arranca!: Hier war über die Jugendunruhen nicht viel zu hören. Man bekam mit, daß in Paris wegen des Gesetzesprojektes von Bollodur Hunderttausende auf der Straße waren. Bollodur wollte, daß Arbeitsanfänger nur 80% des Mindestlohnes verdienen sollten, angeblich, um ihre Integration in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. ln Wirklichkeit wurde damit der gesetztlieh festgesetzte Mindestlohn gesenkt. Durch die Massenproteste wurde das dann zu Fall gebracht. Was war los?
Es gab in ganz Frankreich Demonstrationen. Wirklich bedeutend waren sie aber nur in Paris, Nantes und Lyon. Dort waren nicht nur Schülerinnen und Studentinnen auf der Straße. Es gab auch viele Arbeitslose und Jugendliche aus den Vorstädten, die sich an den Unruhen beteiligten. Politiker, Polizei und Gewerkschaften versuchten, diese Bewegung zu spalten. Es hieß, daß die StudentInnen an den Krawallen nicht beteiligt gewesen seien, daß der friedliche Protest nur von ein paar Spinnern aus den Vorstädten zu Unruhen gemacht worden sei. Das stimmte nicht. Die Jugendlichen aus den Vorstädten waren anfangs gar nicht auf den Demos. Sie, die Arbeitslosen, waren von dem Gesetzesprojekt auch nicht betroffen. Erst nach den ersten Unruhen kamen auch sie dazu.
¿Aber alle Demonstrationen standen im Zusammenhang mit dem Gesetzesprojekt?
Ja, überall ging es darum. In Paris fand die größte Demonstration statt. In Lyon waren es ein paar tausend, die auf der Straße waren. Zu den Unruhen in Lyon kam es, weil die Bullen Jugendliche angriffen. Vormittags hatten die Gewerkschaften eine Demo organisiert. Um 12 hieß es dann: „Wir gehen alle nach Hause, nur die Krawallmacher bleiben hier“. Allein aus Solidarität blieb die Hälfte der Jugendlichen auf dem Platz zurück. Die Bullen haben uns dort mit CS-Gas angegriffen und in die Straßen getrieben. Damit gingen die Unruhen los. Du weißt, wie das ist: Die Leute laufen durch die Straßen und schmeißen dabei die Scheiben der teuren Geschäfte ein.
In Lyon waren die Unruhen anders als in Paris. Es gab keine richtigen Straßenschlachten, sondern einfach nur Angriffe auf teure Läden und Plünderungen. Nach diesen Auseinandersetzungen kamen die Leute nicht mehr nur wegen dem Gesetzesprojekt Viele Studentinnen, die am Anfang „keine Gewalt“ gerufen hatten, schmissen nach 2 Tagen selber Steine. Die Erfahrung mit den Bullen ging allen unter die Haut. Politiker und Medien bemühten sich dann um einen „Dialog“. Das Gesetz wurde zurückgenommen, Studentinnen in Talkshows eingeladen.
¿Entstanden bei dieser Radikalisierung neue Forderungen, die über die Ablehnung des Gesetzesprojektes hinausgingen?
Nein, das kann man nicht sagen. Die Studentinnen haben sich sehr schnell zurückgezogen, als das Gesetz gestoppt wurde. Es war ihnen egal, daß es Inhaftierte gab. Auch für die Abschiebung algerischer Jugendlicher, die von der Regierung ohne jede Gesetzesgrundlage ausgeflogen wurden, interessierten sie sich nicht.
¿Aber die Bewegung ging doch nach der Gesetzesrücknahme weiter?
Nein, manche haben versucht, die Bewegung zu verlängern. Die letzte große Demo fand aber nur noch statt, weil die Mobilisierung bereits gelaufen war. Die Regierung hatte das Projekt bereits zurückgenommen. Man ging nur noch auf die Straße, um den Sieg zu feiern.
Was hat es mit den Lyoner Riots im April auf sich? Nach dem Fall des Gesetzesprojekts gab es noch vier Mal im daraufolgenden Monat Unruhen.
Das ist etwas ganz anderes. Diese Unruhen sind in den Vorstädten nichts Besonderes und haben ganz andere Ursachen. Meistens brechen sie aus, wenn die Bullen einen Immigrantenjugendlichen erschießen oder schwer verletzen. Diese Riots in der Banlieue interessieren die Medien in Frankreich nicht. Was in den Vorstädten kaputt gemacht werden kann, hat sowieso keinen Wert für die Regierung. Obwohl die Bullen dort viel brutaler auf Unruhen reagieren, gibt es keine Resonanz in der Öffentlichkeit. Die Riots gegen das Projekt Balladur wurden beachtet, weil sie sich in den Innenstädten abspielten und auch von Studentinnen getragen wurden. In der Banlieue ist das nicht der Fall.
Es ist im übrigen auch für uns schwer, mit den Jugendlichen in der Banlieue etwas zu tun zu haben, wenn du nicht selbst von dort und Immigrant bist. Freunde von uns wurden vor 2 Jahren bei einem Riot von Jugendlichen geschlagen, weil sie als Fremde in den Stadtteil gekommen waren.
¿Also stecken hinter den Unruhen im Frühjahr eigentlich zwei unabhängige Bewegungen: die Immigrantenjugendlichen aus der Vorstadt und die StudentInnen- und Schülerlnnen-Bewegung, die gegen das Gesetzesprojekt demonstriert?
Ja. Bei den Protesten gegen Balladur hat sich das eine Zeit lang vermischt. Auch StudentInnen wurden militant. Der Versuch der Regierung, das zu trennen, hat aber eine reale Grundlage. Die Bewegung gegen das Gesetzesprojekt war politisch von Gewerkschaften und Studentenverbänden kontrolliert.
¿Gibt es eine eigenständige Organisationsform unter den jugendlichen Immigrantinnen in der Banlieue?
Es gibt nur die Gangs. Man haßt die Bullen, aber man erhebt keine politischen Forderungen. Ich kenne keine einzige politische Gruppe oder Organisation, die dort eine Rolle spielen würde.
¿Und wer hatte den größten Einfluß auf die Studentinnen?
Die Gewerkschaften. Sie haben die Bewegung vereinnahmt. Sie haben, ohne die Leute zu fragen, mit der Regierung verhandelt und sich als Organisatoren der Demonstrationen aufgespielt. Von den Studentenverbänden war der sozialistische der wichtigste. Und alle haben sich von den Riots distanziert.
¿Was war an den Unruhen in diesem Frühjahr neu?
Im Gegensatz zu den letzten Jahren haben sich viele SchülerInnen und StudentInnen politisiert. Mehr als 50% der Riotters waren unter 18 Jahre alt, der Durchschnitt war also sehr jung. Außerdem merkte man, daß es den Leuten nicht mehr nur um ihre Karriere und ihr gutes Auskommen geht.
¿Hat sich die soziale Situation für Jugendliche in den letzten Jahren deutlich verschlechtert, oder war es ein Zufall, daß die Unruhen gerade jetzt ausbrachen?
Die soziale Lage ist für manche Leute schon länger sehr schlecht, vor allem natürlich in der Banlieue. Was aber schlimmer geworden ist, ist die rassistische Regierungspolitik. Seit einem Jahr ist wieder Pasqua Innenminister. Als er das letzte Mal in diesem Amt war, 1986, sind bei Schülerdemonstrationen Leute umgekommen. Jetzt verfolgt Pasqua eine brutale Abschiebepolitik. Jugendliche werden nach Algerien ausgeflogen.
Wie versucht die Regierung eigentlich, auf die Situation in der Banlieue zu reagieren? Ich habe neulich einmal gehört, daß einzelne Bürgermeister in der Pariser Vorstadt sogar für die Sprengung der Hochhaussiedlungen plädieren, um illegale Besetzungen zu verhindern.
Davon weiß ich nichts. Aber natürlich wird die Regierung versuchen, die Bevölkerung in den Stadtteilen stärker zu mischen. Die Konzentration der Armut führt zu einer Solidarität, die die Bullen nicht mehr richtig kontrollieren können.
In Lyon haben wir erlebt, wie Stadtteile, die hauptsächlich von AraberInnen bewohnt waren, zunehmend in Geschäftszentren umgewandelt wurden. Die Bevölkerung wurde in die Vorstädte verdrängt. Dort werden jetzt ein paar Sportplätze gebaut, damit die Leute ruhig bleiben. Aber solche Ausgaben sind nur Kleinigkeiten, wesentliches wird nicht geändert.
¿Ihr habt gesagt, daß es – soweit Ihr Bescheid wißt – unter den jugendlichen ImmigrantInnen kaum politische Gruppen gibt. Welche Rolle spielt der HipHop bei der politischen Artikulation der Jugendlichen?
Vor allem in Paris eine große. Die meisten HipHop-Gruppen machen auch politische Texte, sie singen von den Reichen und den Bullen, von ihrer eigenen Situation. In Lyon gibt es keine große Musikszene, aber auch da wächst der Einfluß von HipHop und afrikanischer Musik.
Es gibt in Frankreich vor allem 2 bekannte HipHop-Gruppen, nämlich NTM und IM, die als Sprachrohr der Vorstädte gelten. Immer wenn in Talkshows über die Lage der Imigrantenjugendlichen geredet wird, lädt man eine der beiden Gruppen ein. Dort beschimpfen sie dann Politiker und Journalisten.