Wie dieser richtet er sich an die Protagonisten der gegenseitigen Vernichtung in den Armenviertel, sich nicht gegenseitig abzuknallen, will also nicht nur darstellen, sondern intervenieren. Aber im Gegensatz zu Singleton bieten die Hughes Brothers keine Handlungsperspektive an. Es gibt keinen schwarzen Hollywoodpappi, dessen moralische Appelle, Strenge oder Zuneigung irgend etwas retten könnten, keine Familie, und schon gar keine solidarische Bewegung mit politischer Perspektive.
Die von Tyger Williams, der ebenfalls erst 23 ist, und den Hughes Brothers gemeinsam geschriebene Story ist angenehm unaufdringlich erzählt. Das allein macht den Film bereits sehenswert. Weder drückt die Geschichte auf die Tränendrüse noch erheben irgendwelche Sympathieträger ihre Zeigefinger. Die Pädagogik des Films beschränkt sich auf das Aufzeigen von Zusammenhängen. Die Schlußfolgerungen werden den Zuschauern überlassen. Das ist fair und vielleicht der Tatsache geschuldet, daß die Regisseure jung genug sind, um sich noch daran zu erinnern, wie lästig explizite Ermahnungen sind, mit denen einem das selbständige Denken abgenommen werden soll. Die Hauptperson von Menace II Society ist der 20jährige Caine (Tyrin Turner), ein Waise aus Watts, dem Viertel von Los Angeles, in dem 1965 die großen Unruhen brutal niedergeschlagen wurden und in dem sich heute das soziale Elend als Krieg zwischen den BewohnerInnen widerspiegelt.
Caine ist eine Durchschnittsperson. Sein Vater ist erschossen worden, die Mutter am Heroin kaputt gegangen und er selbst bei den Großeltern aufgewachsen. Das klingt etwas melodramatisch, ist aber eben in vielen kapitalistischen Großstädten kein spektakulärer Sonderfall. Es ist oft genug festgestellt worden, daß schwarze Männer in den USA eine niedrigere Lebenserwartung haben als Männer in Bangladesh. Vor diesem Hintergrund ist Caine keine Ausnahme, kein personifiziertes Elend, eher eine brave, in keiner Hinsicht übertriebene Person. Vielleicht etwas intelligenter als der Durchschnitt, man traut ihm von Anfang an zu, daß er der „eine von fünfen“ ist, der es im Ghetto schaffen kann. Eigentlich sogar mehr als das, man vertraut darauf.
Der roten Faden der Geschichte ist die Unerträglichkeit, wegen welcher Nichtigkeiten getötet wird. Gleich in der ersten Szene erschießt der 17jährige O-Dog – „America’s nightmare“ wie Caine anerkennend kommentiert – einen koreanischen Ladenbesitzer, weil dieser mißtrauisch gegenüber seinen schwarzen Kunden war. Es ist die zu einer Sequenz zusammengepreßte Darstellung der rassistischen Spaltungslinien im Ghetto. Der Film macht jedoch von Anfang an klar, daß diese Selbstzerstörung nicht kulturell bedingt oder zufällig ist. Sie ist Konsequenz sozialer und ökonomischer Unterdrückung, die sich nicht aufs Ghetto beschränkt und im Zweifelsfall mit Waffengewalt aufrecht erhalten wird. Auf den Vorfall im Lebensmittelhandel folgen Dokumentaraufnahmen vom Aufstand 1965. Panzer rollen durchs Bild und Nationalgardisten prügeln auf schwarze Bewohnerinnen ein.
„Danach kamen die Drogen“, sagt Caine aus dem Off. Ganz offensichtlich auch kein Zufall. Die immense Verbreitung von Heroin und später von Crack war immer schon ein staatlich akzeptiertes Mittel zur Lähmung des aufbrechenden schwarzen Widerstands. Im Film werfen die Drogen die Leute ins Nichts. Im schmierigen Licht einer miesen Party wird der 5jährige Caine Zeuge, wie sein Vater einen Freund wegen ein paar Dollar Schulden erschießt. Damit ist aufgezeigt, wie der Zustand geschaffen wurde, der sich bis heute reproduziert, eine sich im Kreis drehende, immer schneller rotierende Geschichte.
Gleich zu Beginn vermitteln die Hughes damit unter der Hand die politische Dimension der überall lamentierten „Gewalt in den Ghettos“. Dabei verzichten sie jedoch – wie schon gesagt – auf platte Vereinfachungen und agitatorische Schuldzuweisungen.
Caine ist eine auswechselbare, eine exemplarische Person, deren Handeln von den Verhältnissen diktiert wird. Er gerät in den Strudel des Krieges, obwohl er ein Softie ist. An einer Ampel fahren maskierte Jungs aus der Nachbarschaft an den BMW seines Cousins heran. Caine kommt aus dem Wagen heraus und wird schwer verletzt, der Vetter Harold sofort erschossen. Die Situation ist lapidar geschildert, aber aussagekräftig: Die Misere, der BMW mit den goldenen Felgen und das Verhalten der Autodiebe passen schlicht zusammen. Die erste Handbewegung des neuen Besitzers ist das Wischen mit dem Handrücken an der blutbespritzten Innenseite der Windschutzscheibe.
Dabei wird nicht nur der Run auf kapitalistische Statussymbole dargestellt, sondern auch die Widerlichkelt des Krepierens. In Menace II Society stirbt niemand Kleenex-hygienisch. Die Einschüsse von Kugeln gleichen einem Platzen der Körper, einem echten Zerfetztwerden. Das Kinopublikum sieht mit an, wie ein Angeschossener, in dieser Szene Caine, dahingeht. Nach Luft ringend, Blut rotzend, röchelnd. Genau diese Unerträglichkelt wird – wieder einmal unauffällig – mit dem Schwachsinn des Gangster-Mythos in Verbindung gesetzt. Caine, dessen blutüberlaufener Körper gerade noch die Leinwand vollsaute, liegt nach dem Schnitt verbunden im Bett und schaut einen 50er-Jahre-Film, in dem wie mit Knallfröschen aufeinander geschossen wird. Steril und unbedeutend. Das Geniale der Einstellung ist, daß sie nur den Bruchteil einer Sekunde ausmacht.
Caine, der nie getötet hat, handelt den Umständen entsprechend. Mit zwei Freunden erschießt er die Mörder seines Cousins – undramatisch und ohne Stilisierung. Caine ist zwar nervös und voller Skrupel – er will keine Unbeteiligten töten –, aber der Mord an sich ist kein Ereignis.
Nach einer Festnahme wegen Autodiebstahls – der einzige Weiße im Film, ein schmieriger, unterwürfiger Versicherungsbetrüger, beauftragt Caine und O-Dog, einen Wagen zu klauen –, zieht sich die Schlinge allmählich zu. Die exemplarische Person muß sich entscheiden. Der Black Muslim Sharif schlägt vor, nach Kansas zu gehen. Das Verlassen des Ghettos wird zur einzigen Möglichkeit, dem Tod zu entgehen. Auch die von Jada Pinkett gespielte Freundin Ronnie, die klarste Persönlichkeit der Story, versucht Caine zu überreden, mit ihr die Stadt zu verlassen. Zwischen den beiden entwickelt sich eine sympathische Liebesgeschichte (unkitschig, aber leidenschaftlich), was auch dazu dient, das Happy End in greifbare Nähe zu rücken.
Aber genau zu solchen „Lösungsmöglichkeiten“ läßt sich der Film nicht hinreißen. Was folgt, ist die existentialistische, unausweichliche Katastrophe. Am Tag des lJmzugs werden Caine und ausgerechnet der harmlose, diszipliniette Sharif von maskierten Jugendlichen von ein paar Straßen weiter durchlöchert. Caine soll eine Frau geschwängert haben – ob es so ist, bleibt unklar –, und wird von den Jugendlichen dafür umgebracht, daß er eine der ihren gedissed hat.
Ausgerechnet O-Dog, dem es in seiner Kaputtheit immer egal war, ob er stirbt, überlebt die SchießereL Er, der seine Waffe zieht und zurückschießt, kommt noch einmal davon. Only the stronger survive, heißt es in Jerry Butlers Lied am Schluß. Wolfsgesetz pur.
Das wirklich erstaunliche an Menace II Society ist, daß der Film trotz des Themas extrem differenziert geblieben ist. Die Geschichte kommt ohne Schemen aus. Nicht in einer einzigen Sequenz werden Weisheiten angeboten, alle möglichen Alternativen zum offensichtlichen Gemetzel werden in ihrer Begrenztheit präsentiert.
So ist Ronnie, die ihre ganze Kraft darauf verwendet, ihr Kind anders, nämlich disziplinierter und liebevoller zu erziehen und deswegen beschließt wegzugehen, zwar eindeutige Sympathieträgerin, aber sie wird anders als der alleinerziehendeVater in Singietons Boyz n the Hood nicht zur Überfigur hochstilisiert. Man begrüßt ihr Entsetzen, als sie sieht, wie Caine ihrem Sohn die Pistole zeigt, trotzdem ist ihre klassisch-familiäre Antwort auf die Verhältnisse (Zuneigung und Erziehung zur Disziplin) nicht zur Strategie aufgebaut. Das unterscheidet den Film von einem nicht gerade kleinen Kreis auch linker Intellektueller, die die Familie als Gegenpol des um sich greifenden sozialen Verfalls propagieren.
Auch Religion wird von den Hughes Brothers nicht als Lösung akzeptiert. Sie verwerfen bissig die emphatische, unterwürfige Gläubigkeit der alten Ghetto-Generation. Unter kitschigen Bildern eines weißen Jesus zitiert der Großvater Caines endlos aus Moses II, um die die Jugendlichen zu einem anderen Leben zu bewegen. Seine hilflosen Moralpredigten wirken dabei, als ob sie sich aus Onkel Toms Hütten in die Millionenmetropole Los Angeles hinübergerettet hätten. Dem schwarzen Christentum wird ein sklavischer Unterton vorgehalten, unpolitisch und irgendwie darauf bedacht, „anständige Staatsbürger“ zu erziehen.
Der Islam des jungen schwarzen Muslim Sharif dagegen, eigentlich eine sympathische Person, ist eine der zahlreichen exzentrischen Spinnereien der Hood, mit dem großen Unterschied, daß sie nicht in Selbstzerstörung und Brutalität ausartet. Sharif ist friedlich, überzeugt, aber trotzdem symbolisiert er in keiner Weise den Ausweg. Sein Verhalten ist ironisch überzogen, gleich am Anfang des Films tritt er mit dickem Kapuzen-Pulli auf und verkündet, daß das „ kalte Klima Kaliforniens nichts für uns Afrikaner ist“.
Es verwundert bei dieser distanzierten Darstellung, daß die Hughes Brothers den Film unter anderem der afroamerikanischen Nation of Islam gewidmet haben. Vielleicht ist ihre Identifikation mit der Nation größer als der Film transportiert, vielleicht aber bekunden sie mit der Widmung auch nur ihren prinzipiellen Respekt für diese Form der Organisierung. Denn eines in Menace II Society ist unübersehbar: Jede Person wird in bester materialistischer Tradtition vor dem Hintergrund der sozialen Wirklichkeit geschildert. Von daher gibt es keine „Schlechten“ in der Story. Jedem Verhalten, mit Ausnahme des aggressiven Sexismus, wird mit Verständnis begegnet.
Handlungsanweisungen und allzu klare Identifikationsmuster bleiben also aus. Die Katastrophe zum Ende des Films – man empfindet sie wörtlich als solche, denn im Verlauf der Geschichte entwickelt sich ein geradezu physisches Verlangen nach dem Happy End – ist der geniale Wendepunkt im Drehbuch. Denn einerseits zeigt die Geschichte, daß es für die Mehrzahl der Ghetto-Bewohnerinnen keinen politischen Ausweg gibt, andererseits propagieren Hughes und Williams aber auch keine individualistische Strategie nach dem Motto „Haut ab, solange ihr noch könnt“.
„Ihr seid Schwarze in Amerika. Die Jagd hat begonnen. Ihr müßt überleben“
Die Revolte, die Auflösung im Ghetto-Aufstand wie in Spike Lees Do the Right Thing ist die Ausnahmeerscheinung, die man nicht überflüßig mystiflzieren sollte. Für die meisten Jugendlichen gibt es weder die sofortige politische Lösung noch die rettende Familie. Hughes und Williams würden sicherlich nicht widersprechen, daß jede Form gerechtfertigt ist, um das Morden in der Community zu stoppen. Aber sie selbst entwerfen keine Konzepte. Sie stellen dar, die Entscheidung überlassen sie dem Publikum. Nur eines soll es sich bewußt machen, und das ist der Satz von Sharifs Vater: „Ihr seid Schwarze in Amerika. Die Jagd hat begonnen. Ihr müßt überleben“. Klar, werden sie überall Schwarze bleiben, wie Caine sagt, aber nicht überall werden sie deshalb krepieren.
In seiner Methode hat der Film denn auch einem Publikum in Europa mehr zu bieten, als es zunächst den Anschein hat. Jenseits hipper Beschäftigung der westdeutschen esselfurzerlinken (von der wir alle noch viel zu viel an uns haben) mit schwarzer Identität, Musik, Kunst, Film, hat Menace II Society etwas zu sagen.
Einmal nämlich ist die Mystifikation des Gangsters als Rebellen (der Gangsterism) unter proletarischen Jugendlichen, denen der Zugang zum Konsum zunehmend verstellt ist, auch in der BRD weit verbreitet. Vor allem Immigrantenjugendliche, die in ähnllcher Weise rassistisch diskriminiert und materiell benachteiligt sind wie Schwarze in den USA, haben den Kult des Ghettos und der Banden schon lange aufgegriffen. Die Sehnsucht nach Stärke, die eigenen tribalen Rules, die Hoffnungslosigkeit, die Brutalität ihrer Reaktionen, wenn sie gedissed werden, all das ist gar nicht so anders als es in Menace II Society dargestellt wird. Diejenigen unter den proletarischen Jugendlichen der Großstädte, die davon träumen, sich als Gangster ein Leben aufzubauen, weil sie es anders nicht schaffen (und das sind nicht so wenige), können am Film die grenzenlose Kaputtheit des Gangsterkults erkennen. Nach hippigen Filmen, Rap-Schlagern und dem Videogewaltschrott á la Rambo eine gute Gegenimpfung.
Zum anderen jedoch wäre Menace II Society auch ein Film für sich verbalradikal gebärdende Linke. Diese hat in der Regel von der Unterklassenrealität kaum eine Ahnung. Die Parole „Bildet Banden“ dokumentiert die Unkenntnis über den sozialen Gehalt des überwiegenden Teils der Bandenkultur. Und viele von denjenigen, die die soziale Situation der Unterlegenen sogar kennen, huldigen einem idiotischen Militanzfetisch.
Menace II Society zeigt diejenigen, die aus der selbstorganisierten Bandenkultur kommen und wahrscheinlich beim Ghetto-Aufstand vorne weg waren, von ihrer übelsten Seite. O-Dog beispielsweise holt sich im koreanischen Lebensmittelhandel, gleich nachdem er den Inhaber erschossen hat, die Video-Kasette, auf der die Szene an der Kasse aufgezeichnet ist. Er zerstört das Beweismittel nicht, er schaut es sich mit seinen Freunden beim Biertrinken an. Daß Militanz kein Maßstab der Radikalisierung sein kann, wird nicht nur in dieser Szene ziemlich offensichtlich.
Noch wichtiger jedoch ist, daß der Film zeigt, welche Probleme konkret beantwortet werden müssen. In Menace II Society beschränkt sich die „politische“ Strategie zunächst aufs physische Überleben. Daß das nicht alles sein kann, dürfte auch Hughes und Williams klar sein. Sie stellen allerdings fest, daß es ohne diesen Anfang nichts gibt. Bei uns geht es um mehr als ums überleben, aber auch nicht um allzuviel mehr. Die schreienden Probleme einer härter werdenden sozialen Wirklichkeit können nicht agitatorisch mit großen politischen Entwürfen abgehandelt werden. Das haben die Hughes Brothers in ihrem Film meisterhaft gezeigt. Widerstand hat ganz unten anzusetzen, bei der Fähigkeit sich zu behaupten. Wer auf die Alltagsprobleme von Wohnung, Arbeit, Lehre, Schule usw. keine Antworten zu finden versucht, der hat auch kein politisches Projekt zu bieten. Von „ganz unten“ müsse man ansetzen, schrieb Karl Heinz Roth 1989. Die Hughes Brothers setzen noch weiter unten an: Es ist schon ein Erfolg, wenn sich die Community nicht mehr gegenseitig umbringt. Das ist der soziale Gehalt der Revolution: gegen die soziale Zerstörung im Kapitalismus allmählich wieder solidarische, gemeinsame Antworten zu entwickeln. Ohne das ist alles nichts.
The hunt is on.