arranca!: Seit den frühen 1990er Jahren ist in der Wissenschaft vom «Iconic Turn» (analog zum «linguistic turn») die Rede, der unter anderem den rasanten Bedeutungszuwachs visueller Kommunikation feststellt und eine der Sprachwissenschaft ebenbürtige Bildwissenschaft fordert. Was unterscheidet Bilder denn eigentlich so sehr von der geschriebenen Botschaft, dass dem Umgang mit ihnen eine solche Aufmerksamkeit eingeräumt werden sollte?
Tom Holert: «Iconic Turn» war in den 1990er Jahren im deutschsprachigen Raum die Losung für einen Aufbruch des universitären Fachs Kunstgeschichte zu neuen Arbeits- und Aufgabengebieten. Der Erfolg des Begriffs verdankte sich nicht zuletzt dem Interesse, einen tatsächlichen oder eingebildeten Relevanzverlust des Fachs abzuwenden. Zugleich, in der Bedeutung, die dem Begriff von dem Kunstwissenschaftler Gottfried Böhm gegeben wurde, sollte die Eigenlogik des künstlerischen Bildes gegenüber dem Funktionieren von nichtkünstlerischen Bildern der Massenmedien (Werbung, Gebrauchsgrafik, Musikvideos, politische Propaganda usw.) betont werden. Einerseits ging es darum, Argumente für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit visueller Kommunikation im Allgemeinen zu finden und damit die Untersuchung verbaler und textlicher Kommunikation zu ergänzen und zu erweitern. Andererseits betonte man die «ästhetische Differenz», um Formen des Bildlichen voneinander zu unterscheiden. Das klingt jetzt reichlich akademisch und umständlich und ich hatte davon abgesehen auch immer so meine Probleme damit, wie im Kontext der Iconic-Turn-Debatten die schon für sich fragwürdige Tendenzbehauptung, Bilder hätten Wort und Schrift in einer bestimmten Phase der Kulturentwicklung (im globalen Westen/Norden) den Rang abgelaufen, mit einem forschungspolitischen Anliegen kurzgeschlossen wurde. Ich verzichte lieber darauf, die Wende zum Bild oder zum Visuellen mit einem Datum zu versehen. Stattdessen plädiere ich dafür, Geschichte und Gegenwart mit angemesseneren Begriffen von den Funktionen und Politiken des Visuellen zu untersuchen.
Doch damit habe ich immer noch nicht auf deine Frage nach der Differenz zwischen bildlichen und textlichen Botschaften geantwortet. Vielleicht fehlt mir darauf auch einfach eine befriedigende Antwort. Es kommt in jedem Fall darauf an, auf welcher Ebene diese Frage gestellt und beantwortet wird. Begreift man sie gesellschaftstheoretisch, wäre darüber nachzudenken, wie sozial voraussetzungsreich die Praxis des Textes ist, sowohl in Hinsicht auf seine Produktion wie auf seine Rezeption. Welche Traditionen der Pädagogik oder der Sicherung von Klassenprivilegien beispielsweise gehen mit Vorstellungen darüber einher, wie Sprache und Schrift erworben werden? Während Sprache und Bildung als Einheit betrachtet werden, gelten Bilder als voraussetzungslos – was auch heißen kann: bildungslos, direkt verständlich. Deshalb werden Bilder in der Kindheitspädagogik, in der Analphabetenschulung, in psychologischen Tests, in der Markenwerbung usw. eingesetzt. Aber natürlich sind Bilder nicht voraussetzungslos, weder in Hinblick darauf, wie sie konzipiert und gemacht, noch wie sie betrachtet, interpretiert, verwendet werden. Die vermeintliche Unmittelbarkeit, mit der Bilder wirken (ihre Macht zu überzeugen, ideologisch zu beeinflussen, zu Handlungen zu verleiten oder zu emotionalisieren), ist mindestens so sehr das Ergebnis kultureller Verabredungen und Konventionen wie ein Tatbestand, für den sich anthropologische oder neurowissenschaftliche Erklärungen finden lassen. Das heißt, eine Begründung dafür, warum eine Beschäftigung mit Bildern (oder besser: Bildlichkeiten) sinnvoll ist, steckt gerade in den vielen Ursachen, die für ihre tatsächliche oder behauptete Wirkung verantwortlich sind.
«Wie werden Bilder gemacht, warum erhalten sie eine Öffentlichkeit oder eben keine, wie lässt sich eine Geschichte der Bilder erzählen, die der Geschichtlichkeit der Bilder gerecht wird?»
¿Dein Hinweis auf die Differenz zwischen pädagogischer Vermittlung von Text und Bild und die daraus erwachsenden gesellschaftlichen Implikationen ist sehr interessant. Visuelle Botschaften, wie du ganz richtig sagst, sind ja nur vermeintlich voraussetzungslos. Damit scheint sowohl ein strategisch auf die Affekte zielender Umgang in ihrer Produktion als auch ein solides Verständnis jener Methoden in der Rezeption abhängig von so etwas wie visueller Bildung zu sein. Dies leisten die klassischen Bildungsinstitutionen kaum – siehst du, gerade vor dem Hintergrund global vernetzter Bildräume, Möglichkeiten emanzipatorischer Zugänge, welche in diese Lücke stoßen könnten?
An ausreichend «visueller Bildung» hat es immer schon gemangelt. Viele Initiativen der vergangenen Jahrzehnte reagierten auf dieses tatsächliche oder eingebildete Defizit: von den reformerischen Kunstpädagogiken der vorletzten Jahrhundertwende, über die visual literacy-Kampagne eines John Berger (ein Kunstschriftsteller und Romanautor, der in den frühen 1970er Jahren die so erfolg- wie einflussreiche BBC-TV-Serie Ways of Seeing produziert hat, in der erstmals vor einem größeren Publikum zum Beispiel Fragen der Genderpolitik in Frauenakten der Renaissance oder in der zeitgenössischen Produktwerbung zur Sprache kamen) bis zur Medienwissenschaft der Gegenwart, mit ihren Game Studies, Selfie-Forschungen oder Untersuchungen zum Streaming von «Qualitätsfernsehserien». Am Harun Farocki Institut, das einige Freund*innen, Verwandte und andere Wegbegleiter*innen des 2014 verstorbenen Filmemachers und Bildtheoretikers im Jahr 2015 gegründet haben, verfolgen wir unter anderem eine Spur, die Farocki bereits um 1975 mit der Idee einer «Bilderbibliothek» gelegt hat, in der Dokumentarfilme und andere visuelle Produktionen, die an den Konventionen und Standardisierungen der Fernsehanstalten oder Filmförderung gescheitert sind, zusammengeführt werden sollten. Das zugrundeliegende Interesse, damals wie heute: Wie werden Bilder gemacht, warum erhalten sie eine Öffentlichkeit oder eben keine, wie lässt sich eine Geschichte der Bilder erzählen, die der Geschichtlichkeit der Bilder gerecht wird? Farocki wollte entsprechend ein Institut gründen, «herstellend Material zur Untersuchung der Gegenwart, zukünftig der Vergangenheit.» Dies scheint mir weiterhin, auch unter den von dir angesprochenen Bedingungen global vernetzter Bildräume, eine vielversprechende strategische Offerte zu sein.
¿In der vergangenen Dekade hat sich die Frequenz, in der wir mit professionell konzipierten Bildbotschaften konfrontiert werden, massiv gesteigert. Vernetzung und Big Data versprechen den Sendern dieser Botschaften eine immer maßgeschneidertere Ansprache der Rezipient*innen. Gleichzeitig sind riesige Teile der Weltbevölkerung plötzlich zu Bildproduzent*innen und via Social Media auch zu -distributor*innen geworden. Der alltägliche Umgang mit Bildern ist zu einer Selbstverständlichkeit globaler Alltagskultur geworden. Hat sich das Wissen um einen bewussten kommunikativen Umgang mit Bildern analog dazu popularisiert oder steigt primär die Quantität der produzierten Bilder? Wie würdest du anhand dessen die Verteilung von Macht innerhalb dieses globalen Bildraums einschätzen?
Die wachsende Sättigung des Alltagslebens mit bildgebenden Technologien hat Folgen in vielen Bereichen. Sie setzt die Individuen unter Zugzwang, sich visuell zu artikulieren und zu positionieren. Die Rolle der Bildproduzentin ist inzwischen unumgänglich geworden, es müssten schon große Vermeidungsanstrengungen unternommen werden, um dieser Rolle zu entgehen. Die täglich etwa 2,7 Milliarden geknipsten Fotos weltweit werden schon jetzt überwiegend mit Smartphones gemacht, das heißt, sie dienen vor allem der Selbstdarstellung, der visuellen Protokollierung von alltäglichen Dingen und Ereignissen, touristischen Zwecken oder allem zugleich. Allein die exponentielle Zunahme der Häufigkeit, mit der statistisch die Kamerafunktion verwendet wird, sollte auf eine damit korrespondierende Zunahme an fotografischer Kompetenz, an die Entwicklung von Kriterien für Gelungenheit, an wachsende Erfahrung mit der Wirkung einzelner Bilder usw. schließen lassen. Insofern ist von einer Steigerung der visuellen Möglichkeiten, zumindest in Hinblick auf die Veröffentlichung des (vormalig) Privaten auszugehen. Die unbestreitbare Ausweitung der Produktions- und Distributionsmittel ist aber nicht unbedingt gleichbedeutend mit einer Steigerung der kritischen Reflexion auf das eigene visuelle Tun. Die Ambition, sich unabhängig von herrschenden Normen der Fotogenität zu machen oder die Infragestellung der eigenen Autor*innenposition gehören nicht zum Standardrepertoire der heutigen Kameranutzer*innen. Aber vielleicht täusche ich mich auch und das kollektive visuelle Wissen befähigt längst dazu, die Bildbefangenheiten und -klischees als solche zu erkennen und strategisch einzusetzen, also sich in einem grandiosen Bildzynismus zu üben.
«Der produzierende, konsumierende oder allgemein operierende Gebrauch von Fotografien und Videos ist in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren durch die miteinander verschaltete Entwicklung von Datenverarbeitung und Datenverkehr, von mobilen Computern und dem Internet zu einer Bedingung politischer Praxis geworden, die erst verstanden werden muss.»
Die Frage nach dem möglichen Zusammenhang zwischen der Verbreitung oder Verallgemeinerung des Bildermachens und einem demokratischeren oder besser: egalitäreren Umgang mit Bildern ist ja insbesondere anlässlich der sogenannten Facebook- und Twitter-Revolutionen des Arabischen Frühlings und anderer neuer Formen der politischen Organisierung aufgeworfen worden. Die Aktivierung demokratischer Prozesse scheint hier auch an bestimmte Bilder von Widerstand, Gemeinschaft, Solidarität, Egalität usw. geknüpft, deren Unmittelbarkeit und Schnelligkeit den sozialen Bewegungen zu einer großen Dynamik verhelfen, oft aber auch zu einer gewissen Fetischisierung des mobilisierenden Bildes der Bewegung beitragen. Gleichzeitig wird die Affektproduktion über «machtvolle» und «schockierende» Bilder von populistischen Medien genutzt, um gegenläufige, antidemokratische Stimmungen zu schüren, die zum Beispiel auf den Ausbau der «inneren Sicherheit», die Militarisierung nationaler Grenzen oder eine völkisch grundierte Ausschließung bestimmter Menschen hinauslaufen. Über das globale Maß an Aufgeklärtheit und Selbstreflexivität im Umgang mit Datenkonfigurationen, die durch gewisse technische und soziale Maßnahmen zur Sichtbarkeit gebracht worden sind und die wir gewohnheitsmäßig «Bilder» nennen, lässt sich nur spekulieren. Der produzierende, konsumierende oder allgemein operierende Gebrauch von Fotografien und Videos ist in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren durch die miteinander verschaltete Entwicklung von Datenverarbeitung und Datenverkehr, von mobilen Computern und dem Internet zu einer Bedingung politischer Praxis geworden, die erst verstanden werden muss. Dass jede*r Besitzer*in eines Smartphone heute sehr viel umstandsloser und selbstverständlicher Bilder machen und online (ver)teilen kann, bedeutet ja nicht, dass damit automatisch demokratischere Bildverhältnisse geschaffen worden wären. Die populistische Instrumentalisierung von Bildern, etwa zur Markierung der unerwünschten Anderen oder zur Suggestion eines gefährdeten Sicherheitsgefühls, die Lockerung jeder Affektkontrolle in den Kommentarbereichen und Chatrooms, in denen willkürlich dekontextualisierte Bilder den Hatespeech-Sound untermalen, zeugen von einer bedrohlich antidemokratischen Bildpraxis. Dabei geht es nicht nur darum, was vermeintlich widerspruchsfrei «zu sehen» ist. Tatsächlich egalitäre Zustände sind nur über konsequente Kämpfe um wachsende Transparenz der technischen Protokolle, über die beharrliche Kritik am Einfluss von Presets und Interfaces auf das Bildermachen und über eine, letztlich mit juristischen Mitteln zu führende Diskussion der im Kleingedruckten geregelten Eigentumsverhältnisse in Bezug auf Bilder zu erreichen. All dies und sehr viel mehr gehört zu einer visuellen Alphabetisierung, die ja nie abgeschlossen sein kann. In Sachen Bilder sind wir zu lebenslangem Lernen verdonnert. Und diese Lernprozesse bringen im besten Fall die politische und die ökonomische Dimension visueller Praktiken zum Vorschein.
Übrigens: Der eine globale Bildraum, von dem du in deiner Frage sprichst, existiert meiner Ansicht nach nicht. Stattdessen gibt es eine Vielzahl, allerdings oft miteinander verbundener geokultureller Bildräume, die von regionalen Konventionen des Visuellen, von Genrevorlieben oder von spezifisch organisierten Medienökonomien bestimmt sind (wobei diese Bildräume wiederum wandern und eine globale Wirkung entfalten können, Beispiel: Hollywood, Bollywood oder Nollywood). Handeln in Bildräumen heißt deshalb immer auch, zunächst die lokalen Besonderheiten des Bildraums, in dem agiert wird, zu erkennen und zu politisieren. So lohnt es sich, die visuelle «Normalität» einer bestimmten Weltregion oder eines bestimmten Ortes (und sei dieser virtuell, im Netz lokalisiert) zu bestimmen, um daraus Schlüsse zu ziehen für die eigenen Strategien, die Verhältnisse in einem solchen Bildraum zu verändern.
¿Lass uns über das Realitätsversprechen von Bildlichkeiten sprechen: René Magritte hat im Jahr 1929 mit La trahison des images bereits auf den fundamentalen Unterschied zwischen einer Realität und ihrem visuellen Abbild verwiesen, indem er die Rezipient*innen mit der relativ banalen Erkenntnis konfrontierte, dass ein Bild einer Pfeife eben ein Bild einer Pfeife und keine Pfeife sei. Michel Foucault hat 46 Jahre später in seiner Interpretation des Bildes darauf hingewiesen, dass Magritte mit der Formulierung des scheinbaren Paradoxons «Ceci n’est pas une pipe» die Rezipient*innen auffordert, nicht nur das Abbild eines Gegenstandes in Frage zu stellen, sondern ebenso die Realität jenes Gegenstands. Dass Bildmanipulation (so alt wie die Bildproduktion selbst) spätestens mit den digitalen Bildbearbeitungsmöglichkeiten Gang und Gäbe ist, ist eine durchaus weit verbreitete Erkenntnis, doch trotzdem scheint es immer noch einen unerschütterlichen Glauben in die Authentizität von Bildern als einem getreuen Abbild einer objektiven Realität zu geben. Wie erklärst du dir das und wie haben sich die Parameter dessen, was als authentisch empfunden wird, verschoben?
Ja, das anhaltende Vertrauen in den Realitätsgehalt von – im weitesten Sinne: fotografischen – Bildern, in ihre Glaubwürdigkeit als Ab-Bilder einer ihnen äußeren Wirklichkeit ist erstaunlich. Besonders, wie du ja andeutest, angesichts des durch die Digitalisierung radikal veränderten Status der Fotografie und anderer mechanischer oder elektronischer Verfahren der Bildaufzeichnung bzw. Bildgebung. So wie heute fotografische oder videografische Bilder überwiegend entstehen, müsste eigentlich ständig eine bildtheoretische Anleitung beigelegt werden. Wer denkt schon regelmäßig über den Einfluss von Algorithmen für Musterkennung oder Licht- und Farbkorrektur nach, die in Smartphonekameras in einer Art permanenter Postproduktion das jeweilige Bildergebnis «optimieren»? Dabei ist es – auch politisch – wichtig, sich klarzumachen, in welchem Maß die Computerisierung des Bildes, die Verschiebung von den chemischen Verfahren der Fotografie zum Bild als Resultat von Rechenprozessen das visuelle Verhalten und die Bedeutungsproduktion durch Bilder verändert. Trotzdem gibt es tatsächlich ein großes Interesse daran, Bilder für wahr oder wie du sagst, authentisch zu halten. Ich vermute, dass die Digitalisierung der Kommunikation ganz generell, das heißt, die Formatierung des Alltags durch eben jene, ständig erneuerten Algorithmen, die den Plattformen und Infrastrukturen der sogenannten sozialen Medien wie Facebook, Twitter, Instagram, Pinterest oder ähnlichen zu ihrer Wirkung und Reichweite verhelfen, zu einer Neubewertung von Subjektivität als Garant von Authentizität geführt hat. Denn das Bild, dem alle glauben, ist das verwackelte Handyvideo der «Augenzeugin» oder eben das Selfie. Paradoxerweise sind also Bilder dort besonders glaubwürdig und mit Autor*innenschaft assoziiert, wo besonders viel Rechenaufwand betrieben wird, um die unzureichende Qualität der optischen Linsen in handheld devices auszugleichen. Als authentisch werden Bilder wahrgenommen, die nicht von Profis, sondern von Amateur*innen stammen und die Amateur*innen bei ihren Verrichtungen oder die Eintönigkeit irgendeines Alltagslebens zeigen. Zudem ist die Glaubwürdigkeit von Bildern immer noch an die Person gekoppelt, die die Kamera bedient. Dagegen betonen viele der interessanteren Theorien des Visuellen die vielfältigen ideologischen, gesellschaftlichen, ökonomischen oder technologischen «Rahmungen» von Bildern. Die konkrete Fotografie, das konkrete Video ist danach immer das Ergebnis eines Prozesses, an dem eine Vielzahl von Akteuren und Diskursen beteiligt ist.
«Dass heute, als Konsequenz der Digitalisierung von Allem, die Möglichkeiten, noch so avancierte, eigentlich unbezahlbar scheinende Bildlichkeiten für die eigenen Zwecke zu nutzen, sehr viel größer sind als zu Beginn des letzten Jahrhunderts, steigert das Überraschungs- und Überrumpelungspotential solcher Interventionen.»
¿Wenden wir den Blick eben dieser «Rahmung» zu. Ist es aus dieser Perspektive überhaupt möglich, im avantgardistischen Sinne in sich emanzipatorische Bilder zu produzieren, wie es beispielsweise die konstruktivistischen Strömungen der jungen Sowjetunion versuchten? Oder geht es vielmehr um strategische Interventionen in fluide Diskurse, die eben auch stets in Bildform verhandelt werden?
Die Konstruktivist*innen der Jahre nach der Oktoberrevolution haben ja auch nicht unabhängig von derartigen Rahmungen operiert. Wie hätten sie auch? Der Gestus mag einer der Stunde Null, des absoluten Neubeginns gewesen sein, aber auch dieser war ja um 1917 schon ein paar Male geprobt worden, mitsamt dazugehöriger utopischer Ikonografien und Architekturen (man denke nur an die Science Fiction der Kugel- und Pyramidenarchitekturen eines Étienne-Louis Boullée vor und während der Französischen Revolution). Insofern haben auch El Lissitzky, Tatlin, Popova und die anderen zumindest formsprachlich etwas fortgesetzt und umgeschrieben, was dazu in einem intensiven Dialog mit dem kommerziellen Design und der Industriearchitektur der Zeit stand, von propagandistischen Einsätzen ganz zu schweigen. Die punktuelle emanzipatorische Wirkung von Bildern muss durch solche Kontextualität nicht verhindert werden. Im Gegenteil, sie kann sich eigentlich nur auf dieser Basis entfalten. Dass heute, als Konsequenz der Digitalisierung von Allem, die Möglichkeiten, noch so avancierte, eigentlich unbezahlbar scheinende Bildlichkeiten für die eigenen Zwecke zu nutzen, sehr viel größer sind als zu Beginn des letzten Jahrhunderts, steigert das Überraschungs- und Überrumpelungspotential solcher Interventionen. Zugleich verringert es deren Halbwertszeit, deren Wirkperioden enorm. Strategien der Ikonisierung etwa müssen heute immer damit rechnen, nach kürzester Zeit obsolet, fad, dated zu erscheinen. Andererseits rüsten sich inzwischen auch rechtsradikale Gruppen wie die «Identitären» oder die Dschihadist*innen des «IS» mit einem Erscheinungsbild aus, das die Frage nach einer gezielten, planbaren, strategischen Fortschrittlichkeit des Visuellen in ein trübes Licht taucht.