Der Blick ist immer wieder der gleiche. Man nimmt als Maßstab sich selbst, das andere ist noch nicht so weit. Es kommt erst. Es muß den eigenen Weg gehen, und der eigene Weg war Bruch. Darum ist das andere abzulehnen, wahrnehmbar wird es erst, wenn es sich ähnlich ausdrückt wie man selbst. Wenn die türkischen Jugendlichen von zu Hause ausbrechen, Musik hören, die Bullen angreifen, ihre Familien so hassen wie den Staat, dann fängt man an, mit ihnen zu ihnen auf die Schulter zu klopfen. Es sind Formen, die die deutsche Linke kennt, einzig vorstellbare Entwicklung, „richtiger Weg der Befreiung“, alles andere ist patriarchalischer Dreck.
Viel redet die Linke über Rassismus. Das Problem liegt aber nicht nur (oder am allerwenigsten) in ihrem Rassismus: Es liegt in der Fixiertheit auf sich selbst. Die Hautfarbe ist dabei ein Nebenaspekt, die Ignoranz richtet sich gegen alle. Ein türkischer Freund hat dazu einen sehr schönen Satz gesagt; sehr freundlich und lächelnd: „Das ist doch der Blick der autonomen Aristokratie. „Der Blick, der nur sich selber kennt.
Necla
Deutschland. Necla, eine zierliche, dunkle Frau, steht vor einem Mietshaus, in den Hauseingängenliegt Müll, ein paar Meter weiter dealen sie Heroin, wir schauen die Straße hinunter, sie redet von ihrer Kindheit. „Hier gibt es Heroin zu kaufen“, leuchtet es von großen Plakaten, die überall in der Gegend hängen – eine Kampagne gegen die Heuchelei staatlicher Drogenpolitik, hier wird geduldet, was anderswo verfolgt wird, weil hier zersetzt es die Wut –, wir versuchen die Hundescheiße zu umkurven, die ewige Crux dieser Stadt, sprechen über ihre Kindheit. Und Necla, die inzwischen verheiratet ist, 23 Jahre alt und zwei Kinder hat („eines ist 6, das andere 3“), erzählt davon, wie sie ihre Eltern gezwungen haben, ein Kopftuch zu tragen, wie sie als 12jährige keinen einzigen Jungen zum Freund hatte, wie sie später mit 14 ihren Verlobten kennenlernte, der heute ihr Mann ist und den sie heute sehr liebt, wie sie sagt. Sie beschreibt ihre Hochzeit, „ihren glücklichsten Tag im Leben“ , obwohl sie steif und ungerührt bleiben mußten, denn „ein türkisches Brautpaar darf seine Gefühle nicht zeigen“ , die 300 Gäste, das große Büffet, die Männer, die im Saal die Geschenke der Gäste einsammelten, das silberne Kleid, in dem sie sich nicht beugen konnte, die gerührte Stimme der Mutter, als sie zum ersten Mal nicht mehr zu Hause übernachtete, der traurige Blick des Vaters, als er ihr eine rote Schleife umband, und die Schwierigkeit, ohne Vorstellungen von Sexualität die Nächte mit ihrem Mann als etwas schönes zu entdecken.
Das, was sie beschreibt, sehr mutig und offen, klingt liebevoll. Es hat mit dem Bild der Geknechteten, die aus ihrem Gefängnis fliehen möchte, nicht viel zu tun. Necla haßt die Islamisten, ihr ist die Frauenrolle zuwider, die keinen Platz außer den in der Wohnung kennt. Necla würde nie behaupten, daß ihr Leben nicht anders sein könnte. Aber sie liebt ihre Kultur. Als der Ort der eigenen Identität mit den Widersprüchen, die sie für unvermeidbar hält: daß sie lieber später geheiratet hätte, daß ihr Mann sie ausnutzt, daß sie oft darüber nachdenkt, ihn zu verlassen, daß sie ihn aber immer noch mag, daß er akzeptiert hat, daß sie ein eigenes Leben besitzt, daß er nicht mehr ist wie am Anfang.
Necla zerbricht das Vorurteil von der türkischen Frau, die sich nur emanzipieren kann, wenn sie sich aus ihrer Kultur herauslöst. Sie ist stark, weil sie nicht alle Brücken abgerissen hat.
Bitterer in ihren Erzählungen sind die Bilder aus Deutschland. „Hier“, zeigt sie auf ein nur von Deutschen bewohntes Haus, „im ersten Stock wohnt eine Frau, die uns, als wir 6 waren, mit heißem Wasser übergossen hat. Haut ab zu euren Eseln nach Anatolien, hat sie gebrüllt. Weißt du, wie du dich fühlst als Kind, wenn sie dir das sagen?“ Und ich meine, nein, aber ich fände es nicht so schlimm, uns hätten sie schließlich auch beschimpft.
Aber der Unterschied besteht – je länger wir durch den Stadtteil laufen, desto eher verstehe ich es – ganz einfach darin, wie oft man es hört. An der Ecke der Zeitungsbesitzer, der die junge Freiheit verkauft, inzwischen unter der Ladentheke, und am 1. Mai ganz in Blockwartmanier den Bullen den Weg hinter flüchtenden Passanten weist, der die Kinder „Kanackendreck“ nannte. Oder die Nachbarin aus dem 3. Stock. Ihre Tochter durfte zum Spielen und Essen immer zu Necla nach Hause, aber einmal als sie das Mädchen besuchen wollte, sie war acht, hieß es „nein, du kannst hier leider nicht rein“, oder in der Schule, wo man ihr gesagt hat, „so wie du Deutsch sprichst, versuchst du es mit dem Realschulabschluß lieber gar nicht, es wäre zu schwer.“
Deutschland, das ist der 15jährige Junge einer bekannten Familie, von dem die Eltern erzählen, er sei in einem Schwimmbad von einem deutschen Jugendlichen mit kurzen Haaren ersäuft worden – die Familie hat darauf verzichtet, Anzeige zu erstatten –, oder die Frage im Kinderhort „Warum haben sie eigentlich noch kein Deutsch gelernt nach 20 Jahren?“ oder die Bemerkung bei der Alternativbäckerei „Es ist wirklich schlimm, diese vielen Frauen mit Kopftüchern zu sehen.“
Deutschland ist nicht nur faschistischer Haß. Nicht einmal hauptsächlich. Deutschland ist „systematisch gezüchteter Minderwertigkeitskomplex“ für die anderen, die Fremden, die Herabwertung, sprachlose Kälte, Unterlegenheit aus 100 Jahren Entwicklungs“rückstand“, der ständige Rechtfertigungsdruck, warum man immer noch so ist, wie die erste Generation, und als Alternative dazu die Assimilation, die das „Alte“ mit dem Tod bedroht und als „Neues“ nur Leere bietet. Orientierugslosigkeit, Vereinsamung, Leere.
„Ich träume davon, sagt Necla, „daß meine Kinder keine Deutschen werden, aber auch keine Türken bleiben.“ Obwohl sie sie, wenn es dazwischen nichts gäbe, tausend mal lieber als Türken sehen würde, als als Deutsche.
Auf dem Weg zur Kita, wo die Kinder vormittags sind – der ältere kommt diesen Sommer in die Schule –, erzählt sie, daß sie aufgehört hat zu arbeiten, sie war Putzfrau, bis das zweite Kind kam, „Gülay, sie ist genauso dunkel wie ihre Großmutter“, bis damals stand sie um halb fünf auf und fuhr putzen, nach Spandau, das ist fast eine Stunde Fahrt, aber immerhin verdiente sie Geld, die Kinder blieben bei der Großmutter. „Wir hatten zwar eine eigene Wohnung, aber wir sind trotzdem oft bei den Eltern geblieben“, einfach weil sie daran gewöhnt waren, zu acht in zwei Zimmern, „unsere Familie ist sehr eng, wir hängen aneinander. „
Neclas Mann, eine Zeit hat er bei einem Freund im Laden geholfen – sie lacht, „so viele Türken haben Läden „–, ist seit ein paar Monaten auf der Baustelle, „da verdient er mehr“, viel Geld haben sie trotzdem nicht. Sie glaubt, er spielt Karten.
Auf der Skalitzer die Hochbahn, gelb quietscht sie durch den Blick, über unsere Köpfe hinweg, einer der Wagen voll Tags, das ist auch die Sprache der dritten Generation, ein kreischendes Geräusch der Schienen, wir spüren die Vibration, das Pflaster klirrt, der Atem beschlägt in der Luft, wir kreuzen wortlos die Straße.
Bei der inzwischen obligatorischen Frage „ob sie zurückgehen wollen“ – wer denkt nicht daran –, zögert sie. „Bilmiyorum“, sie weiß nicht, einerseits hat sie das Land satt, aber andererseits, was wäre die Türkei für sie. Sie ist in Berlin groß geworden. Ihre Eltern sind gegangen, sie haben sich ein Haus bei Antalya gekauft, das machen jetzt viele, die Geld haben, sagt sie, sie kaufen sich ein Haus am Meer, sie sind die „Deutschländer“, reich geworden sind sie nicht, aber sie haben genug, um nicht mehr arbeiten zu müssen. „Warum fragt ihr immer das gleiche?“, sagt sie.
Fisun
Fisun ist 22. Sie ist bei Kayseri geboren, einer Stadt im Inneren der Türkei, in der Islamisten und Faschisten bei der letzten Kommunalwahl fast 60 % der Stimmen erhalten haben. Mit vier kam sie nach Berlin. Im Osten der Stadt war sie erst ein Mal. Auf dem Alex, nachts, natürlich nicht allein. Die Stadtteile dort kennt sie nicht. Für Fisun ist klar, daß sie Deutschland verlassen würde, wenn sie Kreuzberg verlassen müßte. „Was hält mich in diesem Land?“
Fisun wohnt bei ihren Eltern, in der Wohnung hängen Rosentapeten, auf dem Bett – ein ausziehbares Sofa – ein paar Plüschtiere. Daneben ein kleiner Glastisch, Parfüm, Lippenstifte, ein Spiegel, der Schreibtisch aus Preßspan mit Plastikbeschichtung.
Fisuns Eltern sind streng. Die Wohnung kann ein fremder Mann nur betreten, wenn er mit einer Freundin verheiratet ist, aber dann sind die Leute sehr freundlich. Wie überall stehen Früchte und Nüsse auf dem Tisch, im Nachbarraum hört man einen Fernseher, der kleine Bruder spielt Nintendo. Es ist laut. Fisun hat die Schule mit 16 beendet. Sie hat nicht geheiratet, zwei Mal war sie verlobt, aber sie hat sich gelöst, weil „ich ihn nicht richtig geliebt habe.“ Jetzt sucht sie einen Mann, „für den ich etwas empfinde“, sie will ausziehen, und irgendwie auch eine Familie, das gehört dazu, alles andere wirkt komisch: „Ich bin 22, da ist es Zeit“, meint sie.
Fisun arbeitet seit ihrem 16. Lebensjahr. Der Vater hat einen Imbiß, der von 10 Uhr morgens bis 2 Uhr nachts geöffnet bleiben muß, täglich. Fisun steht in der Küche, macht Salat oder Linsensuppe. Natürlich ist sie unangemeldet, die Familienbetriebe funktionieren nur auf der Grundlage, daß mehr als die Hälfte der Arbeitszeit quasi unbezahlt bleibt. Kebab für Dreifünfzig.
„Morgen muß ich um 5 Einkaufen fahren“, erzählt sie. Mittwoch ist der schlimmste Tag, weil sie dann als allererste aufsteht. Mittwochs ruhen sich die Eltern aus. Sie arbeiten 6einhalb Tage die Woche.
Deutschland. Seit der Maueröffnung ist die Miete für den Imbiß von 800 DM auf 3 000 DM hochgeschnellt. Eigentlich würden sie den Laden gerne verkaufen, aber der Vermieter will nur Einjahresverträge unterschreiben. Mit einem so kurzen Vertrag aber zahlt niemand die 100000 DM, die sie in den Imbiß hineingesteckt haben. Die einzige Möglichkeit für Fisuns Familie ist also weiterzuarbeiten in einem fast sklavenartigen Abhängigkeitsverhältnis zum Vermieter, der jederzeit damit drohen kann, den Vertrag nicht zu verlängern. Wenn sie nicht ihr ganzes Geld verlieren wollen, müssen sie schuften und zwar jedes Jahr mehr, denn die Miete steigt weiter.
„Na klar, wir verdienen nicht schlecht, aber auch nur deswegen, weil wir wie Verrückte arbeiten“.
Eigentlich will Fisun noch einmal auf die Schule. „Aber die nehmen mich nicht. Vor einer Woche war ich dort, um mich für den 2. Bildungsweg zu bewerben. Weißt du, was sie gesagt haben: Warum haben sie nicht schon viel früher in diesen 6 Jahren eine Ausbildung angefangen?“ Und dann haben sie mich abgelehnt, weil ich keine 5 Jahre Sozialversicherung nachweisen kann. Wir glauben ja, daß Sie gearbeitet haben, aber da kann man leider nichts machen.“ Inzwischen ist es ihr egal, „irgendwann werde ich sowieso heiraten, eine Ausbildung ist zwar immer ganz gut, aber was nicht geht, geht halt nicht.“
Fisuns Eltern sind Alewiten, das macht eine merkwürdige Mischung zu Hause. Sie sind zwar ziemlich konservativ, sie würden nie erlauben, daß sie auszieht, aber auf der anderen Seite hat die Zugehörigkeit zur Minderheit die Familie vor religiösem Fanatismus bewahrt. Sie trägt kein Kopftuch, man hat sie nicht in die Koranschule geschickte, wo die Kinder auf Arabisch aus dem heiligen Buch Texte nachbrabbeln müssen, ohne zu verstehen, was in der fremden Sprache geschrieben wird. „Außerdem hören wir zu Hause sogar manchmal linke Musik, Grup Yorum, falan“, sagt Fisun „Sie haben sogar für die Kurden was übrig. „Das ist alles andere als normal. Fisun ist stolz darauf, das merkt man.
Zwei Tage später besuchen wir sie im Imbiß, nicht weit von zu Hause. Fisun steht hinter der Theke und schneidet Salatblätter. Im Moment ist nicht viel los, richtig voll wird es abends, vor allem am Wochenende, wenn die Leute in die Kneipe gehen, denn die Imbißbude ist eine der wenigen Berührungspunkte zwischen Deutschen und Türken, die Schule, der Arbeitsplatz oder der Gemüseladen sind die anderen. Auf dem Weg aus der Punkerkneipe oder dem Hiphopkeller kommen die Baseballbekappten vorbei, schieben sich mehr oder weniger hastig ihre Mahlzeit hinein, vor allem weil es billig ist und den Alkohol bindet, ohne viele Worte verläßt man sich wieder, die Vielkulturalität ist sprachlos, das liegt an den verschiedensten Grenzen, man begrüßt sich beim Austausch von Geld, 3Markfünzig und Tschüß, manche höfliche Menschen verabschieden sich auf türkisch, das haben sie im Urlaub gelernt. Fisun gießt Tee ein, ob uns kalt wäre, ob wir uns setzen wollen, ob sie den Elektroheizer herüberstellen soll.
Eigentlich arbeitet sie gerne im Imbiß, sagt sie, es ist immerhin ein Kontakt mit der Außenwelt, alles was sie kennenlernt, lernt sie hier kennen, „in der Schule waren wir eine rein türkische Klasse und ansonsten verbringe ich die meiste Zeit mit der Familie. Der Imbiß ist ein Blick nach draußen“. Außerdem hat sie es leichter als andere, meint sie sie muß wenigestens nicht in der Kälte stehen, wie die HändlerInnen in den Läden, sie hat keinen Chef, wie in der Fabrik, sie arbeitet mit der Familie zusammen und kann sich ausruhen. „Manchmal habe ich sogar Zeit zum Lesen“, sagt sie, auf ihrem Stuhl liegt ein Buch „Einführung in den Marxismus“, eine Freundin aus einem Kulturverein hat es ihre geliehen. KommunistInnen sind keine Seltenheit unter den TürkInnen, auch das ist anders, mit fällt es auf, „ja, das lese ich gerade, aber esist langweilig, es hat mit meinem Leben nicht viel zu tun“, es klingt ehrlich enttäuscht.
Als wir über den Urlaub reden, kommen wir auf das ewige Theme. Bei ihrem letzen Aufenthalt in der Türkei wollten sie sie verheiraten, ein Nachbar ist gekommen, er hat bei den Eltern gefragt, ihnen hätte er gefallen, aber Fisun wollte nicht, zuerst ja, aber dann haben sie sich gelöst, das war nicht das erste Mal, die Eltern akzeptierten es trotzdem, „sie haben Respekt für meine Entscheidung,das ist viel wert „.
Immer wieder dreht sich alles ums Heiraten, kompliziert, aber eigentlich verständlich, wenn Sexualität ein Tabu ist, das erst mit der Ehe gebrochen wird. Warum sie nicht so lebt, wie sie will, frage ich, eigentlich ist es rhetorisch, sie könnte sich doch mit ihrem Geld eine eigene Wohnung suchen und dann weitersehen. Sie schüttelt mit dem Kopf und findet die Idee abwegig. „Ich bin 22 und hatte noch nie einen Freund, das ist mein größtes Problem.“ Unverheiratet würde sie mit niemandem eine Beziehung eingehen, das ist klar, sie wäre ausgestoßen, und was noch schlimmer ist, auch ihre Familie wäre geächtet. „Ich muß mich bald entscheiden, ich habe nicht mehr viel Zeit.“ Ich verstehe, aber ich verstehe nicht.
Semra
Oft schläft sie, wenn wir sie besuchen, sie kann es sich leisten, ihre Eltern haben in 20 Jahren genug gespart, damit sie nicht arbeiten muß. Oder sie ist weg, wenn sie kann, geht sie aus zu Verwandten oder zu Freudinnen, in ihrer Wohnung ist sie selten. An das individualisierte Leben, das sie selbst gewählt hat, hat sie sich nicht gewöhnt. „Am Anfang war es am schlimmsten, ich habe nachts geheult vor Einsamkeit.“ Auf die Frage, warum sie dann ausgezogen ist, weiß sie keine richtige Antwort. „Ich wollte anders leben, aber irgendwie auch wieder nicht. Ich habe mich nicht entscheiden können, wo ich hingehöre.“
Semra ist eine Ausnahme. Es ist immer noch nicht besonders häufig, daß türkische oder kurdische Frauen allein wohnen, und wenn, dann haben sie meistens mit ihrer community gebrochen. „Für mich war es Emanzipation, auszuziehen“ sagt sie, dreht ihr Glas in der Hand, lacht „und es hat sich nicht gelohnt“.
Ihre Wohnung ist nicht so, wie ich viele türkische Wohnungen kenne, keine Bilderteppiche an den Wänden, keine schweren Möbel, kein Video, keine Blumentapeten, kein Plastikkitsch, keine dicken Ehebetten und ausziehbare Couch. Irgendwie eine Mischung. Von den schweren Vorhängen hat sie sich nicht gelöst. „Ich will nicht, daß mir die Nachbarn hereinschauen“, Teppichboden und Einbauküche, immer noch hat ihre Wohnung etwas leicht behäbiges, auch das Ausdruck ihres unsicheren Kompromisses, der immer zu brechen droht. „Mein Problem ist, daß man mir nie etwas verboten, nie etwas vorgeschrieben hat. Ich habe mich so entscheiden können, wie ich das wollte“, jetzt steht sie zwischen den Stühlen, sagt sie, hat die ihr vorgeschriebene Bahn verlassen, aber sie findet sich in der neuen nicht zurecht. „Ich hatte Glück, mein Vater ist fortschrittlich, er hat verstanden, daß ich nicht traditionell leben will, und er hat mich weggehen lassen, er hat mir erlaubt, daß ich Freunde habe, er hat mich sogar ausziehen lassen, aber weniger Probleme habe ich dadurch trotzdem nicht“. Semra ist 25, ohne Ausbildung, ohne klares Lebensziel. Sie will nicht traditionell leben, aber auch nicht einsam. Sie will heiraten, aber hat gleichzeitig Angst davor. Die Unsicherheit ist erdrückend, lähmend.
Stundenlag trinken wir Tee, im Hintergrund läuft der Fernseher, kauen Weichgummis oder Pistazien, draußen kohlenstaubgrau die Luft, am Fenster rinnen kleine Tropfen herab, wir wiederholen die immergleichen Bewegungen, Semra raucht, die Füße angezogen und den Kopf aufs Knie gestützt, unerträglich starr auf ihrem Sessel, die Situation wiederholt sich ständig, in der Wohnung immer wieder das gleiche statische Bild. Ich spüre es wie Blei, überbrückend greift man nach den Nüssen oder Zigaretten, dreht Gläser in der Hand, starrt in den Fernseher. Welche Alternative besitzt sie.
Das was ich vorschlage, ist offensichtlich keine. Eine Freundin Semras, Fatima, hat mit ihrer Familie gebrochen, eine echte „Deutschländerin“, sie spricht besser deutsch als türkisch, hat ihr Leben hier verbracht, Abitur und eine Ausbildung, und dann eine Beziehung mit einem Deutschen angefangen. „Die Eltern haben sie rausgeworjen, die Bekannten machen sie auf der Straße an, in die Türkei zu den Verwandten geht sie nicht mehr mal zum Besuch.“
Eine Zeit lang ist Fatima magersüchtig gewesen, die Beziehung mit ihrem Freund ist zu Ende gegangen. Sie leidet darunter, die Familie nicht mehr zu sehen. Unsere Familienbeziehungen „sind anders als bei den Deutschen“, meint Semra, selbst wenn man sich „nicht gut mit ihnen versteht“, wen hat Fatima jetzt, fragt Semra, ihre Arbeit allein gibt ihr auch nichts, selbst jetzt, „wo sie mit alten gebrochen hat, trifft sie das Gerede der türkischen Leute.“
Dazu kommt die Angst, weil eine alleinlebende, türkische Frau für Freiwild gehalten wird. Fatimas Leben ist keine „Alternative, die Emanzipation hat sie kaputtgemacht. So will ich nicht leben.“
Seit längerem denkt Semra daran, in die Türkei zu gehen. Obwohl sie nicht lange dort gelebt hat, ist es ihr Land, mehr als Berlin – zumindest hier sagt sie das. Immer wieder dreht sich das Gespräch darum, daß sie bei den Verwandten wohnen könnte, vielleicht würde sie einen Laden aufmachen oder im Tourismus arbeiten. Die klassische Hausfrau werde sie nicht spielen, „aber die Türkei, das ist Wärme zwischen den Menschen, wenigstens ein Rest Leben.“ Viele türkische Freundinnen haben ihr abgeraten zurückzugehen, sie würde ihr Leben kaputtmachen, haben sie ihr gesagt, Semra weiß, daß es so sein könnte. Vor allem, wenn Refah die Wahlen gewinnt.
„In Istanbul wollen sie getrennte Busse für Frauen und Männer einführen. Wann werden wir uns wieder verschleiern müssen?“
Diese Unsicherheit macht sie krank, leer und energielos. Vereine, Sport, irgendein Engagement, alles gibt sie nach 3 Wochen auf, es macht keinen Spaß, „ich will weg, aber ich will nicht“.
Als wir später durch das Treppenhaus gehen und ich sie nach den Nachbarn frage, da erzählt sie auch von den anderen Tragödien, von den immer noch üblichen. Die Frauen in den Nachbarwohnungen gehen nicht oft raus, sie erleben „40 qm Deutschland“, Eine „haben sie mit 17 aus einem Dorf geholt“, sagt Semra, „sie wollte nicht, sie hat einen anderen geliebt, aber sie haben sie mit dem Mann hier verheiratet, obwohl er 20 Jahre älter ist, sie ist durchgedreht“, jetzt hört sie die Frau manchmal schreien, „sicherlich vergewaltigt er sie, er ist ein Schwein“. Trotzdem kann sie mit der Frau nicht viel reden, sie will nicht, vielleicht darf sie auch nicht, schließlich ist Semra eine Hure, sie lebt allein, das ist unanständig, bestimmt hat es der Mann ihr verboten, und so kommt sie nur selten an die Tür, eigentlich nur, wenn sie mit irgendwelchen Behörden zu tun hat, denn sie kann kein Deutsch und dann bittet sie Semra darum, ihr etwas zu übersetzen.
Ein paar Tage später treffe ich Semra wieder, es ist Ende März. Von der Moschee am Kottbusser Tor aus fährt ein Autokonvoi hupend durch die Straßen, aus dem Fenster die flatternden Fahnen mit der Weizenähre, die Islamisten feiern ihren Wahlsieg bei den türkischen Kommunalwahlen. Fast alle großen Städte sind an sie gegangen: lstanbul, Ankara, Kayseri. Sogar viele kurdische Städte haben ausgerechnet REFAH gewählt, nachdem die linke DEP wegen des schmutzigen Krieges der Militärs ihre Kandidatinnen zurückziehen mußte.
„Die Schweine haben Aufwind“, sagt Semra, „die Grauen Wölfe genauso wie die Islamisten.“ Überall sieht man die Hocas, die dreisten Männer mit Bärten und ihren Mützen, „wir sollten sie verbrennen, so wie sie uns in Sivas verbrannt haben.“ Semra erzählt, daß die türkischen Leute in Berlin in Aufregung geraten sind durch die Wahlen, vor allem die Frauen. „Wir haben es satt, sogar Frauen mit Kopftüchern habe ich in der U-Bahn schimpfen gehört. Es ist Zeit, daß wir etwas unternehmen. „Sie kommt von einem Treffen, mit ein paar Freundinnen hat sie sich überlegt, was sie machen können. Sie wollen sich organisieren. „Ich weiß zwar nicht genau, was ich meinem Leben will, aber ich weiß, daß ich das, was da auf uns zukommt, nicht will. Einen neuen Iran werden wir nicht zulassen.“
Wir stehen auf der Straße, ein paar Jugendliche laufen wütend den Autos hinterher. Man merkt ihre Anspannung. Semra wirkt zum ersten Mal seit Monaten hellwach. Sie schüttelt den Kopf: „Wir werden uns wehren. Wir werden nicht wie die Deutseben sein, aber auch nicht wie die Islamisten uns haben möchten. Wir werden unseren eigenen Weg finden.“ Angespannt sieht sie aus, gestreckt, nervös, aber voller Energie. Zum ersten Mal sehe ich sie so. Ich nicke.
Einer der Jugendlichen wiegt einen Pflasterstein in seiner Hand, die Augen auf den Konvoi gerichtet, seine Schritte federnd. Keine Frage, ihre Antwort wird eindeutig sein, hellsichtig. Kompromißlos.