«Wir müssen die Krise nutzen, denn jetzt sind die Menschen reif»
Tyll Necker
Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, 1993
Die Ausstellung und das Seminar bezogen sich auf den 9. November 1989 und die sozialen Umwälzungen seitdem. Unser Hauptinteresse lag darauf, daß die momentanen Veränderungen wie Reallohnabbau, rassistische Überfälle, verschärfter Existenzdruck usw. nicht vorübergehende Krisenerscheinungen sind, sondern Elemente einer bleibenden Transformation Deutschlands darstellen. Der soziale Umbau ist umfassend und würde eigentlich den gemeinsamen, organisierten Widerstand von so unterschiedlichen betroffenen Gruppen wie Immigrantinnen, Teilen der Gewerkschaften, Fraueninitiativen, Behinderten, antimilitaristischen Gruppen etc. nötig und möglich machen. Die Entwicklung der letzten Jahre ist im folgenden skizziert.
Die Krise des Keynesanismus?1
Anfang der 70er Jahre war das bestimmende wirtschaftspolitische Modell der Nachkriegszeit, der Keynesianismus, in die Krise geraten. Seit dem New Deal in den USA, aber auch mit den Nazis in Deutschland, war weltweit ein politisches Konzept verfolgt worden, das der Massenproduktion von Gütern (Fordismus) angepaßt war und sich zentral durch die Institutionalisierung des Klassenkampfs2 auszeichnete. Die Arbeiterklasse erlangte mit dem Keynesianismus zum ersten Mal in der Geschichte der Industriegesellschaften eine signifikante Beteiligung am gesellschaftlichen Konsum und an der politischen Macht.
Dies war a) der Notwendigkeit geschuldet, daß die in Massenfertigung hergestellten Güter abgesetzt werden mußten, und b) auf die Tatsache zurückzuführen, daß die Klassenkämpfe zu einer permanenten Instabilität der kapitalistischen Gesellschaften geführt hatten. Durch „sozialpartnerschaftliche“ Teilhabe und Disziplinierung der Arbeiterinnen wurden nun neue Märkte eröffnet und politische Unruhe beseitigt. Kombiniert wurde dies mit einer aktiven Konjunkturpolitik des Staates, der durch Zinspolitik, Investitionsprogramme und Sozialmaßnahmen die heftigen Schwankungen des kapitalistischen Marktes abfederte. D.h. in Depressionszeiten senkten die staatlichen Zentralbanken die Zinsen, um Investitionen zu stimulieren oder der Staat selbst tätigte (meist kreditfinanzierte) Investitionsvorhaben. Umgekehrt versuchte man in Zeiten der Hochkonjunktur die Boomeuphorie durch höhere Zinsen und Steuern abzumildern, um inflationäre Entwicklungen zu verhindern und Überinvestitionen3 zu begrenzen. Der Keyenesianismus erkannte damit faktisch die marxistische Theorie von den Überakkumulationskrisen an und machte den Staat zum Krisenmanager des Marktes.
Die Krise des Keynesianismus dürfte mehrere Ursachen haben.
Erstens geriet die fordistische Massenproduktion an ressourcen- und absatzbedingte Grenzen. Neue Märkte konnten nicht mehr grenzenlos erschlossen werden, weil der Bedarf an Massenkonsumgütern in den Industriestaaten weitgehend gedeckt war, die vom Konsum Ausgeschlossenen der 3.Welt jedoch über keine Mittel verfügten, um Waren zu erwerben. Gleichzeitig waren immer mehr Ökonomien in der Lage, die klassischen Massenproduktionsgüter herzustellen, die Konkurrenz auf dem Weltmarkt nahm zu. Es kam zwar auch weiterhin zu echten Innovationen im Massenkonsumgüterbereich (z.B. Video, Computer, Sportindustrie, Tourismus usw.), aber die Herstellung dieser Produkte war nicht mehr arbeitsintensiv genug, um das fordistische Massenkonsummodell aufrecht zu erhalten. Außerdem zeichneten sich auch ökologische Grenzen ab.
Zweitens erzeugte der antikapitalistische Widerstand in vielen Ländern der Welt Anfang der 70er einen ungeheuren Druck auf den Sozialpakt. In einer Zeit, wo die Wachstumsmargen (aus oben genannten Gründen) immer geringer wurden, wirkten sich die selbstbewußten Forderungen von Arbeiterinnen massiv gewinnschmälernd aus. Dazu kam die soziale Rebellion gegen die aufgezwungene Disziplin in den Industriestaaten. Die Sozialpartnerschaft beinhaltete ja auch eine „Friedenspflicht“ der Unterklassen und ein bereitwilliges Akzeptieren der Konsum- und Lebensmodelle, die mit den Jugend-, Frauen-, Rocker- und Arbeiterinnenbewegungen seit Mitte der 60er Jahre weltweit in Frage gestellt wurden.
Drittens nahm die wirtschaftspolitische Interventionsmacht des Staates ab. Durch die Internationalisierung des Weltmarktes, durch die (u.a. informations- und verkehrstechnologisch möglich gewordene) hohe Mobilität des Kapitals und das explosive Wachstum des Spekulationssektors griffen die wirtschaftspolitischen Instrumentarien des keynesianistischen Staates (Zinsen, Ausgabenpolitik/ Investitionsprogramme, Zölle, Währungspolitik usw.) immer weniger. Die Macht des Marktes verdrängte die des Nationalstaats.4
Reaganomics und Thatcherism stehen exemplarisch für die Auflösung des keynesianistischen Modells in den Industrieländern. Der Staat verabschiedete sich von seiner Rolle als Wirtschaftslenker, es wurde wieder auf die Selbstheilungskräfte des Marktes geschworen und die neoliberale Ideologie erlebte einen Siegeszug. „Sozialpartnerschaftliche“ Verpflichtungen wurden aufgekündigt, die Gewerkschaften vor allem in Großbritannien aus ihren Machtpositionen verdrängt und regelrecht in die Bedeutungslosigkeit gestoßen, Arbeits- und Kündigungsschutzgesetze verschwanden, flexible Arbeitszeiten, deregulierte Arbeitsverhältnisse und unabgefederte Massenarmut kehrten in die Industriestaaten zurück. Begleitet wurde diese Entwicklung von einer Individualisierungswelle. Soziale Milieus zerfielen in gesellschaftliche Subszenen, Beliebigkeit und Unverbindlichkeit wurden zu bestimmenden sozio-kulturellen Werten, der Trend zum individualistischen Durchkämpfen (aber auch „Genießen“) ist allgegenwärtig geworden.
Das neoliberale Modell bewies sich unter den neuen Bedingungen als produktiver als der keynesianistische Vorläufer. Der Wettbewerbsdruck, der durch Individualisierung und die Abschaffung sozialer Sicherheiten erzeugt wurde, setzte Kräfte frei. Die radikale Existenzbedrohung ist schließlich immer schon eine der wichtigsten Triebfedern kapitalistischer Dynamik.
Die Verschärfung innergesellschaftlicher Konkurrenz wurde auch ordnungspolitisch mit eiserner Faust durchgesetzt. Es vollzog sich trotz abnehmender Protestbewegungen eine sicherheitspolitische Aufrüstung der kapitalistischen Indstriestaaten.
Der Wirtschaftsliberalismus hält sich somit die Möglichkeit offen, Krisen im Notfall autoritär bewältigen zu können.
Der „Rückstand“ der BRD
Die alte Bundesrepublik lag im Neoliberalisierungstrend immer ein gutes Stück zurück. Im Vergleich zum seit 1981 von „Sozialisten“ regierten Frankreich sind Massenelend und Sozialabbau in der BRD trotz 12 Jahren CDU-Regierung bisher „bescheiden“ geblieben. Das hat mit Sicherheit damit zu tun, daß die wirtschaftlichen und politischen Eliten in der BRD historisch den „Sozialpartnerschafts“konzepten stärker zugeneigt sind als z.B. in Frankreich und Italien (was natürlich auch mit wirtschaftlicher Stärke zu tun hat – in einem reichen, imperialistischen Land kann auch der Konsumstandard der Unterklassen angehoben werden). Der „Sonderweg“ des deutschen Kapitalismus besteht u.a. seit den Sozialgesetzen Bismarcks in einer gewissen Absicherung der Arbeiterklasse. Nach dem 2. Weltkrieg institutionalisierte sich diese recht erfolgreiche Strategie (die in einer anderen Variante auch von den Nazis praktiziert wurde: dort waren Sozialmaßnahmen für Arbeitslose und Investitionsprogramme – wie z.B. im Hitlerschen Autobahnbau – Teil der Kriegsvorbereitungen) unter dem von Ludwig Erhard geprägten Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft“. Dennoch werden die relativ intakten Grundmauern der „bundesrepublikanischen Sozialpartnerschaft“ von zahlreichen westdeutschen Unternehmsleitungen inzwischen als Rückstand betrachtet.
Die Regierungsübernahme von 1982 war der Auftakt einer langangelegten „Wende“. Trotzdem blieb der Sozialabbau, verglichen mit anderen westeuropäischen Staaten, verhalten. Gerade die Verteidigerinnen des Realsozialismus haben oft versucht, dies mit der „Frontlage“ der BRD zum Warschauer Pakt zu erklären. Angeblich habe die Konkurrenz der DDR das bundesdeutsche Kapital zu Zugeständnissen gezwungen. Die These ist kaum zu halten. Die DDR stand seit Mitte der 60er Jahre im direkten Vergleich um so vieles schlechter da, daß auch eine thatcheristische Bundesrepublik nicht um ihre Stabilität hätte fürchten müssen.
Unserer Meinung nach waren es wohl vor allem die anhaltende Prosperität der BRD-Wirtschaft und die genannten historischen Bezugspunkte in der Herrschaftsstrategie des deutschen Kapitals, die dazu führten, daß die Christdemokratie in der BRD eine moderatere Politik verfolgten als z.B. die Tories in Großbritannien.
Der Zusammenbruch der DDR
Das Herrschaftsmodell der realsozialistischen Gesellschaften bewies sich schon seit Mitte der 20er Jahre als weitgehend innovationsunfähig. Zwar hatte das starre, parteibürokratische und offen-tyrannische Modell Stalins ein rasantes industrielles Aufhölmanöver ermöglicht – die Sowjetunion vollzog den industriellen Sprung, der in Britannien 200 Jahre gedauert hatte, in 40 Jahren –, aber dies war nur so lange möglich, wie eine vorgegebene Entwicklung kopiert werden konnte. Als es um echte Neuerungen ging, versagte der Realsozialismus. Kein historisches Ereignis manifestierte dies wie das Jahr 1968. Während es das kapitalistische System vermochte, den sozialen Aufstand als Modernisierungsimpuls aufzunehmen und für sich nutzbar zu machen, beantwortete der Realsozialismus den Aufbruch in der CSSR mit kruder Gewalt und Integrationsunfähigkeit.5
Die Überlegenheit des Kapitalismus (über die als realsozialistisch titulierten Gesellschaften) basierte anscheinend unter anderem auf dem kontrollierten Pluralismus, wie er für die westlichen Staaten kennzeichnend ist. Dieser ermöglicht, daß gesellschaftliche Krisen in Transformationen und Erneuerungen münden. Ehemalige Linksradikale bringen die brennender werdende ökologische Frage auf die Tagesordnung, Hippies aus der Nähe San Franciscos entwickeln in ihren Garagen die Computerprogramme der Zukunft und sogar der Marsch von echten Systemoppositionellen durch die Institutionen zerstört deren Fundamente nicht.
Die herrschende Klasse in den realsozialistischen Staaten war hingegen unfähig, Protest als Korrektiv für gesellschaftliche „Fehl“entwicklungen zu begreifen. Gleichzeitig zwang die Nicht-Existenz von Legitimationsmechanismen (Wahlen vermitteln im Kapitalismus den Eindruck, eine Regierung werde vom Volk bestimmt) die realsozialistische Oberschicht dazu, weitreichende ökonomische Zugeständnisse an „ihr Volk“ zu machen. Der Konsum der DDR beispielsweise war schon seit Anfang der 80er Jahre nur noch durch Auslandskredite zu decken. Das Land war pleite, dennoch konnte die herrschende Klasse nicht ernsthaft daran denken, den Konsumstandard (der sowieso deutlich unterhalb des westdeutschen Vergleichsniveaus lag) zu drücken. Dies hätte (wie in Rumänien) zum Verlust auch der letzten Reste von Legitimität geführt. Damit war die wirtschaftliche Pleite vorprogrammiert. Die reformpolitische Option á la Gorbatschow, bei der sich Teile der alten herrschenden Klasse zu Modernisierern in Richtung Kapitalismus aufschwingen, wurde von den Greisen um Honecker verschlafen – und zwar nicht aus kommunistischer Ehrlichkeit (die DDR-Elite war eine herrschende und ausbeutende Klasse, die zur Aufrechterhaltung des Machtverhältnisses jede Art von Herrschaftstechnologie zu nutzen versuchte).
Die Ursachen für die Entwicklung des Realsozialismus in diese Richtung liegen natürlich tiefer und sind vielschichtiger als hier dargestellt. Dennoch steht fest, daß der Realsozialismus 1989 nicht einfach vom imperialistischen Feind besiegt wurde, sondern auch an strukturellen Mängeln zugrunde ging.
Deindustrialisierung
Der von der herrschenden Klasse in Westdeutschland betriebene Anschluß der DDR war zunächst eine relativ konzeptionslose Antwort auf den in dieser Form nicht erwarteten Zusammenbruch der DDR. Die Regierung Kohl hatte großes Interesse daran, die „historische Chance“ einer Wiedervereinigung nicht zu verspielen. Die Massenmedien verwendeten darum ihre geballte Kraft darauf, nach der Propagierung der Fluchtwellen über Ungarn nun die Forderungen der DDR-internen Oppositionsbewegung umzudrehen. Dies wurde in Ostdeutschland bereitwillig aufgenommen. Während im Oktober und November 1989 noch für Bürgerrechte, Demokratisierung, Reisefreiheit und einen „3.Weg auf sozialistischer Grundlage“ demonstriert wurde, überwog schon im Winter die Forderung nach Anschluß an den westdeutschen Konsumstandard. Aus der antibürokratischen Parole „Wir sind das Volk“ wurde das deutschtümelnde „Wir sind ein Volk“, außerdem eroberte sich die DM-Jetzt-Bewegung die Straße.
Mit dem Druck von unten und oben wurden Tatsachen geschaffen. Schon im Februar 1990 war faktisch klar, daß es keine realisierbare Alternative zur schnellen Vereinigung mehr gab. Die unvermittelte Öffnung der Grenzen und die geschürten Konsumerwartungen machten eine eigenständige DDR, mit deutlich niedrigerem Lohnniveau, unmöglich.
Die Währungsunion am 1.Juli 1990 besiegelte die weitere Entwicklung Ostdeutschlands. Das Handelsblatt verglich den damals festgelegten Wechselkurs Ostmark-DM einmal provokativ mit dem „Morgenthau“-Plan von 1945.6 Tatsächlich wurde die Ostmark mit dem Wechselkurs von 1:1 faktisch um 300-400% aufgewertet. Dadurch jedoch wurde es den Ostbetrieben von einem Tag auf den anderen unmöglich gemacht, ihre Produkte abzusetzen. Damit gelang es den westdeutschen Unternehmen, ostdeutsche Betriebe aus dem Absatzmarkt auszuschließen.
Das wahltaktische Kalkül führte dann zu jenen finanzpolitischen und sehr populären Entscheidungen (faktische Aufwertung der Ostmark), mit denen die Deindustrialisierung der DDR eingeleitet wurden. Diese Politik, die inzwischen als Ursache für den den industriellen Kahlschlag anerkannt ist, konnte jedoch immer auf eine Mehrheit in der ostdeutschen Bevölkerung zählen. Das Verschwinden der DDR ist also weder Vereinigung noch Annektion. Ersteres unterstellt Gleichberechtigung von zwei Partnern, zweiteres eine Zwangsmaßnahme. Wir finden deswegen den Begriff „Anschluß“ auch mit der Parallele Österreichs 1938 passender. Zwar übten die westdeutschen Massenmedien bewußt Einfluß auf die Oppositionsbewegung der DDR aus, aber dieser äußere Druck wurde von dieser in weiten Teilen gutgeheißen.
Interessen an der ostdeutschen Krise?
Die Konsequenzen der Bonner Wirtschaftspolitik wurden relativ schnell klar. Schon Anfang 1991 zirkulierte im Bonner Finanzministerium ein Papier, in dem das Ausmaß des wirtschaftlichen Ruins ziemlich genau vorhergesehen wurde. Nur 700.000 von insgesamt 3,4 Millionen Industriearbeitsplätzen würden nach Abschluß der Treuhandpolitik übrig bleiben, hieß es da.
Daß dennoch dieselbe Linie weitergefahren wurde wie bisher, läßt sich nicht mit Fehlentscheidungen oder Unfähigkeit erklären, wie dies sozialdemokratische KritikerInnen der Bundesregierung meistens vorwerfen. Es bestand ganz einfach kein Interesse an einer Sanierung von Ostindustrien. In einer Weltmarktsituation, in der um Absatzmärkte hart gekämpft wird und westdeutsche Industriekapazitäten nicht ausgelastet werden können, würde es nicht viel Sinn machen, wenn sich der bundesdeutsche Staat langfristig und kostspielig zu Sanierungsprogrammen verpflichten würden.
Zudem bietet sich mit der sozialen Krise der DDR die ebenfalls „historische Chance“, den Rückstand gegenüber anderen Industrienationen aufzuholen. Der Satz von Arbeitgeberpräsident Tyll Necker „Wir müssen die Krise nutzen, denn jetzt sind die Menschen reif“, meint genau dies. Mit der Verhinderung von Lohnanhebungen in Ostdeutschland (wie im Metallstreik 93) werden die Löhne insgesamt gedrückt. Gleichzeitig zwingt die hohe Arbeitslosigkeit zur Selbstdisziplinierung der Belegschaften, erhöht sich der Konkurrenzdruck, wird eine neue Dynamik des Ellenbogens freigesetzt.
Der angebliche Umbau der DDR ist somit zur „Transformationskrise“ des ganzen Landes ausgeweitet worden. Alle sozialpolitischen Veränderungen gehen im Augenblick auf Kosten der Arbeit. Die Pflegeversicherung wird durch einen zusätzlichen Arbeitstag finanziert, die Gewerkschaften lassen verstärkt Ausnahmen aus den Mantelverträgen zu, Arbeitszeit wird flexibilisiert, unsichere Arbeitsverhältnisse legalisiert, die Beiträge für Sozialversicherungen wachsen, Lohnerhöhungen decken nicht einmal mehr das Inflationsniveau.
Rassismus und Sexismus als Bestandteil der Umgestaltung
Auf komplexe Art und Weise ist vor allem die rassistische Unterdrückung zu einem prägenden Bestandteil der Transformation geworden. Aus unserer Beobachtung ergeben sich vier Phasen des Rassismus seit 1989: In der ersten Phase, die ungefähr bis Ende 1990 dauerte, entwickelte sich der rassistische Terror vor allem im Gefolge der aggressiven Großmachteuphorie. Die medienpolitisch angeheizte Wiedervereinigungsstimmung (die vor allem einen schnellen Anschluß, d.h. Tatsachen, erzwingen sollte) drückte sich bereits in einer rasanten Zunahme von Angriffen gegen die „Leistungsunfähigen“ und „Minderwertigen“ aus. Ein offensichtlicher Ausdruck dieser brutalen „Euphorie“ waren z.B. die Feiern nach dem Sieg der Fußballweltmeisterschaft im Sommer 1990, die für viele Immigrantinnen zu einer echten Schreckensnacht wurden.
In einer zweiten Phase verschärften staatliche Institutionen und Parteien selbst direkt das rassistische Klima. In Anbetracht einer eskalierenden sozialen Krise wurde ab Ende 1990 wie schon einmal zu Beginn der 80er Jahre die „Asyldebatte“ geschürt. Dabei wurden Überfälle auf Flüchtlingsheime von der politischen Klasse nicht nur in Kauf genommen, sondern regelrecht gefördert. In Rostock beispielsweise ist belegt, daß die Polizei sich am Abend des schlimmsten Überfalls nach einem Besuch von Innenminister Seiters bewußt zurückgezogen hat. Auch die Festnahmen in den Pogromnächten richteten sich fast ausschließlich gegen Antifaschistlnnen, die den bedrängten Vietnamesinnen zu Hilfe eilen wollten. Das hinter den rassistischen Angriffen stehende staatliche Interesse ist nicht schwer zu erklären: Mit der Asyldiskussion wurde dem aufkommenden sozialen Widerstand präventiv ein Blitzableiter angeboten. Anstatt nach oben traten die sozial Verunsicherten (meistens eben nicht die bereits Ausgegrenzten, sondern eher diejenigen Teile der Gesellschaft, deren Aufstiegschancen in der momentanen Krise begrenzt erscheinen) die zu Sündenböcken hochstilisierten Immigrantinnen und Flüchtlinge.
Gleichzeitig wurden in der „Asyldebatte“ auch bevölkerungs-, arbeitsmarkt- und migrationspolitische Ziele verfolgt. Das soziale Gefälle, das zwischen Südeuropa und Afrika besteht, befindet sich heute 80 km östlich von Berlin. Die 500 km entfernte Ukraine hat einen niedrigeren Mindestlohn als Brasilien, nämlich je nach Inflationsstand weniger als 15 DM monatlich. Migration wird in den nächsten Jahren also ein noch wesentlicherer Bestandteil sozialer Realität in Europa werden.
Um hierauf flexibel reagieren zu können, war die Abschaffung des Asylrechts sowie die Mobilisierung der Grenzbevölkerung für Polizeidienste (z.B. Hilfssheriffs an der Grenze zu Polen) notwendig. Beabsichtigt ist dabei nicht etwa, Einwanderung zu verhindern, sondern sie kontrollierbar zu machen. Andere Ökonomien machen vor, wie wichtig illegale Schwarzarbeit für den Kapitalismus ist. Die italienische oder kalifornische Wirtschaft bauen seit Jahrzehnten auf die spottbilligen, illegalen Arbeitskräfte, die aus Nordafrika bzw. Mittelamerika einwandern und sich für Hungerlöhne verdingen. Die vergleichsweise wenig produktive norditalienische Wirtschaft hat es mit dieser nicht-abgesicherten Billiglohnarbeit sogar bis in die Spitze der Weltwirtschaft geschafft. Das gleiche ist auch in Deutschland erwünscht: Immigrantinnen sollen in ihrer Rechtlosigkeit jederzeit abschiebbar und kündbar sein. Dies hat auch den positiven Nebeneffekt, daß in Krisenmomenten unproduktiv Arbeitslosenheere (die einer Volkswirtschaft Geld kosten) abgeschoben werden können. Es ist immer schon Bestandteil deutscher „Gastarbeiterpolitik“ gewesen, Reprodutionskosten abzuwälzen. Durch Ausländergesetze wurde beispielsweise der Zuzug von Familien in den 60er und 70er Jahren behindert. Man wollte, daß unproduktive Alte und Kinder in der Türkei oder in Jugoslawien versorgt werden, während die Einwanderung von Männern im arbeitsfähigen Alter stimuliert wurde. Durch die Nachwanderung von Familien ging dieser Vorteil verloren. Heute erzeugt die Illegalisierung von Immigrantinnen erneut den Effekt, daß hauptsächlich dynamische, männliche Arbeitskräfte (die „intelligent“ und unabhängig genug sind, sich bis hierher durchzukämpfen) in die BRD gelangen. Sollte ihre Anwesenheit Probleme erzeugen, genügt es, durch Razzien ein paar Tausend von ihnen abzuschieben. Eine derartige Flexibilität in der Migrationspolitik war bisher nicht möglich.
Nachdem die SPD unmittelbar nach den Rostocker Pogromen das Asylrecht kippte, übernahmen die nazistischen Organisationen vorübergehend das Ruder in der rassistischen Mobilisierung. Sie, die als Kettenhunde des Staates agiert hatten, gaben nun neue Angriffsobjekte aus: Nach Flüchtlingsheimen sollten die Häuser von lange hier lebenden Immigrantinnen brennen. Diese Angriffe, z.B. in Mölln und Solingen, jedoch destabilisierten die bundesdeutsche Gesellschaft und beschädigten das Image der neuen Großmacht. Mit entpolitisierenden Licherketten und einigen Verboten gelang es der Bundesregierung, die entstehende antirassistische Gegenbewegung auszutrocken und gleichzeitig den Gesichtsverlust Deutschlands im Ausland zu stoppen.
In einer vierten Phase, in der die rassistischen Angriffe zurückgeschraubt sind, aber jederzeit die Drohung eines neuen Ausbruchs vorhanden ist, befinden wir uns jetzt.
Unübersehbar ist heute, daß Rassismus und Sexismus die Transformation der BRD-Gesellschaft dominieren werden. Bis hin zu faschistischen Modellen scheint alles wieder denkbar. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, daß die neoliberale Verschärfung der sozialen Widersprüche zu us-amerikanischen Verhältnissen führt. Dort ist die rassistische und sexistische Ausgrenzung bzw. Arbeitsteilung ein Stück kapitalistischer Stabilisierung, ökonomische Herrschaftsverhältnisse werden legitimiert, die ökonomische Teilhabe bestimmter Schichten ermöglicht und Blitzableiter geschaffen. Gleichzeitig dient der staatliche Rassismus zur intensivierten Ausbeutung von Illegalen.
Drei Blöcke und ein gestaffeltes Osteuropa
Weltpolitisch löst sich die eindeutige Vormachtstellung der USA schon seit längerem auf. Im Golfkrieg wurden die USA als „Söldner der reichen Länder“ karikiert, die für Milliardenbeträge aus Japan, Saudi-Arabien und der BRD die Ölvorkommen sicherten. Die Interpretation war sicherlich übertrieben, aber unübersehbar ist auch, daß die asiatische Wirtschaftsregion – Japan mit den asiatischen Tigern (Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur) sowie den Industriezentren in China, Malaysia, Philippinen und Indonesien – der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA den Rang als wichtigste Wirtschaftsregion der Welt abgenommen hat.
Die Europäische Gemeinschaft als größter Binnenmarkt der Welt gerät zunehmend unter den Einfluß Deutschlands und steht vor der schwierigen Frage, ob die politische Einheit der EU-Staaten vertieft oder aber der Anschluß anderer europäischer Staaten beschleunigt werden soll. Der Beitritt Finnlands, Österreichs, Schwedens und Norwegens wird vielfach als Sieg des Bonner Konzepts verstanden, das eine Ausdehnung der EU priorisiert. Die Perspektive einer integrierten osteuropäischen Billiglohnzone gilt als Ursache des bundesdeutschen Interesses einer EU-Ausweitung. Tatsächlich rücken durch den Beitritt Finnlands das Baltikum bzw. über Österreich Ungarn, Slowenien, Tschechien und Kroatien näher an die EU heran. Dennoch ist diese Entwicklung viel langsamer als anfangs vom westeuropäischen Kapital erhofft. Die politische Instabilität und wirtschaftliche Katastrophenstimmung in den betreffenden Ländern haben bisher wirklich große Investitionen in Osteuropa verhindert. Die BRD hat schon mit der Eingliederung der DDR immense Schwierigkeiten. Sehr viel komplizierter gestaltet sich die gewünschte Integration des osteuropäischen Wirtschaftsmarktes.
Aufgrund dieser Schwierigkeiten werden jetzt zunächst die entwicklungsfähigsten Regionen Osteuropas angegliedert. Dies sind vor allem Tschechien, Ungarn, Slowenien und Teile Polens. Auch Kroatien, die Slowakei und das Baltikum gelten als interessante Regionen. Rußland dürfte zu so etwas werden wie das Brasilien Osteuropas: große Rohstoffexporte und einige Industriezentren, aber auch völlig unterentwickelte Regionen. Abgeschrieben werden dagegen ganze Regionen wie der Kaukasus, manche zentralasiatische Republiken oder Albanien. Diese Länder werden außer als Giftmüllimporteure oder Waffenkäufer kaum noch eine Rolle für die Weltwirtschaft spielen. Der nationalstaatliche Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens (der von der BRD forciert wurde) zeigt sich im übrigen als zumindest teilweise vernünftig: die Einzelstaaten können leichter selektiert werden als der Gesamtverband. Während dort früher extreme innere Gefälle bestanden,7 können die Einzelstaaten heute differenziert behandelt werden.8 Dies vereinfacht die Integration der dynamischsten Regionen.
Zwischen den drei entstehenden Blöcken wachsen im Augenblick zwar Konkurrenzstrukturen, z.B. konnte man sich monatelang nicht über das GATT-Abkommen einigen, aber offene Konflikte sind auf längere Sicht nicht absehbar. Innerimperialistische Kriege zwischen Japan, der EG und Nordamerika sind höchst unwahrscheinlich. Überhaupt läßt sich die Frage stellen, ob Konflikte in der Zukunft nationalstaatlicher Art sein werden, oder aber ob nicht multinationale Unternehmen unabhängig vom Firmensitz miteinander um Einflußzonen ringen werden. Stellvertreterkriege unterschiedlichster Art sind also denkbar, aber keine offenen Konflikte.