Diese Perspektive ist nicht nur verkürzt. Sie birgt vor allem die Gefahr, wichtige Eingriffspunkte für gesellschaftliche Auseinandersetzungen zugunsten einer eingeschliffenen Kampagnenroutine zu übersehen. In diese Falle tappt das Papier auch prompt, wenn es die Suche nach einer gesellschaftsverändernden Auseinandersetzungen zugunsten einer eingeschliffenen Kampagnenroutine zu übersehen. In diese Falle tappt das Papier auch prompt,wenn es die Suche nach einer gesellschaftsverändernden Perspektive bereits mit einer falschen Frontstellung beginnt: „einer rebellischen und widerständigen Minderheit [...], der eine Mehrheit gegenübersteht, die noch glaubt, ihre verbliebenen Privilegien oder zumindest ihre prekäre Existenz im Kapitalismus verteidigen zu können“. Diese Perspektive ist von einer erschütternden Ignoranz gegenüber den vielfältigen Krisenprozessen im prekären Alltag geprägt. Der Kurzschluss, mit dem von einem Mangel an großen gesellschaftlichen Mobilisierungen auf einen aktiven Konsens geschlossen wird, ist frappierend. Eine solche Einschätzung lädt zu einer Event-orientierten Praxis ein und befördert die selbstverschuldete gesellschaftliche Isolation der antikapitalistischen Linken. Eine interventionistische Praxis, die ihren Anspruch ernst nimmt, müsste ihr Hauptaugenmerk stattdessen auf jene Widersprüche des Alltags legen, denen in besagtem Zwischenstands-papier lediglich einige verschämte Halbsätze gewidmet sind. Real delegitimiert diese Perspektive stattdessen die zahlreichen politischen Projekte innerhalb der IL, die sich an einem konkreten Eingreifen in Widersprüchen des Alltags versuchen.
Alltag in prekären Verhältnissen
In der Tat ist Deutschland nicht geprägt von eruptiven sozialen Auseinandersetzungen, wie die Länder, in denen die Krise brachialer auf die Lebensverhältnisse der Menschen durchgeschlagen ist. Den politischen Eliten gelingt es (noch?) die vielfältigen Krisenprozesse voneinander zu trennen, sie nicht in ihren Zusammenhängen erkennbar und wirksam werden zu lassen und sie so zu bearbeiten. Doch die relative Stabilität der neoliberalen Herrschaft hat auch in Deutschland Risse bekommen, die auf vielfältigen und zunehmenden Krisenprozessen im Alltag beruhen. Prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse haben sich in einem langen Prozess neoliberaler Umstrukturierung verallgemeinert.
Der strategische Kern des neoliberalen Angriffs auf die Lebensverhältnisse ist die Universalisierung von Angst und Verunsicherung als Treibstoff für die rastlose Selbstoptimierung, um in einer immer schärferen Konkurrenz bestehen zu können. Sie ist gepaart mit der verlockenden „Einladung“ sich selbst einzubringen. Nicht Disziplinierung, sondern hemmungslose Verausgabung für den wirtschaftlichen Erfolg ist gefragt.
In den Arbeitsverhältnissen werden kontinuierliche Arbeitsbiographien inklusive beruflichem Aufstieg zunehmend zu einem randständigen Phänomen. Leiharbeit und Befristung sorgen für eine Unterschichtung der Beschäftigten, von denen sich immer weniger auf betriebsbezogene Rechte und Ansprüche, wie Tarifverträge oder Kündigungsschutz, berufen können. Immer mehr Menschen hecheln (schein-) selbstständig von Projekt zu Projekt mit der Hoffnung auf Festanstellung. Der „effektivste Niedriglohnsektor Europas“ (Gerhard Schröder) beherbergt immer größere Teile der Bevölkerung. Die Betroffenen kratzen oft nur durch aufstockende Sozialleistungen, Zweit- oder Drittjobs knapp am Existenzminimum.
Doch auch in den verbliebenen betrieblichen Kernen fordert der Zwang zur permanenten Selbstmobilisierung seinen Tribut. Seit Jahren erleben auch Belegschaften mit relativ stabilen Einkommensentwicklungen, dass sie in Form zunehmender Arbeitsüberlastung einen immer höheren subjektiven Preis für den wirtschaftlichen Erfolg der „deutschen Wirtschaft“ zahlen müssen. Moderne Managementkonzepte zielen darauf ab, bei systematischer personeller Unterbesetzung die Beschäftigten zur Überschreitung ihrer körperlichen und psychischen Grenzen anzutreiben. Burnout und (arbeits-)stressinduzierte Krankheiten entwickeln sich vor diesem Hintergrund zu manifesten Volkskrankheiten. Gewerk-schaften und Betriebsräte konnten diesem systematischen Angriff bisher keine kohärenten Strategien entgegensetzen und werden in den Belegschaften deshalb zunehmend als nicht mehr handlungsfähig wahrgenommen.
Mit diesen Arbeitsverhältnissen verschränkt sich der Abbau staatlicher Zuwendungen und verstärkt so die Verunsicherung. Die schrittweise Inwertsetzung oder Privatisierung von vielen Bereichen der Sorgearbeit reißt Löcher in die Versorgung mit sozialer Infrastruktur und führt zu abnehmender Qualität. In den Krankenhäusern steigen die Infektionsraten; in Alten- und Pflegeheimen müssen die Gepflegten ihr Essen im Minutentakt verschlingen; Bildungspläne frühkindlicher Förderung existieren nur auf dem Papier. Diese Mängel privat zu kompensieren, ist vielen Menschen nicht möglich. Ihr prekärer, zeitlich entgrenzter Alltag lässt nicht genügend Spielräume. Qualifikations-anforderungen aus dem Job, das Kind, die pflegebedürftige Mutter, der Müllberg in der Küche und der Wunsch nach Ruhe und Entspannung wollen vereinbart werden, während gleichzeitig vielleicht schon das nächste Projekt, die nächste Bewerbung oder das nächste Praktikum um die Ecke lugt. Die Delegation von Hausarbeit, Pflege oder Kindererziehung wäre ein Ausweg. Doch die Bezahlung von Pflege- und Altenheimen, steigenden KiTa-Gebühren oder explodierenden Mieten ist finanziell kaum zu bewältigen.
Gesellschaftliche Spaltungslinien und Klassenkonstitution
Die Prozesse der Prekarisierung treffen alle, aber sie treffen sie in unterschiedlicher Weise und ausgehend von unterschiedlichen Niveaus. Eine migrantische – oft auch illegalisierte – Haushaltsarbeiterin, die Haushalt, Pflege, Alten- oder Kinderbetreuung in einem privaten mittelständischen Haushalt übernimmt, ist anders betroffen als eine alleinerziehende Mutter in Teilzeit und mit gesichertem Aufenthaltsstatus. Beide erleben andere Unsicherheiten als der vom Abstieg bedrohte Familienernährer in Normalarbeit mit flexibilisierten und entgrenzten Arbeitsverhältnissen. Darin zeigt sich die Vielfältigkeit von Verunsicherung, aber auch Spaltungslinien entlang von Klassen, geschlechtlichen, rassistischen oder anderen Zuschreibungen. Jeder spürt den Druck der Prekarisierung, viele wissen von der Möglichkeit, dass es sie treffen kann – dieses Wissen wird aber noch lange nicht zu einem Verständnis einer allgemeinen, gemeinsamen Lage. Deshalb ist, trotz konvergierender sozialer Lagen, die Entstehung einer sozialen Klasse alles andere als selbstverständlich.
Gepaart mit dem neoliberalen Credo der Eigenverantwortung, den Spaltungen der Belegschaften und dem Zurückdrängen der Gewerkschaften, der Zerstörung von Kollektivität durch verschärfte Konkurrenz, werden die Verunsicherungen individualisiert und als individuelles Scheitern erlebt. Das Ausbleiben von Massenprotesten sollte also nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier Verunsicherungen, Erschöpfungen und Unzufriedenheit Alltag geworden sind. Der Prozess der Verallgemeinerung von prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen ist die Geschichte der Durchsetzung des Neoliberalismus hinter der Maske des Freiheitsversprechens. Das Bild vom sozial befriedeten Deutschland verdeckt die Brüche, die die Prozesse der sozialen Entsicherung mit sich gebracht haben. Es verdeckt die bereits jetzt zutiefst konfliktive Alltagspraxis und verdoppelt damit lediglich den herrschenden Diskurs vom sozial erfolgreichen Modell Deutschland.
Selbstorganisierung, verbindende Perspektive und ReOrganisierung der Linken
Die Herausforderung für eine gesellschaftsverändernde Linke besteht also zunächst darin, sich von allzu einfachen Krisendeutungen zu lösen. Es bedeutet, ernst zu nehmen, dass die gegenwärtigen Krisenprozesse in Europa unterschiedlich verlaufen und verschiedene Widersprüche hervorrufen. Daraus folgen auch unterschiedliche Reaktionen auf die Krisen: Die jahrzehntelangen Verschlechterungen in Deutschland haben eine Fülle sozialer Konflikte hervorgebracht. Sie haben sich jedoch als schrittweise Prozesse vollzogen und dadurch zu Normalisierungen geführt. Unter den beschriebenen Verhältnissen ist es unsere Aufgabe als gesellschaftliche, antikapitalistische Linke, das untergründige Brodeln im Alltag aufzugreifen, Verbindungen zwischen getrennt erscheinenden Konflikten herzustellen und die Widersprüche zu einer kollektiven Praxis des Widerstandes zu bündeln. Die gesellschaftliche antikapitalistische Linke muss ihren Beitrag dazu leisten, gesellschaftliche Kollektivität überhaupt erst wieder herzustellen und zu einem organisierenden Teil einer umfassend verstandenen Klassenbildung werden. Radikale Praxis bedeutet also zuerst, die kollektive Wortergreifung der Prekarisierten und Individualisierten zu organisieren. Unter den beschriebenen Verhältnissen der Individualisierung und Vereinzelung geht es auch darum, die postautonome Tradition weiterzuentwickeln: Eine Politik autonomer Freiräume und bewusster Abspaltung von Gesellschaft hatte in Zeiten einer totalisierenden Kollektivität im Fordismus – der Lebensläufe festgelegt und Abweichungen verunmöglicht hat – ein radikales Potential. Vor dem Hintergrund veränderter, flexibilisierter und individualisierter Lebensverhältnisse ist dieses Potential verloren gegangen. Diese Erkenntnis postautonomer Politik und ihre Öffnung und Suche nach gesellschaftlicher Anschlussfähigkeit hat dazu beigetragen, wichtige Lernprozesse und Erfahrungen zu machen. Nun ist es an der Zeit, diese Politik weiterzuentwickeln!
Wir brauchen eine Haltung, die jenseits des alten Avantgardismus darum weiß, dass wir als politische Subjekte die Kämpfe um den Alltag führen, aber in diesen Kämpfen erst noch lernen müssen, was Krise wirklich bedeutet; die jedoch andererseits die Herausforderung annimmt, sich an dem Aufbau gesellschaftlicher Kollektivität aktiv zu beteiligen.
Mut zum Experiment und eine Politik der Begegnungen
Ein tieferes Verständnis über die Bedeutung und den Verlauf der Krise für die Lebensweisen der Menschen ist dafür die Voraussetzung. Für das tiefere Verständnis der Krisenprozesse im Alltag müssen wir als Linke zuallererst lernen zuzuhören. Dafür brauchen wir Orte der Begegnung, an denen eine Verständigung über kollektive Probleme stattfindet, gemeinsame Handlungsperspektiven entwickelt werden können und Menschen die Möglichkeit bekommen, aus ihren Verhaltensmustern herauszutreten, andere Entscheidungen zu treffen und veränderte Beziehungen einzugehen. Die Wahrheiten hinter vielen erfolgreichen Mobilisierungen, die wir von Kairo über Gezi bis Madrid erlebt haben, liegen in diesen molekularen Orten der Begegnung, in denen die individualisierten Erfahrungen des Scheiterns als kollektive Probleme sichtbar gemacht werden konnten. So waren beispielsweise die Vorläufer der breiten Proteste gegen Zwangsräumungen in Spanien Stadtteilversammlungen, in denen Geräumte oder von Räumung Bedrohte zusammengekommen sind, um über ihre Erfahrungen und Probleme zu sprechen. Auch die Erfahrungen der sogenannten Mareas (Wellen), die systematisch von den Plätzen in die Stadtteile und Betriebe gegangen sind, um dem Prozess, der mit den Platzbesetzungen begonnen hat, Kontinuität zu verleihen, waren dafür wichtig. Wichtige Erfahrungen gibt es auch im Care-Bereich für die Organisierung von häuslicher Pflege in den USA: Um die Isolation und Vereinzelung der häuslichen Pflegekräfte zu überwinden, haben Aktivist_innen von Caring Across Generations sogenannte „Care-Councils“ organisiert, bei denen sie Pflegekräfte mit unterschiedlichen Geschichten und persönlichen Hintergründen mit Gepflegten und Angehörigen aus ihren jeweiligen Perspektiven miteinander über ihre Erfahrungen haben sprechen lassen (vgl. Was wir wollen, ist kein Witz … Organisierungsansätze im Feld sozialer Reproduktion, S. 36).
Beginn einer ReOrganisierung
Diese Orte der Begegnung entstehen jedoch nicht von allein. Sie zu schaffen ist eine wesentliche Herausforderung, vor der die organisierte Linke steht. Um diese Orte zu schaffen, brauchen wir jedoch auch das Selbstbewusstsein, dass linke Traditionen und Perspektiven etwas zu den Auseinandersetzungen der Menschen beitragen können. Und wir brauchen den Mut, solche Situationen herzustellen. In Berlin haben Initiativen wieZwangsräumung verhindern gezeigt, dass linke Praxiskonzepte, wie Blockaden und ziviler Ungehorsam genutzt werden können, um den sozialen Konflikt um Zwangsräumungen zuzuspitzen. Die Initiative Kotti & Co zeigt, dass linke Organisierungs- und Kampagnenerfahrungen eine wichtige Rolle in der Selbstorganisation von Nachbarschaften haben können, wenn sie sich mit der nötigen Offenheit einbringen. Es geht dabei jedoch nicht nur um Praxiskonzepte oder Infrastrukturen. Es geht darum, in den Begegnungen ein gemeinsames Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Widersprüche ausgehend von den ganz konkreten Problemen zu entwickeln. Linke Theorie sollte dabei den Stoff liefern, aus dem eine alternative Erzählung von unten entwickelt werden kann, die die eigene Praxis als Teil eines gesellschaftlichen Kampfes erzählt, der dadurch überhaupt erst wirksam wird. Eine zentrale Herausforderung dabei ist, konkret danach zu suchen, wie sich unterschiedliche, zum Teil auch widersprüchliche Interessen in einer gemeinsamen Perspektive vereinbaren lassen und worin bzw. wie ein transformatorisches, gesellschaftsveränderndes Potential in den Auseinandersetzungen entwickelt werden kann.
Wir stehen hier auch vor einer Herausforderung für die Art und Weise unserer eigenen Organisierung. In der Suche nach einer Politik aus dem prekären Alltag geht es auch um eine Suche nach der notwendigen Haltung, die jenseits von Sozialarbeit und Avantgardismus ein vertrauensvolles, wechselseitig lernendes Verhältnis ermöglicht. Das stellt zugleich die Frage nach unseren Organisationsstrukturen, denn diese Praxis erfordert ein hohes Maß an Verbindlichkeit und Kontinuität. Das bedeutet, dass wir darüber nachdenken müssen, wie es gelingen kann, Wissen weiterzugeben. Es bedeutet aber auch, Abstand zu nehmen von einem Hopping von Konflikt zu Konflikt und sich stattdessen festzulegen. Wenn wir diese Art der verbindlichen Arbeit anfangen wollen, brauchen wir eine gewisse Offenheit unserer Strukturen.
Eine interventionistische Linke, die ihren Anspruch ernst nimmt, müsste ihre Anstrengungen also auf das „konkrete Handgemenge sozialer Auseinandersetzungen“ (IL-Zwischenstandspapier) fokussieren – jene Widersprüche des Alltags, die nicht aufgehen in einer herrschaftsförmigen Einbindung in die bestehenden Verhältnisse. Nicht die Fahne des Dissenses als reine Symbolpolitik, sondern die Müh(l)en der Alltagspraxis gilt es als Ebene der Intervention zu verstehen. Mit dieser Form interventionistischer Politik setzen wir auf das Schaffen von Orten der Begegnung, auf Zuhören und Lernen im Alltag, auf die bewusste Herstellung von Kollektivität, die verschiedene Interessen und Akteure verbindet, und auf eine Bündelung der unterschiedlichen – auch europaweiten – Kämpfe. Konkret bedeutet es, die Symbolpolitik zu ersetzen durch eine gesellschaftliche Verankerung der IL. Das heißt, die verantwortungsvolle Rolle, die uns in Bündnissen zugesprochen wird, auszuweiten und jenseits von Aktivist_innen und politischen Organisationen auf Menschen zuzugehen.