Gruppe d.i.s.s.i.d.e.n.t.: ¿Zu Beginn würden wir gerne wissen, wie Müstereklerimiz begonnen hat, was die Grundlage dieses Organisierungsprozesses ist, und wofür euer Name eigentlich steht?
Müstereklerimiz: Im Oktober 2009 fanden die Jahrestreffen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank in Istanbul statt und wir gründeten ein kleines Netzwerk mit dem Namen ResIstanbul. Wir wollten nicht nur gegen das Gipfeltreffen protestieren, sondern auch verschiedene Gruppen zusammenbringen und vernetzen. Beteiligt waren unter anderem Gruppen, die zum Thema Urbane Transformation arbeiteten, Gruppen aus der Ökologiebewegung und Initiativen, die sich mit dem Thema Prekarität beschäftigten.
Die Idee war, nach den Protesten in verschiedene Bewegungen und Gruppen zu gehen, um diese zu stärken und die Vernetzung zwischen den Gruppen zu verbessern. Aber das hat nicht wirklich funktioniert. Wir erkannten, dass die meisten dieser Bewegungen, wie die Ökologie-, die Anti-Gentrifizierungs- und die von Migrant*innenbewegung in den letzten zehn Jahren entstanden sind oder sich die Form ihrer Kämpfe verändert hatte. Wir stellten fest, dass diese neuen Bewegungen sich sehr in ihren jeweiligen Bereichen professionalisierten und sich allein auf ihre Themen fokussierten. Und das trotz des theoretischen Wissens darum, dass zum Beispiel Themen wie Migration eng verknüpft sind mit urbaner Gentrifikation und Stadtentwicklung. In der Theorie wussten wir, wie das System funktioniert und die Kämpfe zusammen gedacht werden müssen, aber in der Praxis waren wir alle in unseren eigenen Feldern und Kämpfen separiert.
Müstereklerimiz, ein osmanisches Wort, das übersetzt „unsere Commons“ bedeutet, war also die Idee, verschiedenen Gruppen, Einzelpersonen und Bewegungen aus unterschiedlichen Feldern und Kämpfen eine Basis für gemeinsame Aktionen zu schaffen. Und diese Basis sollte nicht nur ein Netzwerk oder eine Versammlung sein. Wir wollten etwas, das darüber hinausgeht, etwas, das die verschiedenen Gruppen unter einer Idee zusammenbringt, für die wir alle in unseren unterschiedlichen Feldern kämpfen. So ist Müstereklerimiz im Sommer 2012 entstanden. Grundlage für uns war dabei das Konzept und die Vorstellung der Commons und wie wir von diesen Commons ausgeschlossen werden, zum Beispiel was den Zugang zu urbanem Raum oder den Zugang zu Wasser betrifft. Dabei meint Commons auch das gemeinsame Kämpfen.
Eine unserer ersten gemeinsamen Aktionen war der 1. Mai 2013. Wenn ich „wir“ sage, dann meine ich die verschiedenen Gruppen: ein ökologisches Kollektiv; das Migrant Solidarity Network; die Anti-Gentrifizierungs Gruppe IMECE und Tarla Taban, eine Initiative an der Boğaziçi Uni für Urban- und Guerilla-Gardening.Hinzu kamen eine Konsument*innen-Kooperative von der Boğaziçi Uni und noch einige unabhängige Aktivist*innen. Unsere Einschätzung war, dass sich gesellschaftlich nichts verbessern würde, wenn wir als einzelne Themengruppen so weiter machten wie bisher. Im Gegenteil, wir würden sogar Jahr für Jahr schwächer werden. Denn die neoliberalen Angriffe wurden immer stärker und rauer. Somit war Müstereklerimiz für uns auch eine Frage des Überlebens.
Und dann kamen die Überraschungen: 1. Mai und Gezi. Eigentlich hatten wir nur vor, als Müstereklerimiz zusammen auf die Demo zu gehen. Wir erwarteten das Alltägliche: unter einer Fahne gemeinsam zum Taksim-Platz zu laufen.Doch als das Verbot ausgesprochen wurde, auf dem Taksim zu demonstrieren, gingen wir nach Beşiktaş, um auf die Plätze zu gelangen. Damit begannen die Auseinandersetzungen mit der Polizei. Überraschenderweise blieben die Müstereklerimiz-Gruppen den ganzen Tag zusammen. Und am Ende des Tages waren wir immer noch 250 bis 300 Menschen. Viele davon bezeichneten sich als unabhängige Aktivist*innen. Und während des Widerstands am 1. Mai verschmolzen die Identitäten der Gruppen und Menschen. Nach dem 1. Mai wurden unsere Treffen größer, ca. 60 Menschen kamen und begannen zu diskutieren, was nun zu tun sei. Alle warteten auf den Pride March, der im Juni stattfinden sollte, denn er wäre das nächste Ereignis gewesen, zu dem die Massen wieder versuchen würden, auf den Taksim-Platz zu gelangen.
Aber dann brach Gezi aus. Natürlich war es nicht vorherzusehen, doch im Grunde war es genau das, was wir zuvor diskutiert hatten. Denn der Gezi-Park war ein Common-Raum, welcher der Gesellschaft entzogen wurde. Und dies brachte eine Menge an unterschiedlichen Gruppen und Bewegungen zusammen.
¿Und was habt ihr als Gruppe während Gezi gemacht?
Neben dem von Barrikade zu Barrikade rennen, übernahmen wir verschiedene logistische Aufgaben und organisierten Foren. Und wir versuchten bei den regelmäßigen Treffen der Plattform Taksim-Solidarität1 zu intervenieren, denn Taksim-Solidarität war dabei, die Dynamik der Proteste zu bestimmen. Wir versuchten als Müstereklerimiz zusammen zu agieren und unsere Vorschläge, Konzepte, aber auch unsere Sorgen in diese Treffen zu tragen. Manchmal waren wir erfolgreich mit diesen Interventionen und manchmal nicht. Unser Misserfolg war auch der hektischen Atmosphäre von sich überschlagenden Ereignissen geschuldet.
¿Könnt ihr Beispiele für eure Interventionen in die Diskurse und Strategien geben? Was waren die Positionen, die ihr versucht habt in die Taksim-Solidarität zu tragen?
Unser grundlegendes Prinzip war die Foren-Mentalität. Egal welche Entscheidung zum Schicksal der Besetzung des Parks getroffen wurde, wir verwiesen immer auf die Vielfalt an Akteur*innen, die bei der Besetzung involviert waren und dass dies berücksichtigt werden müsste. Wir wollten, dass die Taksim-Solidaritätsplattform mit dem, was draußen im Park passiert, organisch verschmilzt. Ihr müsst wissen, in der Taksim-Solidaritätsplattform waren neben Repräsentant*innen der Zivilgesellschaft und einigen Individuen, viele traditionelle sozialistische Gruppen und Parteien. Und diese taten genau das, was sie traditionell tun: lange Reden halten, das Aufkommen des Kapitalismus analysieren, Diskussionen führen, ob Gezi nun eine Revolution sei oder nicht, ob der Protest geleitet werden müsse oder nicht und ob die Regierung zurücktreten müsse - endlose Diskussionen eben.
Wir hingegen verwiesen darauf, dass Gezi an sich eine große Herausforderung für die gesamte linke Opposition sei, denn die Linke in der Türkei ist immer noch schwach, was die Fähigkeit zur Organisierung und Intervention angeht. Wir plädierten dafür, allein schon als Erfolg für uns alle zu werten, dass eine so große Gruppe aus Organisationen und Menschen gemeinsam gegen die Plünderung des öffentlichen Raums protestierte. Und für uns ging es darum, dies als einen Meilenstein anzuerkennen, auf dessen Grundlagen wir gemeinsam weitere Methoden der direkten Demokratie erarbeiten konnten, um den Widerstand nachhaltiger zu gestalten.
Taksim-Solidarität als Dachorgan hatte nicht verstanden was im Park passierte. Die Menschen im Park experimentierten bereits mit verschiedenen Formen von Versammlungen und Foren. Und das war schon bevor Taksim-Solidarität dazu aufrief, Foren einzurichten. Zu Beginn der Proteste behandelten viele der sozialistischen Gruppen die Treffen der Taksim-Solidarität als wären sie Orte, wo ihre Argumente über denen der anderen stehen würden. Unsere Position hingegen war, dass Taksim-Solidarität, egal wie unvorbereitet es auf einem so großen Event zuging, die einzige übergeordnete legitime Institution für politische Entscheidungen sei. Und wir setzten uns dafür ein, dass es bei gemeinsamen Treffen und Events nur die Fahnen der Taksim-Solidarität gibt. Diese Intervention war wichtig, denn ein solches Event braucht eine Form von legitimiertem politischem Zentrum. Nicht im traditionellen, sondern in einem demokratischen Sinn. Und das beinhaltet auch ein kontinuierliches Feedback zwischen dem Zentrum und der Basis.
¿Welche Bedeutung hatte Gezi für euch als Müstereklerimiz und für euren Organisierungsprozess?
Während Gezi fühlten sich viele Menschen von Müstereklerimiz angezogen und wir hatten große Treffen mit über 100 Teilnehmer*innen. Ihnen gefiel unsere horizontale und auf Konsens basierende Form der Organisierung, die nicht so starr wie die der meisten linken Parteien ist und durch die wir handlungsfähiger waren. Im Laufe der Zeit haben wir aber feststellen müssen, dass die Gruppen von Müstereklerimiz nicht größer, sondern eher kleiner wurden. Denn viele hatten scheinbar kein Interesse, Teil einer festen Gruppe zu werden und Energie in diese zu stecken. Das wurde zu einer zentralen Frage, die wir bis jetzt nicht lösen konnten.
Und nach Gezi veränderten sich die Fragen der Organisierung auch komplett. Denn die festen Gruppen von Müstereklerimiz verschwanden fast ganz und die unabhängigen Aktivist*innen wurden prominenter. Und darin liegt die Ironie und die Widersprüchlichkeit: wir als Müstereklerimiz versuchten traditionelle Formen der Organisierung zu vermeiden, aber Gezi machte genau diese Form irgendwie auch aufregend für viele Menschen. Vielleicht nicht die ganz traditionellen Formen, aber wenigstens klare Organisationsformen. Menschen dachten, dass sie nach ihren Kämpfen in Gezi jetzt irgendwo Mitglied werden müssten. Und sie suchten nach Adressen, wo sie sich anschließen konnten. Aber Müstereklerimiz ist nicht die Adresse für diese Form, denn wir können nicht sagen „unterschreibe hier und du bist ein Mitglied von uns“. Angesichts der Widersprüchlichkeit dieser Entwicklungen müssen neue Formen der Organisierung gefunden werden. Diese dürfen nicht vollkommen lose sein, aber wir als Müstereklerimiz wollen auch keine festen Gruppen mit einer zu starken Identität aufbauen. Denn Müstereklerimiz ist eine Idee, eine Basis, die sich noch immer entwickelt und die schwer zu fixieren ist.
¿Angesichts der beschriebenen Probleme, würdet ihr sagen, dass ihr nun, fast ein Jahr nach Gezi, in eurem Organisierungsprozess einen Schritt weiter seid?
Also ich würde fast sagen, dass wir einen Schritt zurück sind. Gezi ballte alles Potential linker Politik und Kapazitäten zu Organisierung und Protest. Auf der anderen Seite brannten viele Menschen, auch auf Organisationsebene. Die Natur der Krise, in der die Linke steckt, ist, dass niemand eine solide Antwort auf die Frage nach neuen Organisierungsformen hat. Thematisch gesehen erweiterten viele traditionellere Parteien ihr Spektrum und begannen sich zum Beispiel mehr mit ökologischen, feministischen und LGBT-Fragestellungen zu beschäftigen. Aber was die Frage nach Organisierungsformen angeht, sind wir immer noch in einem, ich würde fast sagen zurückgebliebenen Zustand. Menschen experimentieren mit verschiedenen Formen und imitieren auch europäische, wie zum Beispiel die Piraten-Partei. Und alle waren optimistisch über die Foren, die wie Pilze in den Parks wuchsen, nachdem die Polizei den Gezi-Parkgestürmt hatte (circa 40 in Istanbul und weiteren Städten). Aber viele der kleineren Foren verschwanden nach einiger Zeit und nur wenige machten weiter. Zumindest in Istanbul sind wir wieder auf die traditionell linken Stadtteile begrenzt. Es waren die Foren in diesen Stadtteilen, die überlebten und nun anfangen mit neuen Formen von Konflikten, wie zum Beispiel Hausbesetzungen, zu experimentieren. Aber wie gesagt, die Erfahrungen und die Debatten mit und über diese Formen sind noch sehr jung. Und im Zusammenhang einer spektrenübergreifenden Diskussion um die Frage nach neuen Formen der Organisierung, die besonders die neu Politisierten der Gezi-Bewegung einfordern, haben wir noch keine Antwort gefunden. Und es ist eine sehr ermüdende Debatte, denn sie ist sehr kompliziert und anspruchsvoll. Es muss die Geschichte der Linken mitberücksichtigt werden und es braucht großen Enthusiasmus um Schritte nach vorne zu gehen. Nicht alle sind bereit, diese zu führen. Ich denke, wir sind gerade an einem weiteren Moment des Stillstands dieser Debatte und nehmen uns die Zeit, über einige Dinge nachzudenken.
¿Was war bis jetzt das Ergebnis dieser Analyse und welche Politik ergibt sich daraus für euch?
Allgemein sehen wir nach Gezi zwei sehr verschiedene Ebenen, auf denen Politik gemacht wird. Auf der politischen Makroebene findet zurzeit die Diskussion um die Kommunalwahlen statt. Auf der Mikroebene passieren Besetzungen, Guerilla-Gardening und vieles mehr – kleine, basisorientierte Protestformen. Als Müstereklerimiz diskutieren wir, wie wir für unsere Politik einen Mittelweg finden können. Eine Politik der mittleren Ebene, die die Trennung zwischen den Ebenen aufbrechen könnte, die die politische Basis berührt und einen breiten gesellschaftlichen, antikapitalistischen Diskurs erzeugt. Denn Guerilla-Gardening ist an sich politisch, aber es produziert keinen politischen Diskurs über sich selbst. Und wir wollen nicht einfach Gemüse anbauen oder ein Haus besetzen, nur weil wir eine Gemeinschaft haben wollen. Auf der anderen Seite wollen wir auch nicht einfach eine Partei wählen. Denn wir haben immer gesagt, dass Gezi nicht mit Wahlen entschieden werden kann. Für uns sind Foren, Versammlungen und Hausbesetzungen wichtiger.
¿Könnten wir zugespitzt sagen, dass die Zeit der Gezi-Kommune mit ihren Foren und ihren Utopien zu Ende ist und die „Realpolitik“ wieder das Feld der politischen Diskurse bestimmt?
Wir haben unsere klare Perspektive verloren, die wir im Gezi-Park entwickelten. Diese war: egal wer uns regiert, wir haben eine eigene Agenda für unseren Kampf. Und diese Agenda bestand im Grunde nicht aus der Forderung, dass die Regierung oder Erdoğan zurücktreten müsse. Vielmehr war das Motto „Das ist erst der Anfang, der Kampf geht weiter“.2 Und das war ein erfolgreiches Wiederaufblühen neuer Formen antikapitalistischer Kämpfe. Aber nun sind wir dahinter zurückgefallen, denn die Frage ist wieder mal, wer regiert. Und diese historisch nicht neue Entwicklung ist sehr gefährlich für erfolgreiche Basispolitik. Aufstände haben ein sehr ermächtigendes Moment, aber wenn sie vorbei sind, haben Bewegungen es sehr schwer. Ich denke das ist nicht nur für uns in der Türkei so, sondern immer und überall. Menschen erfahren diese begeisternden Momente und sind überwältigt davon. Was danach kommt, fühlt sich oft so an, als ob es sich komplett deiner Kontrolle entzieht. Oder die Fragen sind so groß, dass du nicht weißt, wie du sie beantworten sollst, oder du fühlst dich einfach nur traurig. Was tust du mit dieser Traurigkeit nach einer Zeit von so viel Begeisterung?
Uns muss auch klar sein, dass, egal wie groß die vergangenen Aufstände waren, die Linken in der Türkei immer noch in einer defensiven Position sind. Die letzten 15 Jahre waren Jahre einer starken neoliberalen Regierung mit konservativen Idealen. Und diese Regierung hatte, egal wie fragil, eine soziale Legitimität, eine große Wähler*innenbasis. Daher ist es immer noch eine der wichtigsten Aufgaben, einen Block gegen diese neoliberalen Angriffe zu bilden.