Von „Eigenem“ und „Fremdem“
Die Konstruktion des Islam als wesentliches Merkmal und Problem von MigrantInnen aus „islamischen“ Ländern blendet die Bedeutung „westlicher Einflüsse“ für die „islamische“ Entwicklung und das Verhältnis der beiden zueinander aus. Dies führt zu einer TäterInnen-Entlastung auf Seiten von Mehrheitsangehörigen und zur Selbst-Ermächtigung von Minderheitenangehörigen.
Wenn – aus „westlicher“ Sicht – erklärungsbedürftige Erscheinungen der Anderen (Kopftuch, Geschlechterverhältnis, Politikverständnis, Terroranschläge usw.) auf dem Hintergrund ihrer kulturellen und religiösen Zugehörigkeit interpretiert werden und diese als in sich abgeschlossenes, statisches Gebilde verstanden werden, spielen „islamisch-westliche“ Beziehungen keine Rolle. Indem Entwicklungen in „islamischen“ Ländern oder Verhaltensweisen von MigrantInnen in westlichen Gesellschaften als „islamische“ definiert werden, kann die „westliche Dominanz“ diskursiv geleugnet werden und damit faktisch weiter bestehen.
Verstärkt wird diese Strategie durch eine weitere: „Der Islam“ wird nicht nur als Erklärungsmuster für Entwicklungen in „islamischen“ Ländern herangezogen, sondern auch für das Verhältnis zum „Westen“. Indem er nun auch als Bedrohung von außen verstanden wird, kann die eigene Aggression als Abwehr umdefiniert werden: Krieg gegen Terror, Türken bedrohen deutsche Frauen, „Nicht ohne meine Tochter“. „Der Islam“ dient so der Verleugnung der eigenen Anteile politischer und gesellschaftlicher Entwicklung „der Anderen“. Es wird zwar eine Beziehung zu sich selbst hergestellt, aber lediglich um sich im Verhältnis zu „den Anderen“ als bedroht zu konstruieren. Mit der Einführung „des Islam“ in den „westlichen“ Diskurs ist es „dem Westen“ gelungen, bestehende Machtverhältnisse zu seinen Gunsten zu festigen.
Kulturalisierung und Machtverhältnisse
Die Konstruktion „des Islam“ als Bedrohung versucht, „westliche“ Aggression als Abwehr umzudefinieren. Argumentativ werden Machtverhältnisse umgekehrt, Privilegien können also weiter ausgeschöpft werden. Der Versuch, gesellschaftliche Prozesse als „islamische“ zu konstruieren, wird allerdings auch von der – je nach Sichtweise – unterentwickelten oder ausgebeuteten Seite aus praktiziert. Indem MigrantInnen oder „Moslems“ eigene Verhaltensweisen und Einstellungen direkt aus dem Qur’an ableiten, versuchen sie oft den eigenen Opferstatus zu überwinden, zumindest die Definitionsmacht über sich selbst wiederzuerlangen. Eine Kopftuch tragende Frau tut dies dann nicht, weil Männer, das Patriarchat oder die Ausgrenzung durch Mehrheitsangehörige sie dazu zwingen, sondern mit Hinweis auf den Qur’an und ihre eigene Entscheidung für das Kopftuch. Indem für das eigene Verhalten selbstbewusst kulturelle Besonderheiten beansprucht werden, wird die Auseinandersetzung über sexistische, rassistische und andere Dominanz gemieden. Zuschreibungen und Eingrenzungen werden vorweggenommen und als eigene Entscheidung deklariert, denen mit neuen Bedeutungen versehen ihre verletzende Wirkung genommen werden soll. In derartigen Diskursen wird der Wunsch sichtbar, sich selbst als Opfer zu rehabilitieren und in eine Position der Macht zu heben. Dass gerade der Qur’an als Quelle der Selbstermächtigung gute Dienste leistet, hängt eng mit der „islamisch-westlichen“ Geschichte zusammen. Für das mittelalterliche Abendland galt der Orient gerade in Bezug auf Sexualität, das Geschlechterverhältnis, Intellektualität und Wissenschaft als vorbildlich. Und auch heute bietet sich der Rückgriff auf „den Islam“ als Gegenort zum Westen an, da nach der Beendigung des „Kalten Krieges“ der Platz für Gegenkonzepte zur Weltmacht frei geworden ist.
Essentialisierung
Sowohl die rassistische als auch die islamistische Argumentation bedienen sich der gleichen Mechanismen und argumentieren auf der gleichen Basis. Ihre Konstruktion „des Islam“ ist die gleiche und verhindert eine selbstbestimmte Entwicklung, gerade weil sie gegenwärtige Phänomene als unabhängige zu begründen versucht.
Heißt das nun, dass „der Islam“ für die Situation von „Moslems“ keine Rolle spielt? Das sicherlich nicht, auch Konstruktionen haben reale Folgen. Hatte „der Islam“ für viele MigrantInnen keine Bedeutung oder verstanden sie sich explizit als AtheistInnen, so sind diese Haltungen so nicht mehr aufrechtzuerhalten. Auch AtheistInnen fangen wieder an sich mit „dem Islam“ zu beschäftigen, werden sie doch immer wieder mit diesbezüglichen Stereotypen konfrontiert (oder gar als „ExpertInnen“ gefragt). Sich in einem antiislamisch-rassistischen Kontext offen gegen „den Islam“ zu äußern, kann missverstanden werden als Bestätigung rassistischer Konstruktionen. Werden diesen Konstruktionen allerdings differenziertere Überlegungen gegenübergestellt, werden MigrantInnen oft als Moslems stigmatisiert. Auch in vielen „islamischen“ Ländern selbst ist es kaum noch möglich, sich säkular zu verhalten. Der offensichtlichen Aggression von außen wird ein Bedeutungszusammenhang gegeben, der mit konkreten materiellen Hilfen verknüpft nur noch eine eigene Zuordnung zu der einen oder der anderen Seite zulässt.
Rassismus und „kulturelle Identität“
Sowohl Kulturalisierung als auch Ausblendung von Kulturdifferenzen konstruieren den oder die AndereN und damit auch das Selbst und reproduzieren rassistische Machtverhältnisse.
Nun bemühen sich einige „Islam-KennerInnen“ tatsächlich darum, möglichst viele und differenzierte Informationen über „die Anderen“, auch über „den Islam“, zu gewinnen, um nicht in platte Dualismen zu verfallen. Sie ziehen dann nicht das eine Qur’an-Zitat heran, um damit alles zu erklären, sondern versuchen dialektisch und historisch mit Quellen umzugehen. Es bleibt aber die Frage, wozu das gut sein soll. Warum meinen aufgeklärte Mehrheitsangehörige, andere immer wieder verstehen und einordnen zu müssen und ihnen nur dann eine Daseinsberechtigung einräumen zu können, wenn sie einverstanden sind mit deren Lebenskonzept? Auch in diesen Bemühungen kommt das Interesse nach Kontrolle der Situation zum Vorschein, die auf den Machtaspekt von Rassismus, auch antiislamischen, verweist. Jeder Rassismus beinhaltet nicht nur die Konstruktion des Anderen/des Selbst, sondern auch die Position, aus der heraus konstruiert wird. Auch wenn „Moslems“ versuchen, durch die Umkehrung der Bewertung des Islam sich selbst aus der Opferposition herauszudefinieren, bleiben sie dennoch in der unterlegenen Position. Ihre Aussichten auf dem Wohnungs-, Ausbildungs- und Arbeitsmarkt vergrößern sich nicht, wenn sie statt verschämt zu versuchen, ihre Differenz zu verleugnen, sie nun stolz betonen. Allerdings kann es hilfreich sein, sich nicht als wehrloses Opfer, sondern als handelndes Subjekt zu fühlen. Auch bietet die dann neu gewonnene „Schicksalsgemeinschaft“ jenen Rückhalt, der in der Mainstream-Gesellschaft Minderheiten verwehrt wird. Die Frage nach Identität und Zugehörigkeit ist für Ausgegrenzte in der Regel keine akademische, sondern bedeutet häufig erst die Basis dafür, in einer marginalisierten Situation handlungsfähig zu bleiben. Dennoch ist die Gefahr groß, durch die darin liegende Bestätigung von Konstruktionen langfristig bestehende Machtverhältnisse zu zementieren.
Während sich Minderheiten im Interesse ihres Überlebens und ihrer Rehabilitierung an der rassistischen Konstruktion beteiligen, geschieht dies bei Mehrheitsangehörigen vor allem im Interesse ihres Machterhalts. Das gilt es zu reflektieren, und hieran muss antirassistische Arbeit ansetzen.