Auch viele Linke glauben, diese Krise ließe sich durch einen ausgewogenen Mix aus Etatismus, Fordismus und Keynesianismus in den Griff kriegen. Debatten, die einen Bruch mit dem Fortschrittsmythos, der Vorstellung des ewigen Wachstums und Vergötterung von ‹Arbeit› markieren, sind selten: Die Lösung der Krise wird vorrangig quantitativ gedacht. Mein Eindruck: Die Linkspartei unterscheidet sich von anderen Parteien, indem sie an deren Forderungen noch eine Null dran hängt. Das ist nicht polemisch gemeint. Der Großteil ihrer Forderungen ist ja richtig und wichtig, würden sie umgesetzt, wäre die Lebenssituation vieler Menschen besser. Dennoch: Nach vorne weisende Debatten, die die Dimensionen der Krise ausmessen und daraus ihre politischen Projekte begründen, stehen erst am Anfang. Das gilt auch für die Bewegungslinken.

Diskussionen über Transformationsstrategien sind deshalb absolut notwendig. Ich meine damit nicht schratige ‹Utopien› schöner neuer Welten. Wir müssen schon Komplizen der Zeit sein und trotzdem Unzeitgemäße bleiben. Sinnvoll wären Entwürfe, die an konkreten Widersprüchen und entsprechenden Kampffeldern ansetzen: Wie stellen wir uns urbanes Wohnen vor? Was könnte die Mobilität der Zukunft sein? Welche Energieversorgung haben wir nach dem Ende des Fossilismus? Welche Konversionsdebatten werden geführt? Viele kluge Vorschläge wurden hier in den letzten Jahrzehnten entwickelt, die auch schnell umgesetzt werden könnten. Nur: Sie werden es nicht. Die Verhältnisse, sie sind nicht so. Deswegen muss man als Linke/r immer wieder einen Schritt zurücktreten, um den Ort zu bestimmen, von dem aus man interveniert. Und hier wird es leider etwas abstrakter.

Der Einsatz

Im Gegensatz zu jenen, die die Krise auf eine Finanz- und Wirtschaftskrise reduzieren, hat eine Linke herauszustellen, dass es sich um eine umfassende gesellschaftliche Krise handelt. In ihr verdichten und kreuzen sich verschiedene Krisenphänomene: die Wirtschafts- und Finanzkrise, die ökologische Krise, die Krise des Fossilismus, die Ernährungs- und Hungerkrisen, die Krise der US-Hegemonie und mit ihr die des globalen Nordens. Die Folgen sind bekannt: Flüchtlingsströme, Zonierung der Welt, Kriege in Permanenz, Fundamentalismen. Der Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein behauptet, dass wir uns in einem globalen ‹Verwandlungs- ZeitRaum› befinden, einer Phase systemischer Weichenstellung – vergleichbar der am Ende des 15. und Beginn des 16. Jahrhunderts. Demnach wird in den nächsten 20 bis 30 Jahren die Zukunft dieses Planeten ausgefochten. Toni Negri vergleicht die heutige Situation mit derjenigen im Russland von 1905.

Die Dringlichkeit von weitgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen ist keine Frage des Wissens, der Fakten bzw. der politischen Aufklärung. Jede/r, der/die es wissen will, kann die diversen Stern-Reporte und Warnungen der zigtausend Al Gores nachlesen. Es ist eine Frage von politischem Willen. Nichts anderes bedeutet Krise im wörtlichen Sinn: Entscheidung, Bruch, Zuspitzung, Höhe- und/ oder Wendepunkt einer gefährlichen oder unsicheren Entwicklung; Infragestellung einer Entwicklung, einer gegebenen Struktur oder Situation durch akute Schwierigkeiten. Etwas Gefährliches also.

Gefahren

Wenn man nach Transformationsstrategien fragt, muss man auch nach den Bedingungen des Erfolges und nach dem Ort und den Aufgaben der politischen Aktivist_innen fragen. In der Dringlichkeit von Veränderungen schlummern Gefahren: eine bereits erwähnte ist das «Zurück zu …» den sicheren Rezepten früherer Jahre. Nicht wenige glauben, Keynesianismus und Fordismus könnten im Zusammenspiel mit dem Nationalstaat die passende Medizin darstellen. Natürlich ist der Nationalstaat eine wichtige Handlungsebene. Doch der Horizont der Probleme ist ein globaler. Der Nationalstaat greift immer mehr zu kurz. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr einer Politik der reinen Gesinnung und der reinen Tat1. Zahlreiche Beispiele dafür sind aus der Geschichte bekannt. Der Versuch, Kräfteverhältnisse durch Bündnisse zu beeinflussen, die Mühen dieser Ebene werden leichterhand als reformistisch verworfen.

Und schließlich besteht die Gefahr der Überschätzung und Überforderung der eigenen Kräfte und Möglichkeiten. Damit verbunden ist ein Aktionismus, der sich nicht auf Dauer durchhalten lässt. Der unausweichliche Rückzug führt dann in die Resignation des «Umsonst » oder zum Zynismus des Besserwissers. Überschätzt wird die eigene Bedeutung hingegen oft von politischen Aktivist_innen, die auch noch politische Intellektuelle sind.

Der Ort des politischen Aktivismus und der Intellektuellen

Wichtig ist also die Differenz zwischen Aktivismus und Aktionismus. Das machte Brecht in seinem Me-ti. Buch der Wendungen vor dem Hintergrund des drohenden Faschismus deutlich. So etwa in der Geschichte Tu will kämpfen lernen und lernt sitzen:

«Tu kam zu Me-ti und sagte: Ich will am Kampf der Klassen teilnehmen. Lehre mich. Me-ti sagte: Setz dich. Tu setzte sich und fragte: Wie soll ich kämpfen? Me-ti lachte und sagte: Sitzt du gut? Ich weiß nicht, sagte Tu erstaunt, wie soll ich anders sitzen? Me-ti erklärte es ihm. Aber, sagte Tu ungeduldig, ich bin nicht gekommen, sitzen zu lernen. Ich weiß, du willst kämpfen lernen, sagte Me-ti geduldig, aber dazu musst du gut sitzen, da wir jetzt eben sitzen und sitzend lernen wollen. Tu sagte: Wenn man immer danach strebt, die bequemste Lage einzunehmen und aus dem Bestehenden das Beste herauszuholen, kurz, wenn man nach Genuss strebt, wie soll man da kämpfen? Me-ti sagte: Wenn man nicht nach Genuss strebt, nicht das Beste aus dem Bestehenden herausholen will und nicht die beste Lage einnehmen will, warum sollte man da kämpfen?»

Me-ti redet nicht dem Abwarten das Wort. Doch dürfen politische Aktivist_innen keine Eiferer sein, keine Prediger_innen des Verzichts und Moralisten, sonst verlieren sie an Überzeugungskraft. Trotz aller Dringlichkeit; nur wer die Fähigkeit hat, zu warten, kann klar sehen. Wer sich von seiner Ungeduld hinreißen lässt, landet bei der Caritas und Sozialarbeit oder bei existentialistisch motivierter Militanz.

Auch der oder die linke Intellektuelle sollte sich über die Grenzen seines Tuns im Klaren sein. Er/sie ist, wie es Benjamin mit Blick auf Kracauer ausdrückt, «kein Führer, kein Gründer». Seine/ihre Aufgabe ist vielmehr die «Politisierung seiner eigenen Klasse», eben der Intelligenz. Benjamin vergleicht ihn im Aufsatz Politisierung der Intelligenz mit einem «Lumpensammler frühe im Morgengrauen, der mit seinem Stock die Redelumpen und Sprachfetzen aufsticht, um sie murrend und störrisch, ein wenig versoffen, in seinen Karren zu werfen, nicht ohne ab und zu einen oder den anderen dieser ausgeblichenen Kattune ‹Menschentum›, ‹Innerlichkeit›, ‹Vertiefung› spöttisch im Morgenwinde flattern zu lassen. Ein Lumpensammler, frühe – im Morgengrauen des Revolutionstages.»

Die Kräfte des Rausches und die Kräfte der Ordnung

Was sind aber nun die Bedingungen für den Erfolg? Machen wir zunächst einen Umweg. Ein zentraler Grund für das Scheitern der historischen Linken waren die Fiktion von Einheit und der Absolutheitsanspruch. Es gab nur die eine Partei – Sozialdemokratie oder Kommunismus. Wer nicht zur Partei gehörte, war Abweichler_in, Verräter_in, Scharlatan_in usw. Die Zwischengruppen versuchten, eine Kommunikation zwischen den großen Organisationen herzustellen, aber auch sie verfolgten das Ziel der Einheit durch Wiedervereinigung. Die Bewegungen von 1968 haben diese Vorstellung von linker Politik nachhaltig erschüttert.

Der politische Einsatz der Sozialforumsbewegung hingegen bestand darin, die Vielfalt der Bewegungen als Vielfalt anzuerkennen. Einheit als Ziel wurde aufgegeben. Dies ist ein unhintergehbarer Fortschritt. Wie weit er trägt, wird man sehen. Gerade jetzt, in und durch die Krise dürfte der antineoliberale Konsens der Sozialforumsbewegung brüchig werden. Nicht wenige werden einem kapitalistischen Green New Deal das Wort reden. Mit der Anerkennung der Differenz ist nur eine Erfolgsbedingung formuliert. Und dies gilt auch nur dann, wenn die Differenz nicht mit einer Einhausung der verschiedenen Milieus in ihrem jeweiligen Biotop gleichgesetzt wird.

Daneben sind weitere Faktoren erforderlich. Zunächst wäre die Schwäche der Herrschenden zu nennen. Die Krise der Repräsentation ist zwar weit fortgeschritten, hat aber noch lange nicht den Punkt erreicht, der zu einer Implosion des Systems führen könnte. Zweitens ist die Existenz einer klugen, nicht sektiererischen ‹Partei› im weiteren Sinne erforderlich, die versucht, den Möglichkeitshorizont der Linken in ihrer Gesamtheit zu erweitern. Drittens muss eine metaphorische Verdichtung von Erfahrungen und Forderungen erfolgen: «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» in der Französischen Revolution; «Land, Frieden, Brot» in der Russischen Revolution; «Wir wollen alles» oder «Ich will nicht werden, was mein Alter ist» von 1968. Der Slogan «Eine andere Welt ist möglich» der Sozialforumsbewegung ist nur ein matter Abglanz dieser Forderungen. Notwendig ist zudem der Glaube an die eigene Stärke, die Überzeugung, etwas fundamental ändern zu können. Beispielhaft hierfür ist das ‹Amandla› des ANC in Südafrika: Es bedeutet Macht, Stärke, auch Selbstermächtigung, das Wissen, siegen zu können. Vor dem Hintergrund historischer Niederlagen fehlt uns eine solche Subjektivität fast völlig. Sie wird vom globalen Süden her kommen müssen.

Und – alles entscheidend – das Ereignis, der unverfügbare Aufbruch der «gefährlichen Klassen» sowie der «Kräfte des Rausches». Unter Letzteren verstand Benjamin die ästhetischen Avantgarden, insbesondere die Surrealisten und die Gruppen, Geheimbünde, Organisationen um die französischen Schriftsteller und Soziologen Bataille, Leiris und Caillois. Sie brachten für ihn die zeitgemäßen Schwellenerfahrungen zum Ausdruck. Diese Autoren formieren nur die «Spitze eines Eisbergs, der unterm Meeresspiegel sein Massiv in die Breite streckt. Es ist gerade eine Aufgabe der Kritik zu erkennen, an welche außerliterarischen Tendenzen diese Schriften anschließen. » Deshalb forderte er, diese Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen. Sein Ziel war, einen profanen Messianismus, eine profane Mystik mit dem historischen Materialismus zu konfrontieren. Auch heute stellt sich diese Aufgabe. Die Krise wird nicht auf dem Feld der Ökonomie entschieden.

Sieht man sich die Geschichte an, waren die Linken vor allem dann stark, wenn sich die Kräfte der Ordnung und der Disziplin (Partei) mit den Kräften des Rausches (ästhetische Avantgarden) und den Kräften des «niederen Materialismus» (gefährliche Klassen) kreuzten. Dies war der Moment des Bruches. Homo faber und Homo ludens; die Jakobiner und die Sansculotten sowie die Marktweiber und die Enrages; die Bolschewiki und die künstlerische Avantgarde (man denke nur an Majakowski, Kollontai, Suprematismus und Konstruktivismus in den 1920er Jahren) und die Bauern; 1968: Fabrik und Stadtteil; Arbeit und Alltag; Freaks und Hippies; Kommune 2 und Lehrlingsbewegung.

Bei diesem und handelt es sich nicht um eine hegelianischedialektische Aufhebung der Widersprüche auf erhöhter Stufenleiter, sondern um eine Konstellation – einer der zentralen Begriffe bei Benjamin – von verschiedenen Elementen. Den Raum für einen solchen Zusammenprall zu schaffen, wäre Aufgabe einer klugen Linken. Nur wenn man den Horizont öffnet für andere politische und lebensweltliche Traditionen, ist dies möglich. Bis jetzt ist das noch nicht gelungen: die Diskurse von Ökologie und Sozialem laufen immer noch nebeneinander her. Eine diskursive Verkopplung hat nicht stattgefunden. Die Abwrackprämie bei Opel als Krisenlösungsstrategie spricht Bände.

Der Moment des Bruches ist nie aus der gegebenen Situation ableitbar. Vielleicht wird er für immer verfehlt. Manchmal gibt es aber auch den Kairos, den Augenblick der günstigen Gelegenheit, in dem sich Geschichte wie im Zeitraffer beschleunigt und verdichtet. Hätte jemand im September 1989 behauptet, dass zwei Monate später die Mauer nicht mehr steht, wäre er oder sie gnadenlos ausgelacht worden. Als Desmoulins am 12. Juli 1789 zu den Waffen rief, dachte er nicht im Traum an den Sturz des Absolutismus schon zwei Tage später. Wer in Paris dachte im Februar 1871 an die Pariser Kommune? Und um 1966 glaubten politische Expertund Soziolog_innen, die Jugend sei völlig unpolitisch. Kurze Zeit später explodierte etwas, was bis heute nicht erklärbar ist.

Den historisch avanciertesten Versuch, an einer solchen Konstellation zu arbeiten, bildet die Trias Brecht-Benjamin-Bataille. Sie selbst bildeten eine Konstellation mit Benjamin als Bindeglied. Sie erkannten früh, dass die Politik der Arbeiterparteien gegenüber dem Faschismus zum Scheitern verurteilt war, in ihrem positivistischen Fortschrittswahn unfähig, dem Faschismus zu widerstehen. Welche Antworten sie zu geben versuchten, darüber in der nächsten arranca!