Der Begriff des Überlebens in der feministischen Theorie und Praxis
In der feministischen Theorie und Praxis ist der Begriff des Überlebens eng gekoppelt an das Weiterleben nach einem Angriff auf die psychische und physische Unversehrtheit durch sexualisierte Gewalt. Für die neue Frauenbewegung der 70er Jahre in Westeuropa und den USA war die Auseinandersetzung mit und Thematisierung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen ein konstituierendes Element. Dieser Diskurs verlief ausgehend von der Analyse eigener Betroffenheit hin zu dem Kampf um die gesellschaftliche Verankerung des Wissens über das Ausmaß und die Folgen sexualisierter Gewalt. Der Begriff des Überlebens meint in diesem Zusammenhang konkret das Überleben von sexualisierter Gewalt in der Kindheit (sexueller Missbrauch1); Überlebensstrategien sind Bewältigungsmechanismen solcher Übergriffe.
Sexualisierte Gewalt ist in verschiedener Form und Ausprägung aus Sozialisation und Lebensalltag nicht wegzudenken. Jede Frau hat Erfahrungen in diese Richtung gemacht – sei es durch die sexualisierte Darstellung von Frauenkörpern in den Medien, die alltägliche Objektivierung auf der Straße durch Blicke, Sprüche, Antatschen oder durch verschiedene Formen sexuellen Drucks, Vergewaltigung oder das Erleben sexuellen Missbrauchs in der Kindheit. All dies lässt sich als ein Kontinuum von struktureller und sexualisierter Gewalt gegen Frauen begreifen.
Untersuchungen zur Häufigkeit sexualisierter Gewalt kommen zu dem Ergebnis, dass jede 4. bis 7. Frau vergewaltigt und jedes 3. bis 4. Mädchen sexuell missbraucht wird2. Sexuelle Übergriffe bedeuten für die Betroffenen das Erleben von Ohnmacht und Hilflosigkeit, die Enteignung des eigenen Körpers und somit die Erfahrung kompletter Fremdbestimmtheit. Dadurch, dass v.a. sexueller Missbrauch meist in engen, eigentlich vertrauensvollen Beziehungen passiert und dem Kind die Wahrnehmung abgesprochen wird, dass etwas geschieht, das nicht in Ordnung ist, sind häufige Folgen Misstrauen, Wahrnehmungs- und Selbstzweifel, Schuldgefühle und das Erleben des eigenen Körpers als etwas nicht zu sich Gehörendes und Abzulehnendes.
Überlebensstrategien nach sexualisierter Gewalt in der Kindheit
Im Zusammenhang mit solchen Traumatisierungen werden verschiedene Formen von Bewältigungsmechanismen entwickelt. Diese Überlebensstrategien lassen sich grob als innerpsychisches Erleben oder als Verhaltensweisen beschreiben, die sich als funktional erweisen, mit diesen Erfahrungen umzugehen und die Wucht der sie begleitenden Gefühle und Erinnerungen wegzudrängen bzw. ein Ventil dafür zu finden.
So wird mittlerweile von PraktikerInnen in der Entstehungsgeschichte von Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten3, dissoziativen Störungen4 sowie bei Drogenabhängigkeit (speziell bei Polytoxikomanie5) von der hohen Bedeutung traumatischer Erfahrungen ausgegangen. Frauen-Sucht-Beratungsstellen oder Therapieeinrichtungen berichten nach langjährigen Erfahrungen davon, dass kaum eine ihrer Klientinnen nicht Überlebende von sexuellem Missbrauch ist. Gemeinsam sind allen diesen „weiblichen“ Strategien der Verlust des Zuganges zu sich, den eigenen Gefühlen, Bedürfnissen, Wünschen und Grenzen, eine gestörte Körperwahrnehmung (häufig sich als viel zu dick und unförmig zu erleben) oder das Gefühl, den Körper gar nicht mehr zu spüren sowie diverse Komponenten von Autoaggressivität und des Kampfes gegen den eigenen Körper.
Essstörungen als weibliche Bewältigungsstrategie
In diagnostischen Leitlinien werden drei Formen der Essstörung voneinander unterschieden, die Adipositas (Fresssucht)6, die Anorexie (Magersucht) und die Bulimie (Fress-Kotz-Sucht). Anorexie und Bulimie beginnen meist in der Pubertät und werden durch den „ganz normalen Diätwahn“ ausgelöst, den fast jede 13/14-Jährige kennt. Die Mädchen erleben sich als zu dick und fangen an, Essen zu reglementieren. Schon die Betrachtung des typischen Beginns macht deutlich, dass es simplifizierend wäre, erlebte Traumatisierung als einzigen Erklärungsansatz heranzuziehen. Nicht jede bulimische oder anorektische Frau ist Überlebende von sexualisierter, psychischer oder physischer Gewalt – aber alle Betroffenen führen mit dieser Symptomatik eine Auseinandersetzung um ihre weibliche Geschlechtsrolle. Gerade in der Analyse von Essstörungen müssen neben traumatischen Hintergründen die gesellschaftliche Zuweisung und hierarchische Bewertung von Geschlechterrollen, darüber entstehende Idealbilder und Bewegungsräume betrachtet werden.
Bei der Magersucht wird die pubertäre Diät zur dauernden Kontrolle und Verweigerung der Nahrungsaufnahme und führt zur lebensbedrohlichen Abmagerung - mit dem gleichzeitigen, subjektiven Gefühl, viel zu dick zu sein. Feministische psychologische Interpretationen dieser Essstörung sehen darin die Ablehnung aller weiblichen Körperformen als Ausdruck der Ablehnung der geschlechtlich zugeschriebenen Rolle. Durch die absolute Kontrolle der Nahrung erlangen die Frauen das Gefühl von Autonomie und Stärke – die ihnen anders nicht zugestanden wird. Gleichzeitig wird in dem Abmagern auch die innewohnende Ambivalenz deutlich: während meist von den Betroffenen Unabhängigkeit und Eigenständigkeit betont werden, strahlt der Körper Schutz- und Hilfsbedürftigkeit aus. Im Abhungern jeglicher weiblichen Rundung liegt eine Pseudosicherheit gegenüber objektivierenden Sprüchen, Blicken und Übergriffen.
Während die Magersucht als Symptomatik seit langem bekannt ist, tauchte die Bulimie in größerem Ausmaß erst in den 80er Jahren mit dem Wandel des Bildes von und der Anforderungen an Frauen in westlichen Industrieländern auf. Bulimie ist gekennzeichnet durch regelmäßige Fressattacken, in denen viel Nahrung nahezu verschlungen und hinterher wieder erbrochen wird. Meist als das Diätmittel schlechthin entdeckt, verselbständigt sich die Symptomatik zur Suchtstruktur, die das Leben der Betroffenen bestimmt. Nicht selten erfolgen solche Attacken mehrmals täglich, die Frauen fühlen sich diesem Drang ausgeliefert und können dem nichts mehr entgegensetzen. Dies wird verheimlicht, oft weiß nicht einmal das engste Umfeld Bescheid. Auch äußerlich ist den Frauen nichts anzusehen, da der Körper bulimischer Frauen meist dem gängigen Schönheitsideal entspricht. Die Betroffenen verkörpern häufig das Ideal der „modernen Frau von heute“ – attraktiv, stark, unabhängig und erfolgreich. Parallel dazu existiert ihre abhängige, unkontrollierte und heimliche, ihre bulimische Seite. Während einerseits die Anpassung an geschlechtsspezifischen Normierungsdruck im Vordergrund steht, erfolgt andererseits die Rebellion dagegen, die aber in autoaggressiven Verhaltensweisen verharrt und nicht nach außen dringt – was wiederum eine Form der Anpassung ist.
Die anerkannte Frau ist heute beruflich erfolgreich, durchsetzungsfähig, autonom und aktiv – und gleichzeitig, je nachdem, in welcher Rolle sie gerade gefragt ist, ist sie beziehungs- und männerorientiert. Diese Anforderungen sind teilweise extrem widersprüchlich – und frau geht immer das Risiko ein, falsch zu sein, falsch zu handeln – was eine immense innere Spannung erzeugen kann. Gemeinsamer Bestandteil weiblicher Idealbilder ist, dass frau sehr genau spüren soll, was andere von ihr erwarten und sich daran ausrichten soll. Sie soll ihren Wert über die Anerkennung anderer, statt aus sich und ihrem Tun heraus beziehen. Nach wie vor steht und fällt diese Anerkennung unabhängig von jeder Rolle für Frauen mit ihrer körperlicher Attraktivität und diese ist nahezu gleichgesetzt mit Schlanksein. Das Schönheitsideal für Frauen hat sich zu einem Idealkörper entwickelt, der für kaum eine Frau ohne Diät und Hungern – und oftmals nur mit Hilfe von Saugapparaten und Silikonimplantaten – erreichbar ist. Dabei geht es nicht um einen natürlichen, sondern um einen makellos straffen, gertenschlanken und doch wohlgerundeten, letztendlich künstlichen Body. Als Paradigma der inzwischen unterschiedlichen Zivilisierungstechniken steht nicht mehr der gekleidete, physisch und unmittelbar durch das Korsett gehaltene, sondern der nackte, durch Fitness, Disziplin und Diät gezähmte Frauenkörper.
Die bulimische Symptomatik ermöglicht, optisch sowohl dem Schönheitsideal als auch dem Bild der starken Frau zu entsprechen und gleichzeitig eigene Bedürftigkeit, den Wunsch nach Anlehnung und Sicherheit über das Fressen ohne Ende zu stillen. Durch das Erbrechen großer Nahrungsmengen wird schließlich wiederum die Unabhängigkeit von solchen Bedürfnissen gewahrt. Das Erbrechen bringt eine innere Entspannung von Widersprüchen, dient als Ventil für geschluckte Wut und die Anpassung nach außen wird wieder neu möglich. Durch die Körperkontraktionen wird der für viele nicht mehr fühlbare Körper gespürt und wieder für einen kurzen Moment als zu sich selbst gehörend erlebt.
In Familien von Bulimikerinnen taucht überdurchschnittlich häufig sexueller Missbrauch auf. Über die Konzentration auf Essen und Erbrechen kann eine Betäubung, Unterdrückung und Abspaltung negativer, mit den sexuellen Übergriffen zusammenhängender Gefühle wie Angst, Ohnmacht, Wut und Schmerz erreicht werden. Das Erbrechen kann als ein symbolischer Versuch gesehen werden, sich von diesen Gewalterfahrungen zu reinigen. Der Hass und die Aggression, die eigentlich dem Täter gelten und ihm gegenüber nicht ausgedrückt werden dürfen, werden auf den eigenen Körper gelenkt.
In der Bewältigungsgeschichte ausgeprägter Essstörungen spielt das Bedürfnis, sich selbst jenseits des Normierungsdrucks zu entdecken, eine zentrale Rolle. Eigene Wünsche, Träume, Sehnsüchte, Grenzen kennen und spüren zu lernen – diese spontan nach außen zu tragen und unabhängiger vom Urteil anderer zu werden, ist für die allermeisten wesentlich gewesen, die Symptomatik hinter sich lassen zu können.
Essstörungen lassen sich jedoch nicht ausschließlich durch diagnostische Kategorien erfassen. Sich dauernd zu sorgen, zu dick zu sein und den eigenen Wert darüber zu bestimmen, immer wieder nicht bis zum Sättigungsgefühl zu essen, stolz darauf zu sein, in der letzten Woche dreimal abends nichts gegessen zu haben und sowieso seit Wochen auf Schokolade zu verzichten, sich immer wieder an Kleidergröße 36 bis 38 zu messen und eine Krise zu bekommen, wenn eine Hose nicht mehr passt – all das ist Bestandteil des Lebensalltags vieler, auch linker Frauen. Kaum eine Frau ist frei davon. Es wäre aber falsch, zu behaupten, dass essgestörtes Verhalten und die Betroffenheit von komplexen gesellschaftlichen Anforderungen und Schönheitsidealen ein ausschließlich weibliches Problem darstellen. Zunehmend verändert und verstärkt sich auch für Männer der körperbezogene Normierungsdruck. Seit einigen Jahren nimmt auch die Zahl bulimischer und magersüchtiger Männer kontinuierlich zu. Gesellschaftliche Rollenerwartungen sind auch für Männer nicht mehr eindeutig und in sich konsistent, durch Erwerbslosigkeit, einer neoliberalen Umstrukturierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen entstehen neue Anforderungen und Verunsicherungen – auch für Männer könnte die Entwicklung einer manifesten Essstörung zu einer Art der Bewältigung dessen werden.
Offensichtlich ist auch, dass Essstörungen fast ausschließlich in reichen Ländern vorkommen. Die historische und kulturelle Voraussetzung dafür, Ernährung als Konfliktlösungsstrategie einsetzen zu können, Essen zu verweigern oder dieses in großen Mengen zu verschlingen, um es hinterher wieder zu erbrechen, ist der materielle Überfluss und die beliebige Verfügbarkeit von Nahrung. Genauso benötigt ein bestimmter Körper- und Fitnesskult gute ökonomische Bedingungen. Falsch ist jedoch, in diesem Zusammenhang durch moralisierende Argumentationen die Betroffenen anzugreifen und damit deren subjektives Leid abzuwerten, da die bulimische Symptomatik eine Überlebensstrategie vor dem Hintergrund massiver Konflikte und teilweise Traumatisierungen – eben in einer Wohlstandsgesellschaft – darstellt.
Ausblick auf eine mögliche linke Politik
In linken Zusammenhängen werden Essstörungen genauso wie andere psychische Konfliktlösungsstrategien unterschätzt und tabuisiert. Besonders für die bulimische Symptomatik, das „Verschwenden von Essen“, existiert kaum Verständnis. Die Trennung von Öffentlichem und damit Politischem und Privatem ist wieder rigider geworden. Essstörungen werden als „psychische Macken“ kategorisiert und im Privatbereich verortet. Da die Heimlichkeit bei der Bulimie ein Kennzeichen der Symptomatik darstellt, besteht in einem solchen repressiven und moralisierenden Klima die Gefahr, dass die Spaltung in eine äußere angepasste Fassade und das andere, „bulimische Ich“ und damit die Isolation der Betroffenen weiter verschärft wird.
Eine Änderung dieser Situation kann jedoch nur auf der Grundlage einer selbstverständlichen und eindeutigen Positionierung zu jeder Form struktureller Gewalt erfolgen und dem Begreifen psychischer Symptomatiken als einer Konsequenz und einer Strategie des Überlebens solcher Erfahrungen. Die gesamtgesellschaftliche Tendenz eines modernisierten patriarchalen Backlash schlägt sich aber auch in innerlinken Diskussionen nieder: Frauen, die für das emotionale Klima bei Diskussionen scheinbar zufällig zuständig werden, gesellschaftliche Analysen, die uneindeutig gegenüber bis blind für strukturell und konkret gewalttätige gesellschaftliche Verhältnisse sind, Meinungen, vor allem von Jüngeren, wie „das Patriarchat gibt es nicht mehr“, Positionen, die Argumente wie „Missbrauch mit dem Missbrauch“ oder solche der „false-memory-bewegung“7 aus den USA aufgreifen8, sind linke Normalität. Auch körperlicher Normierungsdruck spielt besonders in der gemischtgeschlechtlichen Linken (wieder) eine erstaunlich große Rolle: Körper- und Fitnesskult nehmen zu, Sport hat für viele nicht mehr in erster Linie die Spaß-, sondern eher die Bodybuild-Funktion. Die Ansprüche linker Subkulturen, sich im Lebensstil und Verhalten von „den anderen“ zu unterscheiden, sind längst harter Realität gewichen – schöne neue Linke: erfolgreich, flexibel, reflektiert und optisch mit den diversen Anforderungen kompatibel. Die linke Frau ist alles andere als „ein Weibchen“, hat einen frechen Spruch auf der Lippe, macht Kampfsport und setzt sich auf jeden Fall auch durch. Anerkennung ist für alle, egal ob Mann oder Frau, immens an äußere Attraktivität gekoppelt.
Für eine Linke, die eben nicht in individualistische Zuschreibungen verfallen will, sondern das strukturelle gewalttätige Moment von Gesellschaft betont, ist es unumgänglich, über die Existenz, Gründe und Zusammenhänge von Bulimie zu diskutieren und damit eine Atmosphäre der Normalität zu prägen, die es den Betroffenen möglich macht, über ihre Probleme zu sprechen und sich Unterstützung suchen zu können. Wichtig dafür ist eine selbstverständliche und eindeutige Positionierung zu jeder Form von struktureller Gewalt und das Begreifen von psychischen Symptomatiken als eine Form von Überlebensstrategien bei solchen Erfahrungen. Ein Ansatzpunkt könnte sein, den Fokus auf das der Symptomatik innewohnende Element der Rebellion zu legen – und in engeren Kreisen mit den Betroffenen gemeinsam Strategien zu entwickeln, wie dieses Element nach außen gelangen kann. In der persönlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Sozialisation unter geschlechtsspezifischen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen, der Analyse gesellschaftlicher Strukturen und ihrer individuellen Verinnerlichung liegen Chancen dafür, die Reproduktion von Machtstrukturen zu verhindern. Da diese immer subtiler zu Tage treten, wird ein politischer Ansatz, der gesellschaftliche Stereotypen offensiv angreift und im politischen Alltag anders lebt, wie dies beispielsweise schon in der Transgender-Bewegung versucht wird, immer wichtiger.