Obwohl die Autorinnen von Materialien Nr.6 im Vorwort betonen, sie könnten in der Analyse der Ursachen des Krieges im ehemaligen Jugoslawien „keinen monolithischen Erklärungsansatz“ anbieten, hat mensch beim Lesen immer wieder den Eindruck, daß einiges vereinfacht wird, was nicht zu vereinfachen ist.
Die Artikel folgen im wesentlichen zwei Erklärungsansätzen, insbesondere ist das die im Band dominierende Analyse, die wesentliche Thesen der „Autonomie“ aufnimmt: Der Krieg, so die Kernthese, werde von den in Abstimmung miteinander agierenden jugoslawischen Eliten als Transformationsmedium einer Gesellschaft genutzt, die dem Deregulierungsprojekt ihre traditionellen Lebens-, Reproduktions- und Kampfstrategien entgegensetzen, stets angedeutet im Begriff der „moralischen Ökonomie“, den die Verfasserinnen offensichtlich als bekannt voraussetzen.
Eine besondere Rolle komme hier dem Selbstverwaltungssystem der jugoslawischen Unternehmen zu, das die Sicherung der Löhne der Profitorientierung entgegengesetzt habe, so daß damit dem Eindringen westlicher Formen der Arbeits- und Akkumulationsorganisation in die jugoslawische Ökonomie wirksame Grenzen gesetzt waren. Diese, dem jugoslawischen Selbstverwaltungssystem eigene, „Entwicklungsblockade“ habe im Zusammenspiel mit der von den Autorinnen auch in Jugoslawien entdeckten „moralischen Ökonomie“, die durch Arbeiterbauern und ihre „subsistenzwirtschaftlichen Produktions- und Reproduktionsweisen, sozialen Rückzugsräume, tradierte Lebensweisen und Vorstellungen“ (15) getragen werde, einen militärischen Zugriff notwendig gemacht. Auf eine Formel gebracht liest sich das so:
„Es ist der Krieg gegen ein soziales Kontinuum von moralischer Ökonomie und Existenzrecht“(23)
Doch (wie zu erwarten) haben auch wilde Streiks und Riots ihre Rolle gespielt: Auf den zunehmenden Druck der Deregulierung des jugoslawischen Sozialismus seit 1982 hätten, so analysieren die AutorInnen anhand von Zeitungsberichten, die Arbeiter mit einer Radikalisierung ihrer Forderungen und Kampfformen reagiert. Im Jahr 1987 spitzte sich die Entwicklung, ausgelöst durch den Beschluß Löhne einzufrieren, die Preise für Grundnahrungsmittel erheblich zu erhöhen und Betriebe zu schließen, zu und äußerte sich in „eskalierenden Protestbewegungen“ (37), die „wild“, „spontan“ und „von Militanz geprägt“ waren. Die herrschenden Eliten hätten nun auf die ,,klassenkämpferische Atmosphäre“ (36f.) mit der Nutzung der „Counterideologie“ (54) „Nationalismus zur Durchführung der Konterrevolution“ reagiert (39).
„Die strategische Vorentscheidung der Herrschenden muß 1987/88 gefallen sein, die Massen der Teilrepubliken gegeneinander auszuspielen, indem die Option der Aufteilung Jugoslawiens von den inneren Zirkeln der Macht längst diskutiert wurde und es nur um das ‚wie‘ ging.“ (54)
Dem Eindruck der bisweilen etwas vereinfachenden Theoriebildung anhand des Beispiels Jugoslawiens kann der/ die LeserIn sich spätestens hier nicht mehr erwehren. Doch auch über das WIE der Mobilisierung der Bevölkerung der Teilrepubliken unter ethnischen Kriterien gegeneinander bleiben uns die VerfasserInnen eine umfassende Antwort schuldig. Zwar wird anhand des Kosovo und seiner mehrheitlich albanischen Bevölkerung die serbische Säuberungsstrategie aufgezeigt, doch deren „paradigmatische Bedeutung“ für das nationalistische Ethnisierungsprojekt im Medium des Krieges im gesamten Jugoslawien wird damit nicht klarer. Letztlich bleibt den VerfasserInnen deshalb auch nichts weiter als zu spekulieren, „daß Jugoslawien nur das Laboratorium der Relevanz der sozialen Zerstörungskraft künftiger Deregulierungskriege ist“(89) und sie gestehen ein: „Den Zusammenhang zwischen sozialen und religiös/kulturellen Elementen in der balkanischen Widerstandstradition wäre aufzuarbeiten, um deren Verwendung im Kontext der Kämpfe von unten und ihrer Vereinnahmung von oben genau zu bestimmen. Hier müssen wir davon ausgehen, daß Teilelemente dieser Kultur in die nationalistische Propaganda eingegangen und für sie funktionalisiert worden sind .“(54)
Dieses Defizit mindert die Qualität der Artikel erheblich. Wenn von der „Ethnisierung des Sozialen“ als zentralem Motiv für den Krieg die Rede ist, so muß zumindest eine Problematisierung des Begriffs Ethnie erfolgen, zumal auch positiv von „multiethnischen Städten“ gesprochen wird. Also anerkennt Ihr nun „ethnische Identität“ oder ist „Ethnie“ ein reines Counterkonstrukt, um sozialrevolutionäre Kämpfe zu entschärfen und zu kanalisieren? Die Materialien sechs verkennen das Kontinuum der sich ethnisch artikulierenden Konflikte in der Region seit der Osmanischen Herrschaft, deren Administration die ethnische Arbeitsteilung zu einem der wesentlichen sozialen Konstitutionsmerkmale der balkanischen Gesellschaft gemacht hat. Die genaue Studie z.B. der Arbeiterbewegung zur Zeit der Jahrhundertwende hätte ergeben können, daß nur vereinzelt von umfassender „multiethnischer“ Solidarität in Dörfern und Städten und damit letztlich auch einer eben nicht ethnisch verankerten moralischen Ökonomie“ die Rede sein konnte. Es wäre genauer auf die Kontinuität des imperialistischen Projekts der Periperialinierung des Balkans seit Mitte des 19. Jahrhunderts einzugehen gewesen – die Parallelen sind frappierend!
Aus diesem Grund sind die Artikel, die sich der imperialistischen EG und US-Politik in Jugoslawien widmen, positiv hervorzuheben. Zentrale These der Verfasserinnen ist insbesondere im Artikel „Zur Rolle des Imperialismus in der jugoslawischen Krisen- und Kriegsdynamik“, daß das Neuordnungsprojekt der jugoslawischen Ökonomie aufgrund der Interessenheterogenität der Eliten der einzelnen·Teilrepubliken und der verschiedenen sozialen und ökonomischen Bedingungen in den Teilrepubliken, das zuerst als Schocktherapie“ mit IWF-Auflagen und Kreditierung konzipiert war, gescheitert sei und erst mit der Anerkennungspolitik die militärische Auseinandersetzung zur Folge gehabt habe.
Hier habe die Strategie des low-intensity-warfare eine herausragende Rolle gespielt. Nicht zuletzt, so die These, ließen auch die Interessenkollision zwischen der BRD und den übrigen EG-Staaten, bzw. den USA in der Anerkennungspraxis auf ,,konkurrierende längerfristig angelegte und den gesamten Balkanraum einbeziehende Ordnungsvorstellungen schließen.“ Diese These wird durch die Einbeziehzung der UNO als Vermittlungsinstanz „imperialistischer Steuerung“ erhärtet. Insgesamt erscheint dieser Ansatz vor dem Hintergund der permanenten Verhandlungen, Interventionen und nicht zuletzt der Einsetzung von Administratoren in den bosnischen Gebieten zumindest als weniger spekulativ. Der von Kohl und Kinkel bestellte „Administrator“ Hans Koschnik wirbt schon jetzt für EU-Investoren, die sollen auch ihre Chance haben, wenn er ab Juni im völlig zerstörten Mostar, unterstützt von EU-Polizisten, Gesetze und Verordnungen erlassen darf.