Außerdem: FelS sucht Antworten auf das, was man soziale Frage nennt. Dass sich diese gesellschaftlich und ganz persönlich in neuer Schärfe stellen, ist im eigenen Lebensalltag wie in der „politischen Debatte“ spürbar. Gründe genug, genauer – und auch öffentlicher – zu besprechen, wie das Private mit dem Politischen verknüpft sein kann und könnte. An Stelle eines Leitartikels gibt es zur Einstimmung auf das Schwerpunktthema dieses Mal eine E-Mail-Debatte, die versucht, eine zeiträumliche Brücke von der Großeltern- zur Kindergeneration zu schlagen (1933, Niederlage der Arbeiterbewegung – 2015, neue Klassenfrage!). Sie gibt heterogenen persönlichen Situationen, Erfahrungen und Ansichten Raum, zugleich ist sie nur ein kleiner Ausschnitt der FelS-Diskussion. Die E-Mail-Adressen sind alle, alle(!) Fiktion, der Rest ist ein Teil, aber nur ein Teil der ganzen Wahrheit.

Subject: [red] Linke Generationenprojekte
Von: she <she@mail.arranca.org>
An: Arranca alle <red@mail.arranca.org>
Datum: 13 Okt 2005 13:03:37

Es gibt in (West-)Deutschland kein linkes Gedächtnis und keine (nicht-fragmentierte) linke politische Kultur. Das ist anders als z.B. in Italien, wo die kommunistische Tradition fortgeschrieben wurde und es ein soziales Milieu der Linken gibt. Die Gründe sind bekannt: Die Vernichtung der deutschen Arbeiterbewegung und der KPD, die Korruption ihres sozialen Milieus im NS, dann der Antikommunismus im Westen haben die Kommunikation zwischen den Generationen gekappt. Die 68er haben das nicht durch ein Anknüpfen an linke Traditionen aufgehoben. Sie haben sich im Bruch mit der kommunistischen Überlieferung und gegen die NS-Vergangenheit der Elterngeneration konstituiert. Irgendjemand hat mal von „nachholender Resistance“ gesprochen. Die Frage ist: Was hat sich nach '68 entwickelt? Die politischen AktivistInnen der heutigen Generation 30+ (die jetzt selbst Kinder bekommen) sind Kinder der 68er. Es wäre interessant festzustellen, wie weit sich generationenübergreifende linke Kommunikationsstrukturen entwickelt haben oder ob Abgrenzungsstrategien überwiegen. Recht offensichtlich ist die heutige undogmatische soziale Linke ein abgegrenztes Generationenprojekt, in dem für „ältere Linke“ wenig Platz ist. Was sind die Gründe? In den Gewerkschaften, der Linkspartei et al. ist das bekanntlich anders. Wir sollten darüber nachdenken, wie wir es schaffen können, dass Leute durch verschiedene Lebensabschnitte dabei bleiben. Welche Ausschlussmechanismen stehen dem Anspruch einer generationenübergreifenden linksradikalen Politik entgegen? Wie kann eine soziale Vermittlung und politische Überlieferung aussehen?

Subject: [red] Heterogene Lebenswelten
From: <nor@mail.arranca.org>
To: „Redaktion“ <red@mail.arranca.org>
Date: Thu, 13 Oct 2005

Links sein war für mich in erster Linie ein ganz persönlicher Protest gegen die bürgerliche Enge meines Elternhauses und eine Absage an den vorgezeichneten Lebensweg. Ich war im Grunde schon Akademikerin bevor ich überhaupt in die Grundschule kam. Ich kenne viele, für die es genauso ist. So viel zu der Kommunikation zwischen den Generationen. Andererseits: Ich finde es sehr interessant mit GenossInnen zu reden, die andere Erfahrungen haben, weil ihre Eltern 68er waren und immer noch Linke sind. Für mich wäre es unvorstellbar, mit meinen Eltern auf eine Demo zu gehen. Jetzt gibt es schon mindestens eine Generation politischer AktivistInnen, die von linken Eltern erzogen wurden. Bei FelS gibt es mehrere Eltern und Leute, deren Eltern im Alter ihrer GenossInnen sind. Zumindest zwischen Anfang 20 und Ende 40 ist die Altersstruktur relativ ausgeglichen. Interessant ist, dass wir jetzt in eine Phase kommen, in der Leute mit Kindern keine Ausnahmeerscheinung mehr sind, plötzlich sind 4-5 Leute Mütter oder Väter geworden. Ich bin gespannt, wie wir damit umgehen werden. Die Gruppe hält eine relative Heterogenität ganz gut aus, sowohl altersmäßig als auch in Bezug auf kulturelle Codes und Lebensumstände. Leute, die seit Jahren arbeitslos sind, Azubis, Studis, selbst Beamte sind dabei – wenn das mal nicht was Bemerkenswertes ist. Und trotz aller Unterschiede gibt es Gemeinsamkeiten.

Subject: RE: [red] Heterogene Lebenswelten
Von: she <she@mail.arranca.org>
An: Arranca alle <red@mail.arranca.org>
Datum: 13 Okt 2005 17:34:04

Was stimmt ist, dass FelS in vielerlei Hinsicht undogmatischer und kulturell offener als andere Gruppen derselben Größe ist. Aber ob es einem gefällt oder nicht: Es gibt eine unausgesprochene Norm, die sich in einer bestimmten „Speech“ ausdrückt – einem bestimmten Bildungsgrad, einer Art, sich zu kleiden und aufzutreten. Damit sind implizite Ansprüche an das zeitliche Budget und an intellektuelle Ressourcen verbunden. Wer anders spricht, keine Texte schreiben und diese in der erwarteten Weise debattieren kann oder will – krass gesagt: kein sozialwissenschaftliches Grundstudium absolviert hat –, fällt aus dem Rahmen. Und wenn man es zeitlich nicht (mehr) hinbekommt, entsteht schnell eine frustrierende, mit schlechtem Gewissen verknüpfte Hetzerei… Mit Kindern oder in Vollzeit-Lohnarbeit ist das schwierig. Für Studis hingegen passt es eher, die können sich mit Spaß und Elan reinstürzen, es sogar als Lebensmittelpunkt sehen. Bis morgens um vier am Soli-Tresen zu stehen ist für Leute, die um sieben aufgestanden sind und am nächsten Tag wieder um sieben aufstehen müssen, nur eine weitere Form der Pflichterfüllung.

Betreff: [red] Kulturelle Codes
Von: „jos@mail.arranca.org“
An: „red@mail.arranca.org“
Datum: 13.10.2005 17.46 Uhr

Ich find’s immer noch super, bis nachts um vier Soli-Tresenschichten zu machen, obwohl ich zu den Älteren gehöre. Im Geheimen habe ich aber manchmal das Gefühl, mich – auch vor mir selbst – dafür rechtfertigen zu müssen, dass ich immer noch aktiv linksradikale Politik mache und in einer Politgruppe rumhänge. Als ob ich mich weigern würde, erwachsen zu werden. Was ich zunehmend anstrengend und albern finde, ist die Jugendlichkeit, die zur kulturellen Repräsentation politischer Radikalität gehört.

Subject: RE: [red] Kulturelle Codes
Von: she <she@mail.arranca.org>
An: Arranca alle <red@mail.arranca.org>
Datum: 13 Okt 2005 17:51:23

Das stimmt schon. Was man aber auch, wenn man zu den Älteren gehört, zugeben muss, ist der Überdruss, der sich einstellt, wenn man merkt, es rücken gerade Leute nach, die die gleichen Diskussion führen wollen, die man schon viermal geführt hat. Sicher zu stellen, dass politische und Lebenserfahrungen zwischen den „Generationen“ vermittelt und vorhandene Wissenshierarchien produktiv gemacht werden, ist ja nicht nur Aufgabe der Jüngeren, die die Norm der kulturellen Codes setzen, sondern auch der Älteren. Die werden doch manchmal etwas herablassend und altklug („das haben wir vor zehn Jahren schon diskutiert“). Dabei gibt es keine Alternative dazu, Erfahrungen in annehmbarer Form mitzuteilen und zur Diskussion zu stellen.

Betreff: [red] Wie geht linksradikale Politik über 30?
Von: id <id@mail.arranca.org>
An: „red-ml“ <red@mail.arranca.org>
Datum: 13.10.2005, 17:51

Für mich hat sich die Frage gestellt, wo für mich ein Platz in der radikalen Linken ist, an dem ich mich mit Anfang 40 noch wohl fühle und meine Vorstellungen als anregend empfunden werden. Dass ich mich für FelS entschieden habe, hatte auch damit zu tun, wie „linksradikale Politik über 30“ gehen kann. Ein Punkt: Ich finde es zunehmend wichtig, an einer Organisierung teilzunehmen, die Strukturen schafft. Die Veränderungen im persönlichen Alltag, die Jobberei, die unterschiedlichen Kraftanstrengungen im Beziehungsfeld WG/Familie haben mich schon so manche Zeiten des Rückzugs und der „niedrigen Flamme“ durchleben lassen. Deshalb brauche ich einen politischen Kontext, in dem die unterschiedlichen und schwankenden Kräfte der Einzelnen berücksichtigt und respektiert, in dem die Anstrengungen in allen Lebensbereichen wahrgenommen und verstanden werden.

Betreff: AW: [red] Wie geht linksradikale Politik über 30?
Von: „mat@mail.arranca.org“
An: „red@mail.arranca.org“
Datum: 13.10.2005 20.21 Uhr

Seit über sechs Jahren gibt es bei FelS Kinderbetreuung bei Vollversammlungen. Bei Bedarf werden sogar Babysitter organisiert, die während des Plenums Kinder zuhause betreuen. Das ist schon beachtlich. Es ist ja keineswegs selbstverständlich: Ich habe schon des Öfteren mitgekriegt, dass das in anderen Gruppen gar nicht bedacht und organisiert wird. Aber als Nutznießerin dieses außergewöhnlichen Arrangements fühle ich mich auf der anderen Seite verpflichtet, in Zeiten, in denen die Belastung durch Arbeit, Kinder etc. wirklich drastisch ist, keine „Auszeit“ zu nehmen, wie das andere vielleicht tun würden. Ich fühle mich mit meinen Kindern auch in diesem aufgeschlossenen Umfeld exotisch. Vor allem das zweite Kind hat einen peinlichen Beigeschmack, weil es jetzt nicht mehr als „Ausrutscher“ angesehen wird. Es handelt sich ja eindeutig um eine vorsätzliche Familiengründung.

Betreff: [red] Kinder & Lohnarbeit
Von: „jos@mail.arranca.org“
An: „red@mail.arranca.org“
Datum: 13.10.2005 20.21 Uhr

Leider ist die Kinderbetreuung das einzige, was man bei FelS als Strategie bezeichnen könnte, wie Leute langfristig und durch verschiedene Lebensphasen dabei bleiben können. Es ist nicht gelungen, die Spannung zwischen den Leuten, die wenig Zeit für Politik zur Verfügung haben, und denen, die mit größerem Zeitpotenzial dabei sind, zu lösen. Ohne schlechtes Gewissen kann man im Rahmen seiner eingeschränkten Möglichkeiten kaum Politik machen. Wenn man eine Vollzeitstelle oder/und Kinder hat, geht die politische Arbeit auf Kosten der Zeit, die man für sich und für Freunde und Freundinnen hätte. Deswegen funktioniert das eigentlich nur, wenn bei der politischen Arbeit gleichzeitig ein großer Teil der sozialen Beziehungen abgedeckt wird, also die politische Gruppe auch ein sozialer Zusammenhang ist. Diese Struktur engt die Teilnahmemöglichkeiten von Leuten ein, die nicht mit 20, sondern mit 40 zu FelS kommen.

Betreff: [red] Hedonistisches Studentenleben?
Von: li <li@mail.arranca.org>
An: red <red@mail.arranca.org>
Datum: Thu, 13 Oct 2005 20:42:23 +0200

Ich teile, ehrlich gesagt, nicht den Eindruck, dass die vielen angehenden AkademikerInnen sorglos über ihre Zeit verfügen. Das hat sich doch stark relativiert, leider. Die meisten machen sich schon im ersten Semester Gedanken über einen sauberen Lebenslauf mit Gewinn bringenden Praktika und Auslandaufenthalten, auch Linke. Es geht dabei nicht nur um (drohende) Studiengebühren und darum, dass nur eine soziale Elite nicht nebenher jobben muss. Es macht sich allgemein eine Mentalität breit, die von Effizienz und Selbstbehauptung statt von Experimenten und Erfahrungshunger geprägt ist. Die praxis- bzw. wirtschaftsnahe Umgestaltung der Studiengänge und die begleitende Leistungspropaganda fördern den sozialen Stress. Im Hinterkopf haben alle Zukunftsangst. Die Zeit des Studiums ist kürzer und anstrengender. „Der Langzeitstudent“ ist in der Standortpresse zu einem ähnlichen Schreckensbild geworden wie „der Gewerkschaftsfunktionär“. Vor zehn Jahren gab es ja noch relativ viele, die sich durch Studium, BAföG und Sozialhilfe eine Existenzgrundlage schufen, die es erlaubte, sich politischer Aktivität zu widmen. Das macht heute kaum noch jemand.

Betreff: RE: [red] Kinder & Lohnarbeit
Von: „mat@mail.arranca.org“
An: „red@mail.arranca.org“
Datum: 13.10.2005 20.48 Uhr

Das Problem liegt nicht nur in der mangelnden Zeit. Es ist auch so, dass Du in einer anderen Welt lebst, wenn Du Kinder hast. Du hast Probleme, die es in der Realität der anderen gar nicht gibt. Bei den Fragen, mit denen man sich als Eltern so herumschlägt (die oft ganz politische Fragen sind), bekommt man von den Leuten, mit denen man politisch zusammenarbeitet, kaum Unterstützung. Ein Beispiel: Pränataldiagnostik. In der politischen Diskussion taucht das höchstens am Rande und abstrakt als „politische Meinung“ auf, die aber dann folgenlos geäußert wird. Wenn man entscheiden muss, wie man sich verhalten soll, wenn man zur statistischen Risikoschwangeren erklärt wird, helfen Dir Bekundungen nicht weiter. Oder das Thema Schule. Viele (Berlin-)Kreuzberger Eltern aus der linken alternativen Ecke schicken ihre Kinder auf Privatschulen oder in trendige Schulen mit innovativen pädagogischen Konzepten und niedrigem Anteil türkischer Kinder. Ist es richtig, wenn ich nach meiner politischen Überzeugung handle und mein Kind in der Kreuzberger Schule anmelde, oder setze ich meine Auffassung auf Kosten des Kindes durch? Es ist ja fraglos richtig, sich sozialer Auslese praktisch zu widersetzen, aber es soll niemand glauben, man würde sich deshalb für etwas „Gutes“ entscheiden. Ich nehme ja zumindest in Kauf, dass mein Kind Außenseiterin wird oder beispielsweise auf der sprachlichen Ebene unterfordert ist. Über solche Themen könnte ich eine Diskussion gut gebrauchen. Das läuft aber eher privat.

Subject: [red] Multiple Identitäten
Von: she <she@mail.arranca.org>
An: Arranca alle <red@mail.arranca.org>
Datum: 14 Okt 2005 12:22:20

Obwohl wir viel zu Prekarisierung und den Phänomenen der multiplen Identitäten gemacht haben, die man annehmen muss, um die prekäre Lebens- und Arbeitssituation einer Durchschnittsakademikerin auf erträglichem Niveau hinzukriegen, hat das bisher wenig Eingang in die politische Praxis gefunden. Man arbeitet in einem Bereich, der nichts mit Politik zu tun hat, wo man allein steht und kämpft. Dann geht man einmal in der Woche abends zum Diskutieren über gesellschaftliche Probleme und einmal im Vierteljahr zu einer Aktion. Wichtig ist, dass man seinen Pflichten und Verantwortungen für die Gruppe nachkommt, aber wie man das eigentlich hin bekommt, darüber wird nicht gesprochen. Dabei würde es schon helfen, darüber zu reden, dass die eigenen Identitätskämpfe auch anderen zu schaffen machen.

Subject: [red] Zwei Welten
From: <nor@mail.arranca.org>
To: „Redaktion“ <red@mail.arranca.org>
Date: Thu, 14 Oct 2005

Ich empfinde es als ein Leben in zwei Welten. Wenn Leute einen Job bekamen, den sie als gesellschaftlich „sinnvoll“ und persönlich ausfüllend erlebten und sich nach einer Weile nicht mehr so zurechtfanden in der radikalen Linken, fand ich das schlapp. Und jetzt arbeite ich selbst an der Uni und versuche, wie viele andere auch, einen Fuß in die Tür zu bekommen. Nicht weil ich denke, das sei das Tollste überhaupt, sondern weil es mir wie eine recht gute Lösung erscheint. Naja, lange Rede, kurzer Sinn, die akademische Arbeit macht wirklich schizophren. Meine Fähigkeiten in bürgerlichen Umgangsformen kommen mir prima zugute und ich muss da auch nicht mein Gewissen verraten. Es ist sogar drin, sich politische Herausforderungen zu suchen. Aber das findet alles in diesem ausgewogen-adulten Rahmen statt. Dann zwei Stunden später auf einer Spontiaktion zu stehen und Gefahr zu laufen, dass jemand mich sieht und ich dann erklären muss, warum ich mit Hippies pink fahre: ich gebe zu, das fällt mir schwer.

Subject: [red] Lebensentwürfe
Von: she <she@mail.arranca.org>
An: Arranca alle <red@mail.arranca.org>
Datum: 14 Okt 2005 18:45:33

Es ist ja evident, dass irgendwann im Alter um 30 massenhaft Lebensentwürfe gemacht und Lebensmittelpunkte verschoben werden. Arbeit und Einkommensquellen, Beziehungsmodelle und Wohnformen werden langfristiger überlegt und geplant. Außerdem werden Gedanken an Altersfürsorge, Gesundheit, die Zukunft wichtig. Die Fragestellungen, die bei FelS bearbeitet werden, sind in der Regel nicht die, die für diese Diskussionsprozesse relevant sind – oder sie werden auf einer abstrakteren Ebene verhandelt, die nicht für die konkret-persönlichen Entscheidungen übersetzt wird. Es gibt da eine Privatisierung gesellschaftlicher Fragen. Die Strukturen und Netzwerke der Linken scheinen irgendwie nicht so tragfähig zu sein, dass alternative Lebensentwürfe tatsächlich realisierbar erscheinen. Das ist, glaube ich, der Moment, in dem sich dann viele nach und nach verabschieden.

Betreff: AW: [red] Lebensentwürfe
Von: id <id@mail.arranca.org>
An: „red-ml“ <red@mail.arranca.org>
Datum: 14.10.2005, 19:12

Die Dringlichkeit, mit der viele Leute über ihr Lebensmodell nachdenken, ist m.E. eine direkte Folge neoliberaler Deregulierung. Es ist ja jedem klar, dass es keine Sicherheit gibt, wenn Du alt oder/und krank, d.h. unproduktiv wirst. Das wird als bedrohlich empfunden, und das ist es auch. Für die anti-etatistische Linke ist das ein Feld, in dem sie intervenieren kann und muss. Sie muss Diskussionsstränge, Orientierungspunkte und konkrete Perspektiven schaffen, um in dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung relevant zu bleiben (oder erst zu werden); man könnte dabei auch argumentieren, dass das Zeitalter der einst als „Nischen“ verhöhnten Alternativprojekte (Wohnprojekte, Kollektivbetriebe, etc.) mit der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und der Privatisierung der Fürsorge erst anbrechen könnte. Es gibt ja durchaus vielfältige und langjährige Erfahrungen mit alternativen Netzwerken und Strukturen, die nutzbar sind und weiter zu entwickeln wären.

Betreff: [red] Klassenfrage!
Von: li <li@mail.arranca.org>
An: red <red@mail.arranca.org>
Datum: Thu, 13 Oct 2005 20:04:44 +0200

Die Privatisierung der „care-economy“ führt zur Verschärfung materieller Klassenunterschiede, auch innerhalb der radikalen Linken. In einem sozialen Umfeld, in dem alle mehr oder weniger billig wohnen und niemand auffällig viel Geld verdient, scheint die Klassenherkunft in Habitus und Lebensweise kaum eine Rolle zu spielen. Wenn es um soziale Absicherung geht, wird die Frage, ob familiäre Ressourcen, halbwegs wohlhabende Eltern, im Ernstfall aktiviert werden können, plötzlich entscheidend. Es ist doch eine erheblich andere Perspektive als jene, in der es darum geht, voraussichtlich die Pflege mittelloser Eltern (mit)finanzieren zu müssen. Familie ist – ob man es will oder nicht – für Szenarien, in denen man im Jahr 2015 oder so allein ohne Job mit zwei Kindern dasteht, ein relevanter Faktor.