Es scheint das Anliegen der Staatsanwaltschaft zu sein, eine lebenslängliche Haftstrafe gegen zumindest einige der Angeklagten zu erzielen. Gegen die fünf Gesuchten, darunter drei GenossInnen mit deutschem Paß, gibt es einen internationalen Haftbefehl und eine Hetzkampagne in den Medien. Monatelang waren Berliner Zeitungen, Fernseh- und Radiosender (mit den löblichen Ausnahmen junge welt, Neues Deutschland und ORB) nicht bereit, auf Initiative der Unterstützerinnen Berichte zu bringen. Die Informationsgrundlage sei zu dünn, hieß es bei Treffen von Antifas mit JournalistInnen. Knapp vier Tage nach der bundesweiten Demonstration am 21. Mai in Berlin brachten dann alle Zeitungen und Fernsehsender doch noch breit etwas über den „Fall Kaindl“ – nämlich Fahndungsfotos. Die Erklärung der Polizei, „der Fall sei aufgeklärt“, war den Journalistinnen anscheinend Information genug, um an die Öffentlichkeit zu gehen. So ist die BRD-Medienwirklichkeit, zumindest wenn es um das Thema Kriminalisierung geht.

Die Fahndungsfotos waren auch eindeutig eine Reaktion auf unsere Mobilisierung. Polizei und Justiz sahen sich offenbar genötigt, auf die Anti-Kriminalisierungs-Demonstration am Pfingstwochenende mit einer eigenen Öffentlichkeitskampagne zu antworten.

Zum Fall

In der Nacht vorn 3. auf den 4. April 1992 versammelten sich mehrere Berliner Funktionäre der Deutschen Liga, darunter der ehemalige REP-Vorsitzende Carsten Pagel und der heutige Mitarbeiter der Jungen Freiheit Torsten Thaler, nach einer Veranstaltung des Fallersleben-Bildungswerks zum Essen in einem China-Restaurant im Berliner Stadtteil Neukölln. Im Verlauf des Abends gerieten die Faschisten mit einem Mann türkischer Staatsbürgerschaft, der sie erkannt hatte, in einen verbalen Streit. Ein bis zwei Stunden, nachdem der Mann die Kneipe verlassen hatte, wurde das Lokal – angeblich gegen 0 Uhr – von einigen Vermummten angegriffen. Kaindl und Thaler wurden durch Messerstiche verletzt, Kaindl so schwer, daß er starb.

Obwohl die Polizei von „Vermummten“ gesprochen hatte, wurde sofort gegen einen „türkischen oder arabischen Täterkreis“ ermittelt. Von dem Mann, der sich in der Kneipe mit den Faschisten gestritten hatte, wurden Phantombilder verteilt, und eine Belohnung von 10.000 DM wurde ausgesetzt. Der Mann, ein Onkel der jetzt inhaftierten Fatma, stellte sich zwar, die Ermittlungen kamen aber dennoch nicht voran. Im September schließlich übermittelten Staatsschutzbeamte, wahrscheinlich aus Frust, weil sie auf juristischem Wege nicht recht vorankamen, der Deutschen Liga Informationen über die angeblich Tatverdächtigten, und die Faschos titelten in ihrer Hauspostille: „Wir kriegen Euch alle“. Die Weitergabe von Ermittlungsergebnissen an die Faschisten überrascht nicht. Von vielen Berlinern CDU-Mitgliedern ist bekannt, daß sie über gute Kontakte zur Nazi-Szene verfügen. Als aktuellstes Beispiel ist hier der Sprecher des Innensenators Heckel- mann, Bonfert, zu nennen, der sich – wie der Verfassungsschutz verlauten ließ – über Jahre hinweg mit Faschisten traf.

Nach der Veröffentlichung in der Deutschen Rundschau wurde es still um den Fall Kaindl. Erst im November 1993 begann die Durchsuchungs- und Verhaftungswelle gegen unsere FreundInnen. Inzwischen weiß man, daß sich der damals 17jährige Erkan am 13. November der Polizei gestellt und ein Dut-zend Personen schwer belastet hat. Dazu muß man jedoch auch wissen, daß Erkan seit einiger Zeit in psychiatrischer Behandlung war.

Polizei und Staatsanwaltschaft hielt das nicht davon ab, ihre Tatvorwürfe auf den Aussagen von Erkan aufzubauen. Im Dezember kam mit dem 20jährigen Bazdin ein weiterer angeblich „Tatgeständiger“ dazu. Unter dem Druck eines Mordvorwurfs machte der kaum politisierte Bazdin Aussagen in aktenfüllendem Ausmaß. Bazdin widersprach jedoch der These, daß es eine abgesprochene, verabredete Tat gewesen sei. Diese Darstellung einer gemeinsamen Planung ist bis heute Grundlage für die Ermittlungsbehörden bei ihrer Version eines „gemeinschaftlichen Mordes“. Der Versuch, elf Menschen lebenslänglich in den Knast zu sperren, stützt sich also ausschließlich auf die Aussagen eines zum Zeitpunkt der Verhöre psychisch Verwirrten, – denn so viel ist klar: Erkan war im November und Dezember völlig fertig. Er wurde mit Psychopharmaka ruhig gestellt, erkannte seine Familie nicht mehr und verübte zum Jahreswechsel einen Selbstmordversuch.

Die Version der Ermittlungsbehörden ist unhaltbar. Es kann sich nämlich nicht um einen abgesprochenen Angriff gehandelt haben. Offensichtlich gingen die Nazis nach ihrer Veranstaltung am Abend des 3. April 1992 spontan in das Lokal am Kottbusser Damm. Dies sprach sich in Kreuzberger und Neuköllner Kneipen herum, woraufhin einige Leute aufbrachen, um das Nazi-Treffen aufzulösen. Aus anderen Fällen wissen wir, wie weit die Vorstellungen bei solchen halboffenen Aktionen reichen: Manche wollen die Präsenz von Nazis publik machen, andere wollen ihnen deutlich eine aufs Maul hauen. Mord jedoch ist auszuschließen. Die antifaschistische Bewegung hat unter den bestehenden Bedingungen kein Interesse daran, Nazis umzubringen und dadurch eine Eskalation auszulösen, die wir nicht gewinnen können. Und selbst wenn sich Linke dazu entscheiden sollten, Nazis gezielt umzubringen, dann erstens sicherlich nicht bei zufällig zustande kommenden Aktionen, wo man andere Beteiligte nur flüchtig kennt, und zweitens bestimmt nicht den Landesschriftführer Gerhard Kaindl, der nicht einmal in Berlin bekannt war.

Kaindls Tod war unbeabsichtigt. Er ist aber erklärbar aus einem rassistischen Klima, in dem Hunderttausende von Immigrantinnen, Roma und Sinti, Juden und Jüdinnen, Obdachlose und Flüchtlinge nicht mehr ihres Lebens sicher sind. Hinter dieser Entwicklung stehen unter anderem Leute, wie sie am 3.April im China-Restaurant zu Abend aßen.

Antifaschistischer Widerstand ist notwenig

Offensichtlich hat die Kriminalisierungswelle gegen Antifas und ImmigrantInnen, – denn die Kaindl-Ermittlungen sind kein Einzelfall –, politische Ziele. ImmigrantInnen und Flüchtlinge werden durch Illegalisierung zu sozialen, arbeitsmarktpolitischen und gesellschaftlichen Underdogs gemacht, die man zu Hungerlöhnen ausbeuten und jederzeit herauswerfen kann. Ihr Widerstand soll auf jeden Fall verhindert werden. Ihre Organisierung wird zu „neuen Formen des Terrors“ hochstilisiert, wie es bei den kurdischen Autobahnblockaden der Fall war. Genau das gleiche gilt auch für die antifaschistische/antirassistische Bewegung: Sie soll eingeschüchtert und über die Gewaltfrage gespalten werden. Niemand soll sich mehr trauen einzugreifen, wenn sich Nazis irgendwo versammeln.

Der Verzicht auf Widerstand ist in diesem Staat jedoch tödlich. Magdeburg hat das noch einmal eindringlich gezeigt. Deutsche Polizisten fesseln ImmigrantInnen, damit Nazis ohne Angst zutreten können, sie ermitteln gegen sich selbst verteidigende TürkInnen und reden von der eigenen „Handlungsunfähigkeit“. Von diesem Staat ist im Kampf gegen den Faschismus nichts zu erwarten, zu viel Interessensübereinstimmung besitzt er mit den Nazis. In Rostock war Seiters unmittelbar vor der schlimmsten Pogromnacht vor Ort und hat den Rückzug der Polizei (die im übrigen Dutzende von Antifas festnahm, dagegen angreifende Nazis schonte) wahrscheinlich selbst angeordnet. In Solingen trainierte der V-Mann Bernd Schmitt die Nazis nicht nur sportlich. Als er enttarnt wurde, mußte er nicht abtauchen, wahrscheinlich weil seine „Kameraden“ seine Tätigkeit billigten. Man könnte noch mehr Beispiele anführen. Die antifaschistische Bewegung kann daher kein stärkeres Eingreifen des Staates fordern. Das würde heißen, den Bock zum Gärtner zu machen. Wir sind auf unsere eigene Stärke angewiesen. Wenn wir die Nazi-Strukturen nicht angreifen, macht es niemand.

Deswegen war es natürlich richtig, am 3.April 1992 zum China-Restaurant zu gehen, um das dortige Treffen aufzulösen. Und aus dem gleichen Grund hat der bürgerliche Staat –, der rechts eben nicht blind ist, wie der populäre Spruch glauben machen möchte, sondern dort bisweilen koordinierend und unterstützend eingreift –, kein Recht, über ImmigrantInnen oder AntifaschistInnen zu urteilen.

Andererseits stellt sich natürlich – längst nicht nur im Zusammenhang mit dem Kaindl-Fall – auch die Frage nach der Wahl der Mittel, Antifaschistische Aktionen müssen so angelegt sein, daß unbeabsichtigte Folgen so weit wie möglich ausgeschlossen werden können. Bei offenen Aktionen tragen alle, aber vor allem die Erfahreneren, auch in der Hinsicht Verantwortung, daß sie einschreiten, wenn über die Grenzen der notwendigen Gewalt hinausgegangen wird. Das Ziel bei zufällig zustande kommenden Antifa-Aktionen kann unter den heutigen Bedingungen nur heißen, Faschisten einzuschüchtern. Wenn Aktionen dagegen eine Eigendynamik entwickeln, dann müssen gerade die Erfahreneren einschreiten und gegebenenfalls die Aktion abbrechen. Ansonsten geht die politische Bestimmung verloren.

Diese Einschränkung ist keine Kritik an konkreten Personen. Wir haben kein Interesse und keine Berechtigung, über andere den Stab zu brechen. Uns geht es darum, für die weitere politische Arbeit zu lernen. Unsere Solidarität mit den Kriminalisierten ist unbedingt.

Über die Kampagne

Die Unterstützungskampagne für die verfolgten Antifaschistinnen hat es in den letzten Monaten nicht leicht gehabt. Es war nicht gerade besonders viel, was in der Öffentlichkeit nach Meinung der Anwälte gesagt werden sollte. Dazu kam die Schwierigkeit des Themas Kriminalisierung und die innere Zerstrittenheit des bunt zusammengewürfelten UnterstützerInnen-Kreises.

In den nächsten Monaten bis zum Prozeßbeginn im September gilt es, eine breitere Öffentlichkeit anzusprechen als bisher. Der Versuch, uns mit der Demonstration am 21. Mai auch an Menschen zu richten, die nicht zur Antifa-Bewegung gehören, konnte in Anbetracht des Themas und einer feh-lenden Antifa-Bündnisarbeit in den letzten fünf Jahren beim ersten Mal noch nicht glücken. Dennoch muß es in diese Richtung weitergehen. Schließlich ist der Widerstand gegen faschistische Strukturen keine ausschließliche Angelegenheit von Linksradikalen. Betroffen vom Nazi-Terror sind Millionen von Menschen, und die Kriminalisierung gegen Widerstand leistende Gruppen wird – wenn es die Verhältnisse erfordern – sich auch nicht auf die radikale Linke beschränken.

Damit eine breiter angelegte Kampagne auch unter linken GewerkschafteriInnen, KünstlerInnen, PDSlerInnen usw. Gehör finden kann, ist es aber auch notwendig, die internen Streitigkeiten im UnterstützerInnen-Kreis offener auszusprechen. Es ist ein völliger Trugschluß zu glauben, daß das Zudeckeln von Widersprüchen von einem breiteren Publikum nicht wahrgenommen wird. Inhaltliche Debatten über Aussageverweigerung oder über die Wahl militanter Mittel sind auch für Leute außerhalb der autonomen Antifa wichtig. Gerade um politische Glaubwürdigkeit zu gewinnen, ist es wichtig aufzuzeigen, daß man sich mit Themen inhaltlich auseinandersetzt und nicht nur aus Prinzip Kriminalisierte unterstützt. Mit allen, von denen wir Solidarität für die Verfolgten erwarten – egal ob sie aus Gewerkschaften, jüdischen Gemeinden oder Parteien kommen-, müssen wir über die Legitimität militanter Aktionen diskutieren. Zwar sind wir nicht sicher, ob das in den nächsten Monaten zu schaffen sein wird, aber auch für die Zukunft gilt, daß Diskussionen über antifaschistische Aktionen und Organisationsformen breiter geführt werden müssen.

Die beiden umstrittensten Punkte in der Kampagne waren bisher, a) ob Aussagen im Prozeß gemacht werden sollten und b) ob Bazdin und Erkan als Verräter öffentlich zu „brandmarken“ sind. – Angesichts dessen, daß bereits zwei Aussagen gemacht worden sind, ist es relativ wahrscheinlich, daß das Gericht diesen Aussagen glauben wird. So wie es aussieht, würde dies auf Verurteilungen wegen Mordes hinauslaufen. Kein Wunder also, daß sich die Inhaftierten und ihre Anwälte die Frage stellen, ob sie auch Aussagen zu den Vorwürfen machen, durch die sie sich ganz oder teilweise entlasten. Bei solchen Einlassungen müßte, damit sie vor Gericht glaubhaft sind, auch einiges zum Tatvorwurf gesagt werden.

Ein solches Vorgehen ist immer gefährlich. Jede Aussage ist ein Kniefall vor der Justiz und macht es dem Gericht leichter, die Angeschuldigten gegeneinander auszuspielen. Außerdem gibt es keine Garantie dafür, daß den Aussagen auch Glauben geschenkt wird. Beide Varianten – politische Verteidigung und Aussageverweigerung oder entlastende Einlassungen – sind daher wenig attraktiv.

Der Fall Kaindl ist jedoch in vieler Hinsicht bereits verkorkst. Aus diesem Grund bringt das bedingungslose Festhalten an Prinzipien wie „keinerlei Aussagen bei der Justiz“ hier keine/n weiter. Die Antworten müssen vor allem von den betroffenen AntifaschistInnen selbst gefunden werden. Völlig falsch ist es, sie mit Anforderungen von außen unter Druck zu setzen. Es ist natürlich ekelhaft, sich vor der Justiz eines rassistischen Staates zu rechtfertigen, aber noch ekelhafter ist die Vorstellung, daß unsere GenossInnen für unzählige Jahre in den Knast kommen. Wir fordern von niemandem ein heldenhaftes Verhalten, und deswegen finden wir jede Strategie, die gemeinsam von den „politischen“ Angeklagten (bis jetzt Fatma, Mehmet und Abidin) getragen werden kann und durch die keine anderen Personen belastet werden, in Ordnung. Die Parole „Keine Aussagen bei der Justiz“ ist wichtig, was das Verhalten bis zur Erarbeitung einer Prozeßstrategie mit GenossInnen und AnwältIn angeht. Im konkreten Fall Kaindl hat sie ihre Grenzen.

Das gilt natürlich auch für die Gesuchten. Sich zu stellen, ist eine Erniedrigung, an der schon viele zerbrochen sind. Aber wir können niemandem die Entscheidung abnehmen, ob er oder sie ein neues Leben woanders aufbauen will.

Der zweite wesentliche Streit entbrannte, als die Berliner Rote Hilfe die Forderung erhob, Bazdin und Erkan endlich als „Verräter“ zu betiteln. Schließlich sind nur durch ihre Aussagen die Verhaftungen möglich geworden. Hätten sie geschwiegen, wäre der Fall wahrscheinlich endgültig abgeschlossen worden.

Die meisten Unterstützerinnen haben die Freilassungsforderung lange Zeit auf alle fünf bezogen und sich nicht entsolidarisierend gegenüber Erkan und Bazdin geäußert. Genau das lehnte die Rote Hilfe ab. Ihrer Meinung nach sei es an der Zeit, sie endlich als Verräter darzustellen.
Wir finden diese Forderung falsch. Erkan wie Bazdin sind wenig politisierte Jugendliche, die natürlich wissen, daß es Verrat ist, Freunde an die Polizei auszuliefern. Auf der anderen Seite fragen wir uns aber auch, aus was für Gründen sich ein 17jähriger (Erkan) stellt, um Aussagen zu machen. Warum ein anderer (Bazdin) zu Hause darauf wartet, daß man ihn abholt. Für uns liegt der Schlüssel des Problems nicht darin, zwei Jugendliche verantwortlich zu machen. Die Strukturen und die politische Arbeit von großen Teilen der Antifa gilt es zu thematisieren. Da werden neue Leute nicht eingebunden, da gibt es Szene-Sumpf statt funktionierende Gruppen, Aktionismus, aber keine Vermittlung von politischen Erfahrungen. Wenn diese Selbstkritik nicht gemacht und endlich Konsequenzen gezogen werden, bleibt jeder Angriff auf Erkan und Bazdin ein Witz.

Natürlich wird man sie, wenn sie im Prozeß ihre Aussagen aufrecht erhalten sollten, als „Kronzeugen“ angreifen müssen. Natürlich kann man gerade an ihrem Fall sehen, wie wichtig eine konsequente Aussageverweigerung ist. Aber Erkan und Bazdin zum Kern des Problems zu machen, heißt Fehler zu personifizieren. Die Kritik hat anderswo anzusetzen. Erkan und Bazdin ist bis zum Prozeß im September die Möglichkeit offenzuhalten, ihr Verhalten zu verändern. Wir alle müssen Schlußfolgerungen für die politische Arbeit ziehen. Organisiert den antifaschistischen Widerstand.