Ein Geschenk von den Affen
Es geschah in einer eiskalten Nacht im März 2001. Es passierte in Nurio, im Bundesstaat Michoacán, Mexiko, wo sich RepräsentantInnen aller Indígenas des Landes versammelt hatten, um ein Gesetz über die Rechte der Indígenas einzufordern. Es war das dritte Treffen des Nationalen Indígena Kongresses, der zu größten Teilen von den Zapatistas ins Leben gerufen wurde – den PoetenkämpferInnen, die die Medien geschickt einzusetzen wussten und die sieben Jahre zuvor wie aus dem Nichts aufgetaucht waren, aus den Schlupfwinkeln der Zeit. U2 hatte eben doch Unrecht: Manchmal passiert etwas am Neujahrstag. Manchmal besetzt ein Heer von Mayabauern mit vermummten Gesichtern eine Stadt und überträgt eine Botschaft an Millionen von Menschen. Das geschah in San Cristóbal de las Casas, Chiapas, Mexiko, am ersten Januar 1994.
Und nun waren wir da, sieben Jahre später, in der finsteren Umgebung Nurios, die Zapatistas waren da, und ebenso der Subcomandante Marcos, denn dieses Treffen fand während des berühmten Marcha de la Dignidad (Marsch für die Würde) statt, der aufmerksam in der ganzen Welt verfolgt wurde. (...)
Marcos und die Zapatistas wurden begleitet von Menschen von überallher, eine bunte Prozession von Journalist_innen, Aktivist_innen, Intellektuellen, Künstler_innen und Ungeziefer. Von Italien aus angereist waren wir Mitglieder einer merkwürdigen Delegation, die die Autochthonen die monos blancos nannten, die ‚weißen Affen‘. Es war ein Wortspiel, denn mono bedeutet auf Spanisch auch Overall.
In Italien gab es ja die tute bianche, die „weißen Overalls“. In einer interessanten semantischen Windung war eine Arbeitskleidung zu einem provisorischen Emblem zivilen Ungehorsams geworden. Viele Leute trugen sie auf Protestmärschen. Die Bezeichnung ‚mono‘ haftete uns während des gesamten Marsches an und hörte auf, blanco (weiß) zu sein, lange bevor wir in Mexiko Stadt ankamen. Es gab nicht viele Möglichkeiten, sich zu waschen, und wir waren alle einigermaßen durchgeschwitzt. (...)
Aber kehren wir zurück zu der eiskalten Nacht von Nurio. Was passierte in diesem Zeltlager auf dem Zentralmassiv Mexikos? Was passierte, das von so besonderer Bedeutung wäre? Na, was Besonderes geschah eigentlich nicht. Es war nur eine kleine Geste. Während man versuchte, ein Lagerfeuer anzumachen, näherte sich unser Delegierter (Wu Ming 4) dem Subcomandante und überreichte ihm ein Exemplar unseres Romans Q in spanischer Übersetzung. (...)
Marcos, Müntzer und Q
Die Übergabe des Buches hatte eine spezifische Bedeutung. Für uns schloss sich dadurch ein Kreis: von den Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts (davon handelt das Buch) zum zapatistischen Aufstand. Die Bauernkriege waren der größte Volksaufstand seiner Epoche. Sie brachen im Herzen des Heiligen Römischen Reiches aus und wurden 1525 grausam niedergeschlagen, ein Jahr bevor die spanischen Conquistadores ihre blutige Invasion in Südmexiko starteten und die Zivilisation der Maya zerstörten.
Der zapatistische Aufstand war die einflussreichste Rebellion von Bauern unserer Zeit; er fand in Südmexiko auf Initiative von Mayaaktivisten statt und hat heute Einfluss auf Kämpfe im ganzen verdammten Empire.
Die Bauernkriege waren ein Ereignis mit Vorbildfunktion. So wie auch ihr Hauptagitator, Thomas Müntzer, eine Vorbildfunktion hatte. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Die soziale Ordnung, die Müntzer und die revolutionären Bauern versinnbildlichten, war ihrer Zeit weit voraus, genau genommen sogar unserer Zeit. (…) Sie wurden besiegt und massakriert, das ja, aber ihr Erbe ist noch unter uns, begraben in der Erde unter unseren Füßen. Und es kann jedes Mal dann wieder aufblühen, wenn die soziale Ordnung von unten bekämpft wird. Die Rhetorik der führenden Köpfe der Bauern hallt noch einmal wider, über die Jahrhunderte hinweg. In verschiedenerlei Hinsicht kann man sagen, dass Müntzer noch immer zu uns spricht.
Auf jeden Fall sprach er zu vier Aktivisten der Gegenkultur, in Bologna, Ende des Jahres 1995, zwei Jahre nachdem der zapatistische Aufstand den Atlantik überquert hatte und dort, unter anderem, das Phänomen Luther Blissett Project beeinflusste. (...)
Die kommunikativen Strategien der Zapatistas hatten großen Einfluss auf das Luther Blissett Project. (...) Was uns neugierig machte, war vor allem die Art und Weise, in der die Zapatistas vermieden, ihren Kampf in irgendeine der abgenutzten Denkweisen des 20. Jahrhunderts einzurahmen. Und sie lehnten die abgegriffenen Dichotomien von Reformismus vs. Revolution, Avantguarde vs. Masse, Gewalt vs. Nicht-Gewalt usw. ab. Die Zapatistas, daran konnte kein Zweifel bestehen, waren Teil der Linken. Aber sie schienen jedwede lineare Repräsentation von links und rechts zurückzuweisen, auf eine Weise, die nichts mit dem ‚weder links noch rechts‘-Gelaber von bestimmten Faschisten zu tun hatte. Ihre Sprache distanzierte sich von dem stereotypen ‚Drittweltismus‘: Sie eigneten sich auf kreative Weise alte Mythen und Legenden wieder an, im Dienst einer großen Vision, der des Transnationalismus (Huey P. Newton würde es „Interkommunitarismus“ nennen). Die Gemeinschaft, von der die Zapatistas sprachen, war eine offene Gemeinschaft, sie überschritt die Grenzen der Ethnie, deren Sprachrohr sie war. „Wir alle sind Indígenas dieser Welt“, sagten sie. Sie kamen aus der abgelegensten Gegend der Welt, aber innerhalb kürzester Zeit kamen sie in Kontakt mit Rebellen aus allen Teilen der Erde. Die Medienstrategie der Zapatistas verzichtete auf die üblichen kamerageilen Leader. In den ersten Tagen des Aufstands erklärte Marcos: „Ich existiere nicht, es gibt mich nur im Rahmen des Bildschirms.“ Dann erklärte er, dass ‚Marcos‘ nur ein Pseudonym sei und er nicht mehr als ein subcomandante, weil er weiß war, während die comandantes alle Indígenas waren. Und er fügte hinzu, dass alle ‚Marcos‘ sein könnten und dass das der eigentliche Sinn der Vermummung sei: Diese Revolution hat kein Gesicht, denn sie hat alle Gesichter. „Wenn ihr das Gesicht unter der Vermummung sehen wollt, nehmt einen Spiegel und seht euch selber an.“ [Jahre danach wurde „Diese Revolution hat kein Gesicht“ das erste Motto von Wu Ming.]
Dort nahm Luther Blissett seinen Anfang. (…) Viele haben versucht, die Anfänge des Projekts auf die Situationisten zurückzuführen, während die Wahrheit offensichtlich war. Es war das Beispiel der Zapatistas, das dem Luther Blissett Project half, seine Ziele zu definieren: den Mythos aus den Händen der Reaktionären zu reissen. Das Luther Blissett Project war ein Fünfjahresplan und dauerte von 1994 bis 1999. In Italien und anderen Ländern, nahmen Hunderte den Namen an und beteiligten sich an Mediensatire, Radioprogrammen, Fanzines, Videos, Straßentheaterprojekten, Performances, politischen Aktionen und theoretischen Schriften. In Bologna waren mindestens fünfzig Aktivist_innen vom Anfang bis zum Ende dabei.
Im Herbst 1995 fingen einige von ihnen an, mit der Idee zu liebäugeln, einen Roman zu schreiben. Dieser Roman würde Q werden.
Begeistert wie wir von den zapatistischen Ideen waren, entschieden wir uns sofort, die Geschichte eines Bauernaufstands zu schreiben, oder genauer: einen Roman über die Mutter aller modernen Revolten. (…)
Aber warum ein historischer Roman über ein so anachronistisches Thema? Welche Bedeutung könnten Thomas Müntzer und die Bauernkriege für die „Roaring Nineties“ haben? Der ‚Kommunismus‘ war besiegt, die ‚Demokratie‘ hatte gewonnen, der Glaube an die freie Marktwirtschaft war unumstößlich, die Idee des Neoliberalismus triumphierte. Wollten wir wirklich einen Roman über diese proto-kommunistischen, längst vergessenen Penner schreiben?
Klar wollten wir. In Zeiten konterrevolutionärer Arroganz, in der „greediest decade of history“ (wie Joseph Stiglitz sagen würde) war ein Buch dieser Art nötiger denn je. Um ehrlich zu sein, waren die Bauernkriege und Müntzers Predigten nur der Anfang der Geschichte, die wir erzählen wollten: Die Geschehnisse von Q erstrecken sich über mehr als dreißig Jahre europäischer Geschichte, von 1517 (das Jahr, in dem Luther seine Thesen an die Kirche von Wittenberg anschlug) bis 1555 (das Jahr des Augsburger Friedens). Diese hochbewegten Jahre sind für Historiker_innen und Schriftsteller_innen eine Fundgrube der Prototypen und Pionierleistungen, denn die Rebell_innen und Aufständischen dieser Zeit schienen alle nur erdenklichen Taktiken und Strategien ausprobiert zu haben. Wenn wir dem 16. Jahrhundert die Aufmerksamkeit zukommen lassen, die ihm zusteht, treffen wir Anarchist_innen, Protohippies, sozialistische Utopiker_innen, gestandene Leninist_innen, mystische Maoist_innen, verrückte Stalinist_innen, die Roten Brigaden, die Angry Brigades, die Weathermen, Emmet Grogan, Fra‘ Tuck, Punk, Pol Pot (...). Eine große Armee von Geistern und Metaphern. (...)
Wir wollten einen scharfen und leidenschaftlichen Roman schreiben, ein Buch, das sich seiner selbst als kulturelles Produkt bewusst ist (mehr noch: das sich nicht nur als kulturelles Produkt, sondern auch als kulturelle Waffe versteht), aber das sich gleichzeitig nicht hinter dem Zeigefinger der zynischen Entzauberung versteckt. Einen Roman, der die Rückkehr der radikalen Pop/Volkserzählung ankündigt. Die Welt brauchte Abenteuerromane, die von Leuten geschrieben wurden, die an das glaubten, was sie taten, die bereit waren, sich die Hände schmutzig zu machen und sie allen zu zeigen.
„Die von Seattle“, oder: Die belagerte Burg (1999-2001)
Auf die Veröffentlichung von Q folgte eine lange Lesereise durch ganz Italien (und in den Kanton Tessin). Wir trafen tausende Leser_innen an verschiedensten Orten: in centri sociali, Bibliotheken, Buchhandlungen, auf Festivals etc. Während der Tour kündigten wir an, dass wir nach dem Ende des Luther Blissett Projects ein neues Projekt verfolgen würden, mit einer spezifischen Ausrichtung, mit einem stärkeren Fokus auf dem Narrativen, nach hinten offen und ohne Frist.
Wu Ming stand vor der Tür. Wir waren gerade auf Tournee, als der Aufstand von Seattle losbrach.
30. November 1999. An diesem Abend kamen wir in Lodi an und präsentierten das Buch in der Stadtbibliothek. Anstatt über das Buch zu sprechen, sprachen wir fieberhaft über das, was soeben auf dem WTO-Gipfel passiert war. Wir spürten, dass es der Anfang von etwas ganz Großem sein würde. Diese neue Bewegung forderte die Institutionen heraus, die von oben den ‚freien Markt‘ regulierten: den Internationalen Währungsfond, die Weltbank, die Welthandelsorganisation und verschiedene andere Blutsauger.
Das Jahr 2000 war ein Jahr intensiver Organisierung, ein Jahr von Demonstrationen und Protesten gegen wichtige Gipfeltreffen. Die bedeutendsten Demonstrationen waren Ende September in Prag, als tausende DemonstrantInnen einen Gipfel des IWF und der Weltbank lächerlich machten. Wir waren auch da. Irgendwann entschied die Bewegung, dass der Showdown, die Kraftprobe, in Genua stattfinden sollte, wo ein Gipfel der G8-Staaten geplant war. (...)
Währenddessen passierten in Italien, und nicht nur dort, merkwürdige Dinge. Auf den Protestzügen traf man auf Leute, die eingehüllt waren wie das Bibendum, das Michelinmännchen: Sie trugen Helme, weiße Schutzanzüge und darunter verschiedenste Schutzvorrichtungen: Schulterpolster wie beim American Football, Schienbeinschützer, Rettungswesten, Kissen, Schwamm- oder Schaumgummiplatten. Man sah Hunderte dieser merkwürdigen Personen mit Schildern aus Plexiglas in der Hand, man sah sie gemeinsam mobile Barrikaden aus Reifen errichten, um dann in Schildkrötenformation den Polizeireihen entgegenzugehen. Sie trugen keine Waffen, keine Gegenstände zum Angriff, nur Schutzgegenstände, um zu vermeiden, dass die Knüppel ihnen die Knochen brachen. Einige nannten das „ziviler geschützter Ungehorsam“, oder – im Ausland – „ziviler Ungehorsam all‘italiana“. In dieser bisher unbekannten Straßenkampfpraxis spürten wir deutlich etwas ‚Blissettianisches‘ und fingen bald an, mit diesen Gruppen – den tute bianche – zusammenzuarbeiten, den Waisen der Autonomen-Bewegung, zu denen, in etwas anderer Form, auch wir gehörten.
Aber das war nicht das einzige sonderbare Phänomen, das wir in jenen Tagen bemerkten. In unerwarteten Momenten schien etwas auf ... der Geist von Thomas Müntzer.
Es gab eine Art Kurzschluss zwischen Q und der Bewegung. Dank Mundpropaganda und dem Internet war der Roman zu einem internationalen Bestseller geworden. Wir fingen an, das Motto „Omnia sunt communia“ auf Wänden und Transparenten zu sehen. Zitate aus Q wurden als ‚Unterschriften‘ in den Emails verschiedener AktivistInnen verwendet. In den Foren der Bewegung gab es Menschen, die sich den Nickname ‚Magister Thomas‘ oder ‚Brunnengert‘ gaben. Es war nichts anderes als der Anfang einer seltsamen, strittigen und schwierigen Beziehung zwischen unserer literarischen Arbeit und den sich abspielenden Kämpfen. In den Monaten bis Genua wurde der Name Wu Ming mehr mit unseren Agit-Prop-Ideen verbunden als mit unserer Literatur.
Es war vor allem unsere Schuld, denn wir stürzten uns mit so viel Überzeugung in die Kämpfe, dass sich die beiden Kontexte überlappten. (...) In diesen Wochen schrieben wir, alleine oder mit anderen gemeinsam, viele Aufrufe, entwickelten medienwirksame Performances und Aktionen, wie beispielsweise die ‚Nacht der sprechenden Statuen‘.
Wir haben viel darüber nachgedacht und wir sind von einer Sache überzeugt. Der Geist von Thomas Müntzer, und – als Konsequenz daraus – wir Autoren des Romanes finden uns im Zentrum der Mobilisierung wieder, denn dort drinnen nahm eine enorme Metapher Form an.
Immer häufiger wurde das Empire als eine belagerte Burg beschrieben, belagert von einer ‚Multitude‘ von Bauern. Diese Metapher tauchte in verschiedenen Texten und Gesprächen wieder auf. Manchmal explizit, manchmal subtil, aber sie war da.
Wenn auch beflügelnd und effizient, so war die Metapher doch irreführend. Keine Belagerung war im Gange, weil man keine Macht belagern konnte, die überall war und deren grundlegende Veräußerung ein kontinuierlicher Fluss der Elektronen von Aktie zu Aktie ist.
Dieser Irrtum hatte schwere Folgen.
Wir verwechselten die formalen Zeremonien der Macht mit der Macht selber.
Wir machten den gleichen Fehler wie Müntzer und die deutschen Bauern.
Wir hatten einen Kampfplatz gewählt und einen mutmaßlichen Kampftag.
Wir gingen alle nach Frankenhausen.
Frankenstein in Frankenhausen
Wann hat eure Flucht begonnen? (…)
Das habe ich Euch ja schon gesagt: Seit Pfarrer und Propheten sich meines Lebens bemächtigen wollten. Ich kämpfte mit Müntzer und den Bauern gegen die Fürsten. War Täufer in dem Irrsinn zu Münster. Göttlicher Henker mit Jan van Batenburg. Gefährte Eloi Pruynsticks unter den freien Geistern von Antwerpen. Jedesmal ein anderer Glaube, immer die gleichen Feinde, eine einzige Niederlage. (Luther Blissett, Q)
Thomas Müntzer sprach zu uns, aber wir verstanden nicht, was er sagte. Es war keine Segnung, sondern eine Warnung. Es ist unmöglich, unsere Verantwortung zu schmälern. Wir Wu Ming waren unter denjenigen, die am eifrigsten versuchten, die Leute nach Genua zu bewegen, und mehr als andere halfen wir der Macht, einen Hinterhalt zu legen. Nach dem Blutbad brauchten wir einige Zeit – und viel Nachdenken – um zu verstehen, was unsere Fehler gewesen waren, die spezifischen, in dem weiten Feld von Fehlern der Bewegung.
Es war offensichtlich, dass etwas in unserer ‚mythopoetischen‘ Praxis falsch gelaufen war, in der Konstruktion der Mythen von unten, die das Fundament für unsere Arbeit darstellte – und in gewisser Weise auch noch immer darstellt.
Unter Mythos haben wir niemals eine ‚falsche Erzählung‘ verstanden, die als die banalste und oberflächlichste Bedeutung des Wortes gelten kann. Wir haben das Wort immer benutzt, um eine Erzählung von großem emblematischen Wert zu bezeichnen, dessen Bedeutung von einer community (zum Beispiel der Bewegung) zusammengesetzt und geteilt wird, wobei die Mitglieder der community kontinuierlich die Erzählung kreieren und ‚sozialisieren‘. Uns interessieren die Erzählungen, die enge Beziehungen zwischen Menschen herstellen. Die communities halten sie (wenn alles glatt läuft) in der Gesellschaft inspirierend und lebendig. Die Mythen entwickeln sich dabei weiter, denn das, was in der Gegenwart passiert, verändert unseren Blick auf die Vergangenheit: Also ändert sich auch die Art und Weise, in der die gleichen Erzählungen zusammengesetzt werden und sie erhalten neue symbolische Bedeutungen.
Mythen stellen uns Vorbilder zur Verfügung, die wir annehmen oder verwerfen können, sie geben uns ein Gefühl von Kontinuität oder Diskontinuität mit der Vergangenheit und erlauben uns, eine Zukunft zu imaginieren. Ohne sie können wir nicht leben, unser Verstand arbeitet so, unser Gehirn denkt entlang von Erzählungen, Metaphern und Allegorien.
An einem bestimmten Punkt kann eine Metapher anfangen, unter Verkalkung zu leiden und immer weniger nützlich sein, bis sie jeglicher Bedeutung entleert wurde und ein geisttötendes Klischee wird, ein Hindernis für das Wachstum neuer inspirierender Erzählungen. Wenn das passiert, müssen wir den Kurs ändern und auf die Suche nach neuen Bildern und Wörtern gehen.
Revolutionäre und progressive Bewegungen haben sich immer verschiedener Mythen und Erzählungen bedient, um fortzuschreiten. In den meisten Fällen haben sich die Mythen länger aufrechterhalten, als sinnvoll gewesen wäre und sind fremd geworden.
Die Leichenstarre der Sprache setzte ein, die Sprache wurde hölzern, die Metaphern machten die Menschen eher zu Sklaven als sie zu befreien. Die folgende Generation hat darauf häufig mit der Negation der Vergangenheit und ikonoklastischen Verhaltensweisen reagiert. Ein Teil jeder Generation hat in den geerbten Mythen nichts als falsche Erzählungen gesehen. Einige haben für eine Demythisierung der Theorie und der Diskurse gekämpft, sei es im Namen der Vernunft, der ‚political correctness‘, des Nihilismus oder einfacher Dummheit (wie es für die Position der Fall ist, die davon ausgeht, dass der Mythos an sich faschistisch ist).
Niemand kann den Mythos aus den Köpfen der Menschen beseitigen. Tatsächlich endet jeder Bildersturm damit, dass neue Ikonen kultiviert werden, gegen die der Bildersturm von morgen losbrechen wird. Der Kreislauf wird niemals enden, wenn wir nicht verstehen, wie diese Erzählungen funktionieren.
Das Problem mit den Mythen besteht nicht in ihrer intrinsischen Falschheit, Wahrheit oder Pseudo-Wahrheit. Das Problem hierbei ist vielmehr, dass sie gerinnen und austrocknen, wenn wir sie für selbstverständlich halten.
Der Erzählfluss muss lebendig gehalten werden, indem wir mit immer neuen Mitteln erzählen, Sichtweisen und Blicke verändern. Wir müssen die Erzählungen permanent herausfordern, um zu verhindern, dass sie verhärten und unser Hirn verstopfen.
Das ist natürlich eine äußerst schwierige Aufgabe, aus verschiedenen Gründen. Zunächst einmal ist es sehr einfach, die Risiken der Arbeit an den Mythen zu unterschätzen. Man läuft immer Gefahr, wie Doktor Frankenstein vorzugehen oder, noch schlimmer, wie Henry Ford. Ein Mythos entsteht nicht durch Willenskraft, wie am Fließband. Man erweckt ihn auch nicht zum Leben in einem Privatlabor. (... ) Im Gegensatz dazu verlangt eine ‚genuine‘ Herangehensweise an Mythen die Fähigkeit, aufmerksam zu sein und zuzuhören. Wir müssen dem Mythos Fragen stellen und hören, was er uns zu sagen hat, wir müssen die Mythen erforschen, wir müssen sie in ihrem Territorium mit Hingabe und Respekt aufsuchen, ohne sie zu vereinnahmen und ohne sie zwanghaft in unsere Realität zu pressen. (...)
Unsere Chimäre war der richtige Abstand: nicht zu nah am Mythos, um geblendet zu werden, nicht zu weit weg, um daraus keine Kraft mehr ziehen zu können. Es war ein schwer zu haltendes Gleichgewicht, und in der Tat hielten wir es nicht.
Denn das Problem ist auch: wer ist der Hersteller der Mythopoesie, der Beschwörer, der Geburtshelfer? Es sollte einer ganzen Bewegung, community oder sozialen Klasse obliegen, die Mythen zu händeln und lebendig zu halten. Keine Gruppierung kann sich selbst und alleinig damit beauftragen. Wir hingegen sind schließlich zu ‚Funktionären‘ in dem Prozess der Manipulation der Metaphern und der Beschwörung der Mythen geworden. Unsere Rolle ist die von Quasi-Spezialisten geworden, eine Agit-Prop-Zelle. Wir sind zu Spin Doctors geworden.
Dalle moltitudini d‘Europa ... richtig, das gab den Leuten einen Tritt in den Arsch, das brachte die Leute dazu, sich sofort nach Genua aufzumachen, aber das war nicht der Punkt. Wir erzielten niemals ein „kritisches Verhalten den mythischen Motiven [unseres] Handelns gegenüber“. Das ‚Praktisch‘ brach niemals das ‚Unmöglich‘ auf.
Im Moment scheint es keine Möglichkeit außer der folgenden zu geben: den Mythos weiter zu erforschen, zuzuhören, einen nicht-instrumentellen Zugang zu diesem zu suchen, vom Mythos zu lernen, ohne dessen Komplexität zu reduzieren und ohne gleich seine politische Aerodynamik im Windkanal zu testen.
In Genua hat sich keine ‚militärische‘ Niederlage ereignet, sondern eine kulturelle Katastrophe. 20. Juli 2001. An diesem Freitag Nachmittag, in der Straße Via Tolemaide, trug niemand die tuta bianca. Wenige Tage zuvor hatte man beschlossen, die Praxis des ‚geschützten zivilen Ungehorsams‘ auf möglichst viele Personen auszuweiten. Aber sogar ein offenes Symbol wie die tuta bianca wäre für dieses Vorhaben hinderlich gewesen. Deswegen definierte sich der Demonstrationszug, der vom Stadion Carlini losgezogen war, nur aufgrund des Bezuges auf eine gemeinsame Praxis als die Ungehorsamen.1
Dann wurde Carlo Giuliani ermordet und alle Proteste lösten sich unter massiver Repression auf. Tausende mussten sich ihren Weg zurück zum Stadion erkämpfen, wie die Warriors, die versuchen nach Coney Island zurückzukehren. Die Nacht brach an und wir fühlten uns wie Ziele beim Taubenschießen. Wir hatten Angst, aber wir mussten einfach noch einmal auf die Straße gehen. An diesem Punkt war unsere einzige Hoffnung, dass so viele Menschen wie irgend möglich nach Genua kommen würden, um die zu unterstützen, die schon da waren.
Am folgenden Tagen kamen 300.000 Leute, um uns den Arsch zu retten. Zum größten Teil waren das nicht die Hardcore-Militanten – die waren schon da. Es waren einfach Leute, die das Blutbad im Fernsehen gesehen hatten und zur Unterstützung kommen wollten. Wir werden dieser Multitude auf ewig dankbar sein. An diesem Samstagnachmittag beschlossen wir, diese Leute niemals im Stich zu lassen. Die Rettung bestand darin, offen zu bleiben, ehrlich und verständlich. Die Rettung bestand darin, sich von Sektierertum weit entfernt zu halten.
Zu diesem Zeitpunkt fingen wir – zunächst noch verworren – an, eine neue Metapher zu denken, eine, die die Kritik an den vorhergehenden Metaphern einschließt: Genua als Frankenhausen.
Einer, der zufällig unseren Gesprächen folgte, fragte uns: „Sagt mal, wer ist dieser Frank Ènausen, von dem ihr die ganze Zeit sprecht?“
Zwei Monate später: der 11. September und die Situation verschärfte sich noch, in Italien und der ganzen Welt. Die Metapher der Belagerung kehrte sich um, und die Belagerten wurden wir.
2003 steckte die italienische Linke in einer tiefen Krise. Nicht einmal die Mobilisierung gegen den Irakkrieg war in der Lage, ihr zu neuer Energie zu verhelfen. Der italienische Ausdruck der globalsten Bewegung seit jeher nahm immer weniger Abstand von ihrer Bezeichnung ‚No Global‘ und wurde zu einer marginalen Präsenz, bestehend aus kleinen Gruppierungen, die den Raum der traditionellen radikalen Linken besetzte. Das alte langweilige Spiel, gespielt nach den alten langweiligen Regeln. Ein Haufen von ‚Berufsrevolutionären‘ übernahm, was noch da war, beging jede nur erdenkliche Art von Fehlern und stellte sich als unsagbar unfähig dar. Eigentlich schon fossilisierte, sub-leninistische Strategien und Taktiken wurden wieder hervorgeholt. Unglaublich viel Zeit und Energie ging in Identitätskämpfen zwischen Gruppierungen verloren. Versammlungen wurden zu erbämlichen Hahnenkämpfen. Der Großteil derjenigen, die vernünftiger und nicht ‚eingereiht‘ waren (vor allem Frauen) resignierten und wandten sich schließlich ab. Auch wir entschieden uns dafür. Eine selbsternannte Avantgarde von Ex-Tute-Bianche widmete sich neuen Projekten, die wir allerdings für grotesk hielten. (...)
Wenn man es genau betrachtet, hat unsere Zusammenarbeit mit dem Netzwerk ein bisschen länger als ein Jahr gedauert. So glorreich geht die Welt zugrunde. Seitdem haben wir viel Zeit und Kraft darein gesteckt, unser literarisches Projekt voranzutreiben, wir haben neue Romane und Essays geschrieben und unsere Präsenz in der Kultur und Kulturindustrie verstärkt.
Lange nachdem wir den Kampf verlassen haben, ist uns auf jeden Fall eines klar: Wir werden nie wieder Doktor Frankenstein mit den technisierten Mythen spielen. Und indessen schreiten wir voran, (...) und keine Niederlage ist endgültig und die Herzen schlagen weiter.