Sympathisch daran ist uns die Kritik der scheinbaren ‚Omnipotenz des Kapitalismus‘, die sich gegen einen ökonomischen Determinismus in der Gesellschaftstheorie richtet, indem sie sich vornimmt, „die Spuren gesellschaftlicher Transformation, die in unseren Alltagspraxen stecken, zu erkennen, zu reflektieren und zu intensivieren“ (Gerbig/Ganz). In der Geschichte sozialer Bewegungen wurde aus geschlechter- und rassismuskritischer sowie queerer Perspektive vielfach der Ökonomismus von Gesellschaftsanalysen weiter Teile der marxistischen Linken kritisiert. Besonders die damit verbundenen Vorstellungen von den relevanten sozialen Herrschafts- und Machtlinien in kapitalistischen Gesellschaften, von Emanzipation und deren revolutionären Subjekten wurden und werden zurecht in Frage gestellt – so auch in dem Vorschlag von Do. Gerbig und Kathrin Ganz, die Klassenfrage „durch eine Analyse der vielfältigen Positionierungen in Erwerbs- und Reproduktionsarbeitsverhältnissen“ zu ersetzen. Wenn wir uns aus herrschaftskritischer Perspektive die Frage nach Transformationsstrategien stellen, erscheint das Anliegen sympathisch, nicht auf den großen Kladderadatsch warten zu müssen, der alle Ausbeutung und Gewalt magisch in einem Zug abschafft. Die genannten alternativen Ökonomien werden so als transformatorische Handlungsräume im Hier und Jetzt ernst genommen. Und eben diese Frage nach den Transformationsstrategien wollen wir anders stellen.
Doing capitalism
Unter Ökonomie verstehen wir die gesellschaftliche bzw. gesellschaftlich vermittelte Herstellung und Verteilung von materiellen und immateriellen Gütern sowie die Art, in der verschiedene Existenzweisen, Produktions- und Austauschverhältnisse miteinander verschränkt sind. Ökonomie ist also eine Form der Regulierung von Gesellschaft. Ökonomie, soziale Verhältnisse und handelnde Subjekte konstituieren sich gegenseitig. So, wie Gerbig und Ganz jedoch Gibson-Graham lesen, liegt ihrer queerfeministischen Ökonomiekritik ein Begriff von Ökonomie zugrunde, welcher mehr auf konkrete Wirtschaftsweisen und Praxen der Existenzsicherung schaut, denn auf deren gesellschaftliche Regulierung. In der Betonung der nicht-kapitalistischen Diversität von ökonomischen Praxen wird eine für ökonomiekritische Analysen und politisches Handeln entscheidende Frage von Do. Gerbig und Kathrin Ganz nicht gestellt, obschon sie sehr wohl in den Analysen von J.K. Gibson-Graham Betrachtung findet: Wie stehen diese verschiedenen Formen von Ökonomie eigentlich zueinander? Dazu bemerken Gibson-Graham in den Ausführungen zu dem, was sie „politics of possibility“ nennen und was zu einer Art „Selbstkultivierung“ im Sinne einer Erweiterung von Handlungsspielräumen durch Alternativkulturen führen soll: „Uns ist klar, dass die ‚Politik der Möglichkeiten‘ (und die theoretischen Entscheidungen, die sie konstituieren) nicht einfach ‚in die Welt gesetzt‘ werden kann mit der Hoffnung, sie würde gedeihen. Sie muss erhalten und gestärkt werden durch das kontinuierliche Schaffen und Erhalten von Räumen, in denen sie bestehen kann, gegenüber dem, was sie zu unterlaufen und zu zerstören droht.“ (unsere Übersetzung) Sie verraten zwar nicht, was es denn genau ist, das die Praxen alternativer Ökonomien zerstören will, aber die verschiedenen Ökonomieformen stehen nicht einfach friedlich nebeneinander. Vielmehr benennen Gibson-Graham ein Dominanz- und Gewaltverhältnis, in welchem nicht-kapitalistische, alternative ökonomische Praxen marginalisiert und in ihrer Existenz bedroht werden. Um eine zugegeben vereinfachende Analogie anzubieten: Die Existenz einer lebendigen und für uns unverzichtbaren Queer-Szene in einigen Metropolen ist zwar als Kritik der dominanten heterosexistischen Geschlechter- und Begehrensnormen zu verstehen, ist aber immer noch eine minoritäre Praxis gegenüber der heterosexistischen Masse, welche die legislativen, kulturellen, ökonomischen und sowieso alle gesellschaftlichen Verkehrs- und Ausdrucksformen dominiert. Diese minoritären Praxen sind deshalb nicht überflüssig. Im Gegenteil: Sie sind für uns überlebenswichtig, bedeuten sie doch Freiräume und Solidarität, die politisches Handeln ermöglichen. Aber weder wollen wir uns mit ihnen zufrieden geben, noch handelt es sich für uns dabei um eine Geschmacksfrage, wonach manche eben lieber Hetero-Kleinfamilien gründen und Fabriken besitzen und Erbeerkaugummi essen, während andere lieber in Kommunen die gemeinsame Misere teilen und Kirschkaugummi kauen. Nein, sie sind ein Gegenentwurf zu Bestehendem und sie sind umkämpft, das heißt sie müssen gegen die Dominanz der Heteronorm durchgesetzt werden. Diese begegnet uns in der staatlichen Regulierung von Lebensweisen, in strukturellen Gewaltverhältnissen, die Geschlechter herstellen, oder in verbalen und körperlichen Attacken.
Dekonstruktion ums Ganze
Wenn queeres ökonomiekritisches Denken unser Anliegen ist, stellt sich für uns zwangsläufig die Frage nach der Deutung der Vielfalt: Ist die Ökonomie einer Gesellschaft ein System, also ein Ganzes? Oder handelt es sich um mehrere ökonomische Systeme, die aber dennoch ein Ganzes ergeben? Oder macht es gar keinen Sinn, Gesellschaft als ein Ganzes zu betrachten, und hat damit auch die ökonomische Vielfalt keine entzifferbare Systematik? Ist diese Vorstellung eines Ganzen sogar ein diskursives Phantasma, eine Machtstrategie der herrschenden Kräfte?
Seit einer Weile schon werden immer mehr Gesellschaftsbereiche kommodifiziert, das heißt kommerzialisiert und den Imperativen markwirtschaftlicher Verwertbarkeit unterworfen. Der Neoliberalismus ist zur bestimmenden ökonomischen Regulierungsweise geworden. Diese verallgemeinernde Tendenz ist jedoch der kapitalistischen Ökonomie an sich immanent, also keine besondere Eigenart des Neoliberalismus – dieser ist vielmehr eine historisch spezifische Form dieser Bewegung. Das heißt nicht, dass jeder Moment des menschlichen Lebens dem kapitalistischen Verwertungsdruck direkt und auf gleiche Weise unterworfen ist. Es gab schon immer eine Vielzahl ‚nicht-kapitalistischer‘ Praxen, die Güter herstellen und verteilen, also ökonomische Praxen sind. Kooperation, Solidarität und gegenseitige Versorgung sind zum Teil sogar notwendige Grundlage von Kapitalverwertung, obwohl diese sich für menschliche Bedürfnisbefriedigung nicht interessiert. Feministische Theorie hat beispielsweise gezeigt, dass unbezahlte Haus- und Sorgearbeit keinesfalls außerhalb der kapitalistischen Wirtschaft liegt, sondern im Gegenteil ein konstitutiver Bestandteil zumindest fordistischer Lohn- und Konsumformen ist. Hausarbeit funktioniert zwar anders als Lohnarbeit, ist aber dennoch in Macht- und Ausbeutungsverhältnisse verstrickt. Gerade auch dieser Widerspruch prägt die Dynamiken kapitalistischer Gesellschaften und nimmt heute eben neoliberale Formen an.
Die Ökonomie einer Gesellschaft verstehen wir also als ein Ganzes, in dem die Vielfalt ökonomischer Praxen – kapitalistisch oder nicht, direkt oder indirekt der Akkumulation dienend oder eben die bewusst entwickelten, alternativen und solidarischen Praxen – eine (umkämpfte und veränderbare!) Systematik aufweisen.
Das politische Ziel muss also heißen, die dominierenden Funktionsweisen, die Spielregeln zu verändern, statt sich mit einer Tolerierung alternativer Projekte zufrieden zu geben. Die Veränderung der Spielregeln findet dabei durchaus in den gelebten Alternativen ihren Ausgangspunkt – die verwertungsorientierte Systematik des Ganzen verliert aber nicht schon durch die Existenz von Alternativen an gesellschaftlicher Wirkung. Vielmehr sind die Alternativen ebenso Teil und Ausdruck der beschriebenen Dynamik.
I don‘t have to make the choice …
Für queerfeministische Ökonomiekritik schlagen wir also vor, den Blick stärker auf die Beziehungen zwischen den Ökonomien zu richten. Eine solche dekonstruktive Betrachtung des Ganzen schreibt sich in die genannten Traditionen feministischer, antirassistischer sowie queerer Kritiken an Ökonomismus ein: Sie nimmt Differenzen in Positionierungen und Interessen ernst und erkennt sie als Voraussetzung emanzipatorischen transformatorischen Handelns an. Hingegen scheint uns die konstruktivistische Annahme einer „regulatorischen Fiktion der Dominanz von Kapitalismus“ aus dem Blick zu verlieren, dass die ökonomische Diversität durchaus systematisch von Dominanz und Marginalisierung gekennzeichnet ist. Übrig bliebe – zugespitzt – dass es einer jeden freisteht, sich aus einem bunten Strauß ökonomischer Vielfalt nach Belieben zu bedienen. Dies halten wir als Ausgangpunkt politischer Strategien für falsch.
Entsprechend unvermittelt steht so auch bei Gerbig/Ganz die Forderung nach bedingungslosem Grundeinkommen neben dem Plädoyer für alternative Ökonomien im Bestehenden. Dadurch beschränken sie Politik auf ‚konstruktive Praxen‘, und stellen so eine problematische Gegenüberstellung von einerseits Revolution und Kommunismus und andererseits Umverteilen, Grundeinkommen und Hausprojekt her. Das dabei produzierte Denkverbot betrifft die Negativität: Alle Kritik muss sofort umsetzbar und also mit den Verhältnissen in Grenzen vereinbar sein – oder sie bleibt Utopie.
Dieser Gegensatz, wie er sich bei Gerbig/Ganz finden lässt, ist bei Gibson-Graham nicht in gleicher Weise ausgeprägt. Bei ihnen geht es um die Reproduktion „ethischer Subjekte“ – jedoch zu dem Zweck, die Gesellschaft als Ganzes zu verändern. Haben wir uns diese ethischen Subjekte als Neuauflage der Frage nach dem kollektiven politischen Subjekt vorzustellen?
Ganz und Gerbig wollen die widersprüchlichen sozialen Effekte neoliberaler Vergesellschaftungsprozesse in den Blick nehmen und dabei die Klassenfrage durch die Analyse vielfältig verschränkter Machtverhältnisse ersetzen. Klasse „als prozesshaft, komplex und nicht kohärent“ zu betrachten, erscheint sinnvoll, wenn damit die Klasse an sich, also ein gesellschaftlicher Zustand beschrieben werden soll. Wie sieht es aber mit der Klasse für sich, mit der Klasse als politischer Identität aus? Hier scheint es uns sinnvoll, den Klassenantagonismus nicht über Bord zu werfen, sondern die prozesshafte, komplexe Klasse zu mobilisieren im Sinne von „Geschlechterklassen“, der „Klasse der Perversen“ oder der „Klasse der Prekarisierten“. Ein Ökonomiebegriff, der Kapitalismus als spezifische gesellschaftliche Regulierung begreift, die sowohl Güter als auch Identitäten und Subjekte herstellt, muss sich somit auch auf das Klassenkonzept auswirken (statt es zu verabschieden): Der Antagonismus kann kein einzelner sein, sondern ist vielmehr von den verschiedenen Ungleichheitsbeziehungen durchzogen, was Solidarität zwischen den verschiedenen Positionen der Ausbeutung wichtiger macht denn je.
Kommunismus in einem Kiez?
Das transformatorische Potenzial alternativer Projekte ernst zu nehmen, müsste im Sinne dieses Ökonomiebegriffs heißen, den falschen Antagonismus von Reform und Revolution aufzugeben, statt sich entweder auf eine Seite zu schlagen oder ein Bild von unverbunden nebeneinander stehenden Anliegen zu zeichnen – denn die Bedingungen vielfältiger Bewegungen, welche den jetzigen Zustand aufheben, ergeben sich aus den jetzt bestehenden Voraussetzungen. Projekte alternativer Ökonomie richten sich zwar gegen bestehende ökonomische Zwänge, sie können diese aber nicht durch ihre bloße Existenz überwinden. Sie stoßen immer wieder an dieselben Grenzen: die Lohnvermitteltheit der Existenz oder die Marktgesetze, die auch für im Kollektiv produzierte Waren gelten. Nicht zuletzt kennen alle, die mal in Kooperativen und Hausprojekten gewohnt oder gearbeitet haben, diese reality checks: Plötzlich muss die Monatsmiete irgendwie aufgebracht werden, ob das Geld da ist oder nicht. Plötzlich ist das Kollektiv die Avantgarde und Ideengeberin neuer entregulierter Unternehmensweisen, team work ein Muss und die Aufhebung der Grenze zwischen Wohnzimmer und Arbeitsplatz kehrt sich als Form der Arbeitskraftverwertung gegen die eigenen Interessen („Die Interessen von Heidi Hoh und der Firma können nicht dieselben sein!!“).
Wie können alltägliche solidarische ökonomische Praxen, mit welchen Menschen ihr Leben und Wirtschaften kollektiv von kapitalistischen Verwertungs- und Marktzwängen zu befreien versuchen, zu transformatorischen Praxen werden? Umsonstläden, Foodcoops, Guerillagärten und Freifunkprojekte stehen nicht zwingend zum kapitalistischen Verwertungsprinzip im Widerspruch. Wir müssen sie schon aktiv dazu machen, indem wir zum Beispiel die Widersprüche zwischen Kapitalverwertung und menschlicher Bedürfnisbefriedigung benennen und zuspitzen, die uns zu solchen Projekten bewegen. Wir müssen Forderungen entwickeln, die darüber hinausweisen, die nicht nur alternative Praxen sichtbar machen, sondern auch die auf eine radikale Umwälzung des Bestehenden verweisenden Momente. Das heißt, dass diese Praxen kollektiv sein müssen. Das heißt aber auch, deutlich zu machen, dass sie nicht bloß die bessere Alternative auf dem Markt der Möglichkeiten darstellen, sondern einer praktischen Kritik bestehender Verhältnisse gleichkommen. Erst dann leitet sich eine prozesshafte und komplexe Klasse nicht aus Identität ab, sondern aus dem geteilten Ziel einer zu verhandelnden und zu verallgemeinernden gesellschaftlichen Veränderung.
Es reicht also nicht, einfach immer und überall unseren politischen Forderungen den Zusatz „und sowieso gegen Geschlecht und Kapitalismus“ hinzuzufügen. In den Diskussionen um bedingungsloses Grundeinkommen und Lohn für Hausarbeit gab es immer auch Fraktionen, die diese Forderungen derart formuliert haben, dass ihre konkrete Umsetzung nicht mit der bestehenden Ordnung vereinbar gewesen wäre. Um die in den Forderungen enthaltene Emanzipationsperspektive zu verwirklichen, müssten sich die Verhältnisse also grundlegend ändern: Sei es die Abhängigkeit des Lebensstandards von der Lohnhöhe, die Trennung von Erwerbsarbeit und sozialer Reproduktion oder die strukturelle Verletzbarmachung durch individualisierte ökonomische Abhängigkeiten. Solche nicht unmittelbar im Bestehenden umsetzbaren Forderungen dennoch zu formulieren und zu verfolgen, zielte darauf ab, solidarische Bündnisse zu organisieren, auf deren Grundlage der Rahmen des Machbaren nicht länger als absolute Grenze des Politischen hingenommen würde. Dann wären das bedingungslose Grundeinkommen und Lohn für Hausarbeit auch nicht lediglich bessere und antiheteronormative sozialstaatliche Dekommodifizierungspolitiken, sondern bekämen systemsprengenden Charakter. Es gilt die Machtfrage zu stellen.