Lieber Paolo, wir hätten uns gestern sprechen sollen, aber ich hatte einen anstrengenden Tag bei der Arbeit, der sich bis spät hingezogen hat. Und dann musstest du dein Fahrrad reparieren ... Also machen wir sie doch heute, unsere kleine Unterhaltung. An einem Sonntagvormittag, was vielleicht ein guter Zeitpunkt ist, um über Literatur zu sprechen. Mit verquollenen Augen und einem Cappuccino auf dem Tisch. Rom, genauer, San Lorenzo, ist wie ausgestorben zu dieser Stunde. Das Wetter ist mild, eine kleine, sanfte Brise weht. Ich hoffe, bei dir ist alles gut ...

Mir geht’s gut hier.

An der Bar dieser Piazza sitzt ein älterer Stammkunde. Ein Pärchen liest Zeitung: sie die Repubblica, er die Gazetta dello Sport. Ein Typ mit einem alten Pullover, auf dem «La rivoluzione non russa»1 steht, blättert in einem Buch.

Hast du jemals über Revolution gesprochen in deinen Romanen?

In Storia della Russia e dell‘Italia [Geschichte Russlands und Italiens] gibt es diese Erzählung über die Ereignisse in Moskau von 1991, die Entführung von Gorbatschow, der Angriff von Panzern auf den Kreml. Dort haben sie das Revolution genannt. Soviel zu Revolution im engeren Sinne, im weiteren Sinne taucht es in meinen Büchern öfter auf, scheint mir.

Der Protagonist, der deine erste literarische Produktion prägt, der Schriftsteller, der es nicht gebacken kriegt, der Torwart, der den Abstoß nicht schafft, der reizende Paranoiker, der anarchistische Zeitschriften liest, hat der ein bisschen von Revolution in seiner DNA?

Mir kommt ein Satz aus der Kapuzinergruft von Joseph Roth in den Kopf. Eine Figur sagt irgendwann: «Die Revolutionen von heute haben einen Fehler: sie gelingen nicht.» In dieser Hinsicht könnte der Protagonist ein bisschen was damit zu tun haben, mit den Revolutionen, denn der größte Teil von dem, was er versucht zu tun, gelingt ihm nicht.

Die moderne Revolution funktioniert also nicht, aber muss man sie nicht lernen, studieren, lehren, die Revolution?

Das wäre schön, ein Lehrstuhl für vergleichende Revolutionswissenschaft.

Würdest du mir freundlicherweise deine Definition von Revolution geben?

Gerne: Rotation um die eigene Achse.

Gibt es deiner Meinung nach heutzutage eine revolutionäre Literatur?

Wenn die Literatur eine Art und Weise ist, eine irgendwie geformte Wahrheit zu transportieren, und wenn, wie Gramsci sagte und wie es mir richtig zu sein scheint, die Wahrheit revolutionär ist, müssten wir daraus ableiten, dass die Literatur revolutionär ist. Wenn allerdings, wie der Schriftsteller Manganelli meint, die Literatur eine Lüge ist, ein Affenarsch, dann müssten wir vielleicht daraus ableiten, dass die Literatur konterrevolutionär ist.

Und welche Form hätte diese revolutionäre Literatur gegebenenfalls?

Die Form eines Buches (für gewöhnlich).

Komm, Paolo, du hast mittlerweile kapiert, worauf ich hinaus will. Ich hake nach und versuch‘s noch mal: Kann man mit Worten «die Welt verändern»?

Man macht es die ganze Zeit.

Wie?

Auf verschiedene Weise, mit der Werbung, mit dem Kino, mit den Zeitungen, und, minimal, kaum wahrnehmbar, auch mit Büchern.

Warum hast du angefangen zu schreiben?

Aus Verzweiflung.

Also, hast du das für dich oder «für die anderen» gemacht?

Nein, nein, nicht für die anderen.

Ich war vor kurzem ein bisschen im Urlaub, in drei Tagen habe ich Manituana [ein Roman von Wu Ming] verschlungen. Das vorangestellte Zitat ist dem Philosophischen Wörterbuch von Voltaire entnommen. Voltaire schreibt, dass ein Einzelgänger, so fromm, bescheiden und heilig er auch sein mag, niemals tugendhaft genannt werden kann, wenn er nicht irgendeinen Akt der Tugendhaftigkeit vollbracht hat, der «ihn für andere Menschen nützlich werden lässt. Solange er allein ist, tut er weder Gutes noch Böses, er bedeutet für uns nichts.» Du, als Schriftsteller, hältst du dich für tugendhaft?

Nein, nein.

Noch einmal Wu Ming. Sie umreißen die zugrunde liegende Idee des Buches Q und nennen als eine ihrer Absichten, nicht nur ein «kulturelles Produkt, sondern eine kulturelle Waffe» herzustellen. Hast du jemals ‹kulturelle› Bomben oder Projektile geworfen?

Nein, nein.

Und was hältst du von einer solchen Definition?

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.

Es hat keinen Sinn, darum herumzureden, früher oder später müssen wir sowieso darüber sprechen: die politische Situation in Italien. Wie fühlt es sich an, in einer solchen Umgebung zu schreiben?

Es gibt einen Essay von Sklovskij aus den Zwanziger Jahren, in dem er sagt: «Die Farbe der Kunst hat niemals die der Flagge über der Zitadelle widergespiegelt.»

Sind wir da sicher? Ich hake noch mal nach. Wie viel Einfluss hat Berlusconi auf den Schriftsteller Paolo Nori?

Mir kommt ein Essay von Sklovskij aus den Zwanziger Jahren in den Kopf, der sagt, dass die Farbe der Kunst niemals die der Flagge über der Zitadelle widergespiegelt hat. Er trägt den Titel Hopp, hopp, Marsmännchen.

Aber auf Paolo Nori als Bürger?

Mir fällt ein Essay von Sklovskij ein, der, glaube ich, aus den Zwanziger Jahren ist. Das Buch heißt Der Lauf des Pferdes, wie der Essay heißt, weiß ich nicht mehr, und ich erinnere mich auch kaum daran, was drin steht.

Aber auf den Anarchisten Learco Ferrari, hat es auf den ein bisschen Einfluss?

Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Frage richtig verstanden habe, aber mir kommt ein Essay von Sklovskij in den Kopf, aus den Zwanziger Jahren, ich glaube, der Essay heißt wbeermarmelade, und der Satz, der mir eingefallen ist, ist: «Ich kann Cechov kein zweites Mal lesen».

Paolo, vor zwei Jahren hast du ein Dokument unterschrieben, das Der Streik des Autors hieß. Es beinhaltete den Verzicht, innerhalb der Verlagsgesellschaft zu publizieren, die von Berlusconi abhängig ist und die Weigerung, bei Initiativen mitzumachen, die von rechten Ausschüssen vorgeschlagen werden. Vielleicht war es eine widerliche Weise meinerseits, mich selbst zu verarschen und zu glauben, ein reines Gewissen zu haben. Mein Roman wird nächstes Jahr nicht bei dieser Verlagsgesellschaft erscheinen. Du hast viel bei Einaudi publiziert, ein traditionell antifaschistisches Verlagshaus, das jetzt unter die Kontrolle des Großverlegers Mondadori gelangt ist. Wie verhältst du dich diesem Dilemma gegenüber?

Vor einer längeren Weile hab ich mir eine Antwort zu dieser Frage überlegt, für den Fall, dass sie mir gestellt würde. Wenn wir die Vorschüsse ansehen, die sie mir zahlen und die Anzahl der Exemplare, die ich verkaufe, hätte ich geantwortet, bin nicht ich es, der für Berlusconi arbeitet, sondern er, der für mich arbeitet. Niemand hat mich je gefragt, du bist der Erste, also benutze ich jetzt diese alte Antwort, die allerdings noch wie neu ist, ich habe sie nie benutzt.

In Bezug auf diese Debatte wollte ich noch auf etwas anderes hinaus: Ein Buch ist offensichtlich ein kulturelles Produkt, es folgt Regeln der Marktwirtschaft. Hast du dir jemals Sorgen darum gemacht, ‹verkauft zu werden›? Teil eines ökonomischen Systems zu sein, das sich in den Bahnen des Kapitalismus bewegt? Hat dich das weniger frei sein lassen?

Teil dieses Mechanismus sind wir sowieso, unabhängig vom Beruf, den wir ausüben; aber es scheint mir, dass, unabhängig von der Tatsache, dass wir auf der Ebene des historischen Zeitpunktes Teil dieses Mechanismus sind, auf der Ebene des individuellen Zeitpunktes die Dinge von uns abhängen. Und auch unsere Freiheit, sie wird uns nicht von irgendjemandem gegeben oder von irgendeinem besonderen System, sie hängt von uns ab, davon, wie sehr wir es schaffen, uns anzustrengen, jeden Tag, jeden Vormittag, von dem Blick, den wir auf die Dinge zu werfen imstande sind. Unglaublich schwierig, aber der Kapitalismus hat nichts damit zu tun.

Ich glaube, wir haben schon einmal darüber gesprochen. Vor Jahren habe ich die deutsche Übersetzung von Bassotuba non c‘è [Titel der dt. Übersetzung: Sie ist weg] gelesen. Es war nicht gut übersetzt. Die Rezensionen in Deutschland ließen das spüren. Meiner Einschätzung nach sind in der Übersetzung die Musikalität deiner Sprache und ihr Ausdruckspotenzial nicht herausgekommen. Würdest du mir deine Sprache beschreiben?

Das schaff ich nicht. Und ich glaube auch nicht, eine Sprache zu haben.

Kann man von der Existenz einer konservativen oder progressiven Sprache sprechen?

Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ein russischer Dichter fällt mir dazu ein, Krucenych, der 1913 geschrieben hat, dass die Klarheit, die Reinheit, die Ehrlichkeit und die Annehmlichkeit, die in der Vergangenheit Eigenschaften waren, die man dem Wort zugesprochen hat, Merkmale sind, die sich nunmehr eher auf eine Frau beziehen als auf die Sprache. Aber ich weiß nicht, ob das irgendetwas damit zu tun hat und darüber hinaus wäre ich auch nicht besonders einverstanden.

Aber in deinen Romanen gibt es eine Beziehung zwischen Form und Substanz ...

Die Beziehung zwischen Form und Substanz gibt es in allen Dingen, die man sagt oder schreibt, auch in einem Rezept für Medikamente, auch in diesem Interview.

Ist es dir schon passiert, dass du etwas geschrieben hast, was nicht deinen Blick auf die Gesellschaft widergespiegelt hat? Etwas, das, einmal veröffentlicht, missverstanden werden könnte?

Alles kann missverstanden werden - es scheint mir sogar, dass alles die ganze Zeit missverstanden wird. Was den ersten Teil deiner Frage betrifft: Ich verstehe nicht, was du meinst, aber ich antworte trotzdem: Es gibt manchmal Figuren in meinen Büchern, die die Welt auf ihre Weise sehen, die sich von der Weise unterscheidet, wie ich sie sehe, aber es ist immer noch meine Weise, in gewissem Sinne. Aber es ist auch ihre Weise, es ist die von uns beiden.

Wenn ich mich nicht irre, Paolo, ich habe es so im Kopf, aber ich könnte mich täuschen, hast du einmal, als du über deinen Stil gesprochen hast, ihn als surreal definiert. Was bedeutet diese Äußerung in Bezug auf das Konzept, das du von Literatur hast?

Von Zeit zu Zeit wird mir gesagt, dass ich in einer surrealen Weise schreibe und darauf habe ich einmal spontan geantwortet, dass die Welt surreal ist.

Erklärst du mir genauer, welches Verständnis du von Literatur hast?

Mir kommt ein Gedicht von Nino Perdetti in den Kopf, in dem heißt es: «Sagt mir nicht, dass die Welt hässlich ist, krank, zu Scheiße geworden, die Welt muss schön sein, auch wenn dir das Herz schreit, auch wenn sie dir die Finger ausreißen.»

Ist die Literatur der Realität unterlegen?

Ich weiß nicht genau, was das sein soll, die Realität, im Singular, die Realität, was ist das? Wo ist sie, wo wohnt sie, kann man mit ihr sprechen?

Aber wenn man einen Versuch unternimmt, wenn man die Adresse findet, wo Signora Realität wohnt, die dann die Adresse wäre von einem Straßenreiniger, der schon zu dieser Stunde den Platz vor der Bar fegt, die Adresse vom Besitzer des SUV hier vorne, der ganz bestimmt ein alternativer Student ist, Bildungsbürgersohn, die Adresse von meinem Vermieter, der eine Wuchermiete verlangt, außerdem die Adresse von dem indischen Rosenverkäufer, der gerade auf mich zukommt und vermutlich keine Papiere hat, und wenn sie ihn erwischen, wird er in den Fangarmen des neuen Sicherheitspakets enden, so, wenn wir all diese Adressen finden, kann die Literatur Einfluss auf die Realität haben?

Es gibt einen Essay von Sklovskij aus den Zwanziger Jahren, in dem es heißt, dass die Kunst immer emanzipiert war vom Leben, und auch die Farbe der Kunst hat niemals die der Flagge über der Zitadelle widergespiegelt.

Paolo, mittlerweile ist offensichtlich geworden, dass du ein großer Experte der russischen Literatur bist (insbesondere spezialisiert auf einen Essay von Sklovskij, meine ich zu verstehen). Welche Beziehung gab es in Russland zwischen Literatur und Realität?

Das gleiche Problem, das es auch hier in Italien gibt, das Problem, die Adresse dieser viel zitierten Realität zu finden, gibt es meiner Meinung nach auch in Russland.

Und zwischen Literatur und Revolution?

Es gibt eine Sammlung von Blok, über Literatur und Revolution, die ist sehr schön.

Bei wie vielen Romanen bist du mittlerweile angelangt?

Ich weiß es nicht. Ich müsste sie zählen, das erscheint mir wenig elegant.

Dann werde ich wenig elegant, zähle sie und sage dir: achtzehn, wenn wir wirklich alle alle mitrechnen. Wann erscheint der nächste, wenn man das sagen kann?

Februar 2010.

Gab es jemals Momente der Resignation? Ich spreche nicht von professioneller, ökonomischer  Resignation. Ich meine Momente, in denen du dich gefragt hast: «Was mache ich hier bloß? Für wen mach ich all das?»

Am Anfang gab es die, aber im Allgemeinen ist das ein Beruf, bei dem es manchmal, an den Tagen, an denen es läuft, nicht dazu kommt, dass du dich fragst, warum du das tust. Den Rest, glaube ich, kann man nicht sagen, wenn das einer sagt, dann wird das gestrichen.

Die Bar füllt sich. Ich höre Stimmengewirr um mich herum. San Lorenzo wacht auf. Auf dem Tisch des Pärchens ist La Repubblica liegen geblieben. Darin ein Artikel über Roberto Saviano, über seine Verurteilung zum Tod von Seiten der Camorra nach dem Erscheinen seines dokumentarischen Romans Gomorra über das organisierte Verbrechen. Roberto hat versucht, eine sehr komplexe Operation durchzuführen. Er hat das Zitat von Pasolini wieder aufgegriffen «Ich weiß und ich habe Beweise», als er die Mafia anklagte, und jetzt trägt er die Konsequenzen. Stieg Larsson lebte unter permanenter Bedrohung durch rechtsextreme Gruppierungen. Ist das das Schicksal derjenigen, die versuchen, mit einem literarischen Text einen politischen Einfluss auszuüben?

Alles hat einen politischen Effekt, glaube ich. Was mich am meisten beeindruckt, zum Beispiel in dem Fall Pasolini, ist, dass wenn wir ein Diagramm zeichnen, das wir Moral nennen und den Punkt ausmachen, an dem Pasolini sich selbst platziert, dann sehen wir, dass das auf der Achse der Moral unglaublich hoch liegt, oberhalb jedes Lesers und jeder Figur, die sich in Pasolinis Literatur bewegt. Wie Manganelli sagt, man spürt dort drinnen (Manganelli sagt das in Bezug auf die Polemik zur Abtreibung) eine so immense moralische Überlegenheit dem Universum gegenüber, dass diese schwer vereinbar ist mit einer verständlichen Prosa. Mir gefällt die Haltung des erzählenden Ichs besser, zum Beispiel in diesem Gedicht von Raffaello Baldini:

Wenn es einen Radiergummi gäbe, um zu radieren, einen Radiergummi
aus Tinte, nicht aus Bleistift, oder wenn nicht das,
mit einer Schreibmaschine, xxx anschlagen,
oder, um es besser zu machen, xyxy
oder, um es noch besser zu machen, mnmn,
was wenig ausrichtet, mn, aber es löscht,
verdammt nochmal, das nichts mehr versteht,
oder sogar, am allerbesten, aber das habe ich nicht,
ein Computer wäre gut, dass eine Taste reicht,
und alles verschwindet, ohne einen Schwamm, alles weiß,
als wäre nichts geschehen,

weil ich in meinem Leben, all die Fehler, die ich gemacht habe

Paolo, hier in der Bar wird es immer voller. Es wird Zeit, mich aufzumachen und nach Hause zu gehen. Mittagessen kochen, an das Kapitel denken, das heute Nachmittag geschrieben werden will, die Arbeit ein bisschen vorantreiben. Tausend Dank für das Gespräch, ich überlasse dir den letzten Satz. Mir gefallen einige deiner abgebrochenen Enden, wie das aus deinem Roman Grandi ustionati [Schwere Verbrennungen]. Bis bald ...

Auf Wiedersehen.