt es auch Menschen mit Adleraugen, die Musikmachen als Traumberuf betrachten.
Ausbruch aus dem Reservat
Wir jedenfalls haben mit Musik und ein bisschen Schreiberei unseren prekären Platz in der bürgerlichen Leistungsgesellschaft ergattert. Dafür werden wir von manchen wohlmeinenden Mitmenschen sogar ein bisschen bewundert. Weil uns das aber weder dankbar noch zufrieden macht, müssen wir auch noch auf Berge klettern und wenn Schnee liegt, diese auf schnellen Brettern auch wieder runterfahren. Die zahlreichen anderen von uns gepflegten Dummheiten wollen wir mal lieber nicht erwähnen, denn die wohlmeinenden Mitmenschen lassen dann erfahrungsgemäß jede Menge Unverständnis vom Stapel. Musikmachen wäre ja okay, weil das durchaus als Teil des Reservats durchgehen könnte. Alles andere ist aber eindeutig Ausbruch aus dem Reservat und daher nicht akzeptabel.
Es gibt in diesem Land ohnehin genug Leute, die es für unverantwortlich halten, Blinde und Sehbehinderte vor die Tür zu lassen, weil sie alles umrennen – was durchaus stimmen kann. Neulich erst erwischten wir beim Joggen eine Schubkarre, die mitten im Weg stand und wir hielten einen Mann, der uns im Wald beim Pinkeln beobachtete, zunächst für einen verrotteten Baumstumpf. Einmal gerieten wir sogar auf das Gelände eines umzäunten Sperrgebietes. Wie das passieren konnte, wissen wir bis heute nicht.
Nein, sie haben uns nicht gleich erschossen, auch nicht, als die Bullen uns mal beim Mais pflücken erwischten. Bei solchen Aktionen haben wir offenbar immer einen Blindenbonus. Die denken tatsächlich, wir hätten nicht gesehen, was wir da machten. Nicht, dass wir unbedingt in den Knast wollen. Aber wir fragen uns schon manchmal, was wir noch alles machen müssen, um nicht immer als Leute aus dem Reservat behandelt zu werden. Einfallen könnte uns da schon vieles.
Wenn wir über so was reden, lösen wir durchaus blankes Entsetzen aus. Dann gibt es wieder diese wohlmeinenden Mitmenschen, die uns die Vorzüge des Reservats schmackhaft machen wollen. Entsetzt sind aber manchmal auch unsere erwachsenen Kinder. Sie können zum Beispiel nicht ganz verstehen, dass wir uns auch noch als politische Aktivist_innen betätigen müssen. Wobei wir uns kaum mit Behindertenpolitik beschäftigen. Das ausschließliche Agieren im politischen Reservat der Betroffenen wäre uns etwas zu eng und Reservatssprecher_innen wollen wir überhaupt nicht sein. Eher befassen wir uns mit der brennenden Aktualität, gehen also mal zum Mais pflücken, Castor schottern oder Nazis verjagen. Die Kids fragen dann schon mal, ob das Herumtreiben auf Demos für Leute wie uns nicht zu gefährlich sei. Aber gerade solche Aktivitäten sind wichtig und notwendig, um von der bürgerlichen Gesellschaft nicht im Behindertenreservat abgelegt zu werden.
Applaus für die Stars
Manchmal wird Behinderten aber auch heftig applaudiert. Als die blinde Biathletin Verena Bentele im vergangenen Jahr fünf Goldmedaillen gewann, war für die breite Öffentlichkeit eine Heldin geboren. Monatelang war sie Quotenbringerin für alle möglichen Rundfunk- und Fernsehsender und im Internet ist ihre Präsenz bis heute ungebrochen. Oder Stephen Hawking, dieser Dauerstar der Astrophysik, Erbe Einsteins und mathematischer Erkunder der Unendlichkeit, reißt bisweilen via Computer auch noch Witze über seine Behinderung und die große Wissenschaft. Aber es geht auch mit der hohen Kunst des Schreibens, wie der US-Schriftsteller Jim Knipfel bewiesen hat. Als blinder Punk entspricht er ganz besonders den Wünschen des sensationslüsternen Publikums. Seine Kolumne „Blindfisch“ war viele Jahre ein Renner in verschiedenen US-Blättern und sein gleichnamiger Roman fand auch kräftigen Applaus.
Begeisterung auf allen Kanälen, quer durchs Internet und auch in den Feuilletons. Selbst wir sind angesteckt. Das sind doch welche von uns, die den sogenannten Normalen mal gezeigt haben, wo die Flinte und der Rechenschieber hängen und wie eine anständige Story geschrieben wird.
Die sind raus aus dem Reservat, sind aus dem Gebüsch ins Rampenlicht gesprungen, haben Spitzenleistung gebracht. Ihre Behinderung wird dabei keinesfalls vergessen, im Gegenteil, sie gehört zur Steigerung der Sensation dazu. In einer Zeit, die permanent nach Entertainment und Superlativen giert, passen die paar behinderten Stars voll ins Programm. Behinderte wurden, wie Leute aus anderen Reservaten, schon immer gern vorgeführt – früher im Zirkus, heute im Internet.
Klar, wir bedienen diesen Zeitgeist bisweilen auch, kokettieren in unseren Songs und bei den Auftritten durchaus mit unserer Behinderung. Das bringt Aufmerksamkeit und Kohle. Und die brauchen wir in dieser herrlichen Gesellschaft, wenn wir nicht wieder ins Reservat verbannt werden wollen.