„…und der Staat ist kein Traum, sondern bleibt wie mein Kissen, ein mich gestaltender, die Fäden, die rissen und Welt verwaltender Zustand, der sich durch mich und mich bewegt…“
Blumfeld
„In dem ersten Stein, den der Wilde auf die Bestie wirft, die er verfolgt, in dem ersten Stock, den er ergreift, um die Frucht niederzuziehn, die er nicht mit den Händen fassen kann, sehn wir die Aneignung eines Artikels zum Zweck der Erwerbung eines andren und entdecken so - den Ursprung des Kapitals.“ Diese Bemerkung des englischen Ökonom Robert Torrens nimmt Marx zum Anlass, um, wie so oft, die moderne bürgerliche Theorie zu verhöhnen: „Aus jenem ersten Stock ist wahrscheinlich auch zu erklären, warum stock im Englischen synonym mit Kapital ist.“ (MEW Bd.23: 199, Fn 9) Für das bürgerliche Bewusstsein hat der Mensch immer schon in Formen des Kapitalverhältnisses gewirtschaftet, gearbeitet und auch der Staat ist eigentlich immer schon da – eine dem Menschen natürliche Existenzweise. Nicht ohne Grund wurde Platons Politeia, geschrieben 387 Jahre v.u.Z., mit Titel „Der Staat“ übersetzt. Betrachtet man das, was als „Staat“ bezeichnet wird, etwas genauer, so stellt man fest, dass es „für uns“ vielleicht ein Staat ist. Genaugenommen hat es aber mit all dem, was wir heute als bürgerlichen Staat kennen, nichts zu tun. Bei Marx findet sich im dritten Band des Kapitals die kluge und anregende Bemerkung, dass die Form der Ausbeutung, das Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten, die politische Form der Souveränitäts- und Abhängigkeitsverhältnisse, kurz die spezifische „Staats“form bestimmt (vgl. MEW Bd.25: 799f.).
Im Unterschied zu den mittelalterlichen Leibeigenen, die in einem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis zu „ihrem“ Grundherrn standen, der dieses Verhältnis notfalls mittels eigener Gewalt durchsetzte, treten die modernen LohnarbeiterInnen den KapitalistInnen als formell freie und gleiche EigentümerInnen gegenüber. Die vereinzelten Einzelnen sind auf der einen Seite ökonomisch als PrivateigentümerInnen über das Geld und auf der anderen Seite politisch als StaatsbürgerIn mittels des Rechts Teil der Gesellschaft. Ökonomie und Politik stellen zwei relativ voneinander getrennte Sphären dar, ohne steuerndes oder herrschendes Subjekt. Dennoch sind beide „Sphären“ strukturell aufeinander verwiesen. Kein Kapitalismus ohne bürgerlichen Staat und kein bürgerlicher Staat ohne Kapitalverhältnis. Aber weder das eine noch das andere sind vom Himmel gefallen, noch ein Ausgeburt einer intellektueller Leistung.
Frühbürgerliche Theorie: Machiavelli
Bürgerliche Staatstheorien reflektieren einen gewissen Durchsetzungsgrad des Kapitalverhältnisses und die damit verbundenen Verhältnisse, die die Gesellschaft als solches strukturieren.
Der Kapitalismus fand u.a. seinen historischen Anfang in den italienische Stadtrepubliken, die mit ihrer Dominanz in der Region die feudalen Strukturen zersetzten. Wahrgenommen wurde dieser Prozeß als Zerfall und Krise der gesellschaftlichen Ordnung. Zu dieser Zeit formulierte Niccolo Machiavelli (1467-1527) ein „Handbuch“ für politische Herrschaft: „il principe“. Machiavelli ist deshalb so interessant, weil bei ihm davon gesprochen werden kann, dass Gesellschaft und Politik als voneinander relativ getrennten Sphären konzipiert sind. Die Politik tritt in Form der absoluten Macht des Staates, die sich nicht nur aus sich selbst begründet, sondern sich selbst zum Zweck hat, als Souveränität auf. Religiöse und mittelalterliche Weltvorstellungen werden aufgesprengt, keine Heilserwartungen strukturieren die Gesellschaftsordnung und es bedarf keines legitimatorischen Bezugs auf Gott mehr. Vielmehr versucht Machiavelli die politische Macht von Moral zu befreien. Die Welt wird als machtstrukturierte Immanenz verstanden. Da Machiavellis’ Schriften anwendungsorientierte Herrschaftspraxis vermitteln will, geht er davon aus, dass die Prinzipien immer den konkreten Umständen adäquat sein müssen. Fuchs und Löwe als emblematische Tiergestalten verbildlichen die Herrschaftspraxis von Gewalt und Zustimmung. Religion spielt hierbei für Machiavelli als Herrschaftsinstrument für die Legitimation des Souveräns eine zentrale Rolle. Eine theoretische Figur, die der Marxist Gramsci später wieder aufnehmen wird. Auch wenn der Fürst das besitzende Bürgertum gegen fremde Mächte und den Papst organisieren soll, gibt es noch kein imaginiertes, mit Naturrechten ausgestattetes Volk als Souverän.
Vertragstheorien: Hobbes, Locke und seine Freunde
Den folgenden bürgerlichen Staatstheorien lag die Konstruktion von Gesellschaftsverträgen zugrunde, die wiederum auf erklärungsbedürftige Voraussetzungen verweisen: Das gleichwertige Individuum und das Individuum überhaupt. Es ist durchaus nicht selbstverständlich, dass sich die Menschen als Subjekte verstehen und obendrein als gleichberechtigte. Nicht nur in der Erkenntnistheorie und der Theologie, sondern auch in der Kunst wurde das Individuum entdeckt. Künstler begannen erstmals ihre Gemälde mit ihrem Namen zu signieren, die Möglichkeit der Erkenntnis wurde in das Bewusstsein isolierter Subjekte verlegt und aus traditionellen Normensystemen herausgelöst. Damit geht die theoretische Trennung von Körper und Geist einher, die erst wieder mit Merleau-Ponty und Foucault den Versuch der Aufhebung erfährt. Mit zunehmender Säkularisierung und Herausbildung des Kapitalismus – Handelskapital in Holland und Landwirtschaft in England – entstand ein neues Subjekt: Der (männliche) Besitzindividualist. Herausgelöst aus traditionellen Formen der Vergesellschaftung setzte eine „negative Vergesellschaftung“ ein, als Bezug auf eine allgemeine Gewalt (Geld und politisch transformierte Form: Staat). Gesellschaft kommt, wie Ralf Dahrendorf es einmal formulierte, erst hinterher als ärgerliches Faktum ins Spiel.
Der erste, der eine Form des Gesellschaftsvertrags formulierte, war Thomas Hobbes (1588-1679). Vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkriegs und der Säkularisierung der Herrschaft stellten sich für ihn zwei Probleme: Erstens die Bedingung der Möglichkeit von Frieden, mit welchem, so Hobbes, erst Künste und Wirtschaften möglich seien. Zweitens die Notwendigkeit einer legitimen weltlichen Herrschaft, nachdem in England das aufstrebende Bürgertum zusammen mit dem Königtum den Adel, aber auch die Kirche entmachtet hatte.
Die Grundfigur aller Gesellschaftstheorien ist ein imaginierter Naturzustand und ein Vertrag der vereinzelten Einzelnen untereinander (Gesellschaftsvertrag) oder mit der allgemeinen Gewalt (Herrschaftsvertrag). Bei Hobbes ist der Naturzustand konstruiert über die Gleichheit der Individuen im Selbsterhaltungstrieb als Konkurrenten. Ganz offensichtlich ist bei Hobbes der Bezug auf das besitzende Bürgertum. In diesem Zustand der Konkurrenz ist jeder Mensch dem andern ein Wolf. Ein Verweis darauf, dass Hobbes noch in feudalen Verhältnissen steckt, ist, dass nicht nur die ökonomische Konkurrenz, sondern auch die Ruhmsucht als Konfliktursache gewertet wird. Erst die Todesfurcht und das Bedürfnis nach einem angenehmeren Leben bringt die Menschen dazu, aus ihrem „Naturzustand“ herauszutreten und mit Verstand zu reflektieren. Durch Naturalisierung dieses Zustandes ist eine Kritik der Verhältnisse ausgeschlossen. Hobbes schließt daraus vielmehr die Notwendigkeit einer allgemeinen Gewalt: „Verträge ohne Schwert sind bloße Worte“, so Hobbes. Der Staat ist aber nicht Vertragspartner, vielmehr geben die Menschen alle ihre Rechte an ihn ab, der sich erst dadurch konstituiert. Vor dem Staat gibt es weder Recht, Eigentum, noch „gut“ und „böse“. Das einzige Recht ist das über das eigene Leben und damit – und hier ist Hobbes beinahe wieder fortschrittlich – auch das Recht zur Feigheit im Krieg: Desertion. Der Staat ist als geschaffener „sterblicher Gott“ immer Mittel, nicht Selbstzweck und seine „Künstlichkeit“, seine vom Menschen geschaffene Natur offensichtlich. Ist es dem Staat nicht möglich, das Leben der BürgerInnen zu garantieren, haben diese das Recht auf Widerstand. Mit der Unterscheidung von öffentlicher (Staat) und privater (Eigentum) Sphäre, die sich bis heute hält, ist Hobbes im eigentlichen Sinn der erste Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft.
Auch John Locke (1632-1704) rekurriert auf einen Naturzustand. Allerdings vor einem anderen gesellschaftlichen Hintergrund. Das Bürgertum saß bereits fester im Sattel, kapitalistische Warenproduktion, vertiefte gesellschaftliche Arbeitsteilung und Lohnarbeit waren durchgesetzt1. Das Kapitalverhältnis und der „stumme Zwang der Verhältnisse“ (Marx) hatten persönliche Abhängigkeitsverhältnisse weitgehend abgelöst. Locke erkennt, dass die Ware Lohnarbeit zirkuliert. Deren Eigentümer sind aber nur Objekt der Handlung von Staat und Bourgeoisie. Prekär war immer noch die Form der weltlichen Herrschaft, weshalb für Locke Katholiken und Atheisten keine Toleranz verdienten. Diese stellten die politische Herrschaft in Frage. Der Naturzustand bei Locke ist in zwei Phasen unterteilt. In beiden haben die Menschen natürliche Rechte. Zum einen an sich als Person, zum anderen am Resultat ihrer Arbeit: Die Arbeit entreißt das Bearbeitete der Natur und überführt es in individuelles Privateigentum, wobei für Locke klar ist, dass das Resultat fremder Arbeit immer dem Bourgeois gehört. Der Mensch wird naturalisiert als immer schon arbeitender Privatbesitzer. Ebenso die soziale Ungleichheit. Die zweite Phase des Naturzustands ist durch das Geld als stillschweigende Übereinkunft geprägt, welche in der ersten noch nicht existiert. Erst mit ihm kann das Resultat der Arbeit die Zeit überdauern und ist somit die Bedingung der Möglichkeit unbegrenzter Akkumulation, die ohne Wertspeicher nicht möglich war. Im Geld sieht aber Locke auch ein Zerstörungspotential, ein Motiv, dass sich seit den Griechen hält. Das Privateigentum selbst ist zwieschlächtig. Zum einen ist es Grundlage von Freiheit und Gleichheit, auf der anderen Seite Ausgangspunkt der Konkurrenz, vermittelt über das Geld. Die gnadenlosen Konkurrenz lässt das Eigentum wiederum prekär werden. Hier kommt der Staat ins Spiel. Anders als bei Hobbes haben bei Locke die Menschen bereits vor dem Gesellschaftsvertrag Rechte, die sie dem Staat in beschränktem Maße übertragen: Der Staat soll im wesentlichen das Eigentum garantieren. Öffentliche Gewalt soll sich nur auf gemeinsames Wohl der Besitzindividualisten erstrecken und keine weiteren Aufgaben übernehmen. Hier wird besonders deutlich, dass die bürgerlichen Verhältnisse bereits gefestigter sind. Neben der Konkurrenz existiert bereits der Staat als Bedrohung willkürlicher und „übermäßiger“ Eingriffe in Eigentumsrechte. Deshalb ist Locke ein radikaler Kritiker der Monarchie, wenn auch kein Demokrat. Die Bourgeoisie soll die Staatsform selbst wählen können, ebenso wie sie das „Recht auf Revolution“ hat, wenn der Staat seinen (beschränkten) Aufgaben nicht nachkommt. Erstmals wird eine Gewaltenteilung gedacht. Neben der Legislative, die die primäre Gewalt darstellt, soll es eine Judikative, aber keine Exekutive geben.
Mit Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) erreicht die Diskussion ein neues Reflexionsniveau und auch erstmals eine radikaldemokratische Wendung, die auch immer wieder in der Linken aufgenommen wurde. Aber auch er kommt nicht ohne imaginierten Naturzustand aus. Im Gegensatz zu Hobbes geht er von einer völlig friedlichen und einträchtigen Menschennatur aus. Trotzdem kommt Rousseau zu seinem berühmt gewordenen Befund: „Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Ketten“. Mit dieser Ausgangsfeststellung verschiebt sich eine bis dato durchgehaltene Theoriegrammatik: Privateigentum ist aller Übel Anfang und gleichzeitig vom Menschen selbst in die Welt gesetzt. Damit wird Eigentum historisiert, in der gesellschaftlichen Ordnung verortet und der scheinbaren Natürlichkeit entzogen. Ebenso gesellschaftliche Ungleichheit. Ein verstärkter Legitimationsdruck der gesellschaftlichen Stellungen wird freigesetzt. Weder Eigentum noch Ungleichheit sind bei Rousseau einfach gegeben. Damit geht es ihm auch nicht mehr um einen Gesellschaftsvertrag schlechthin, sondern um einen gerechten. Es stellt sich für ihn die Frage, wie der Mensch unter der Bedingung von Knechtschaft als „frei“ vorgestellt werden kann. Deshalb ist Rousseau auch einer der ersten, der das Spannungsfeld problematisiert, das für jede weitere Diskussion um Demokratie prägend sein wird: Der Widerspruch zwischen einem abstrakten Allgemeinwohl und den Einzelinteressen der Individuen und die damit verbundene Frage, wie Beherrschte und Herrschende zusammenfallen können. Aber um es noch einmal festzuhalten: Hier geht es nicht um den Menschen schlechthin. Partizipation und Demokratie sind noch kein Selbstzweck. Rousseau ist ein aufklärerischer Denker in einer historischen Situation, in der die Bourgeoisie an Selbstbewusstsein gewinnt und die ersten „organischen Intellektuellen“ (Gramsci) herausbildet2. Rousseau ist Sprachrohr des Kleinbürgertums und seine Kritik gilt dem Luxus und politischen Struktur des „Ancien Regime“. „Habenichtse“ werden als politische Subjekte nicht ernst genommen. Da Gemeinwille und individueller Wille zusammenfallen müssen – was er unter Selbstgesetzgebung versteht – darf es keine Parteien geben, keinen Kollektivwillen und keine Repräsentanzverhältnisse. All diese Formen würden die Souveränität zersetzen. Ein Anspruch, der nur in einer Kleinstgemeinschaft zu verwirklichen sei. Diese schwebt Rousseau auch immer vor: Eine politische Gemeinschaft von Kleinstproduzenten und Eigentumsbesitzern3, weshalb er den Staat immer auch als politisches Subjekt, als souveräne Einheit versteht. Die Einheit von Einzelinteressen und Allgemeinwohl denkt Rousseau, indem er einen immer schon tugendhaften Menschen voraussetzt4. Obwohl bei Rousseau die Allgemeinheit nicht über alles greift, gibt es kein Kriterium, wo diese zu enden hat. Denn wer bestimmt, was Allgemeinwohl ist und welche Konsequenzen für die zu ziehen sind, die nicht „identisch“ sind? Für Atheisten wusste Rousseau bereits eine Antwort: die Todesstrafe. Mit Rousseau verändert sich auch der Revolutionsbegriff: Während bei Locke noch Rechte durch eine Revolution erhalten werden sollen, ist hier die Konnotation eindeutig darauf gelegt, etwas Neues zu schaffen.
Im Anschluss an Rousseaus normativer Grundlage verselbstständigte sich unter Robbespiere in der französischen Revolution die Exekutive der Wohlfahrtsausschüsse. Die Vorstellung der Jacobiner einer guten Ordnung und Robbespieres Tugenddiskurs setzte den bekannten Terror gegen alles Nicht-Identische frei. Nicht ganz zu unrecht hieß die Guillotine die „Sichel der Gleichheit“.
Ein Grund, warum selbst begeisterte Anhänger der französischen Revolution wie Hegel das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem neu denken mussten. Dreh- und Angelpunkt ist bei G. W. F. Hegel (1770-1831) der Begriff der Freiheit. Das bedeutet, dass das Besondere im Allgemeinen nicht verloren, sondern sich wiederfinden wird. Frühbürgerliches Denken unterschied nicht explizit zwischen Staat und Gesellschaft, auch wenn einige Anzeichen herauszulesen waren (z.B. bei Machiavelli). Vertragstheorien stellen vor Hegels theoretischer Matrix eine „Willensillusion“ dar. Bei Hegel wird – nicht zuletzt aufgrund seiner Kenntnis der Theorie der politischen Ökonomie – der Staat klar als vermittelndes Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft eingeführt, als Sphäre der gegenseitigen Anerkennung der konkurrierenden Individuen. Gleichzeitig wird diese abstrakte Form gesellschaftlicher Allgemeinheit als Herrschaft des Weltgeistes verklärt. An diesem Punkt wird Marx mit seiner Kritik ansetzen.
Vernunftstaat und Klassenstaat – Staat als Subjekt oder Instrument: sozialistische Staatstheorien
Der Hegelianismus als staatstragende Philosophie war intellektueller Zeitgeist Preußens. Aber allein dass Friedrich Wilhelm IV. von Preußen den Hegel-Gegner Schelling nach Berlin auf den Philosophie-Lehrstuhl rief, um die vermeintlichen Schäden, die Hegels Philosophie verursacht hatte, wieder gut zu machen, zeigt, dass diese nicht im preußischen Staat aufgeht. Gleichzeitig war sie Grundlage des sogenannten Linkshegelianismus und auch Ausgangspunkt Marx’ intellektueller Entwicklung. Karl Marx (1818-1883) sah in der offiziellen Auslegung Hegels, der bis zu seinem Tod auf die französische Revolution mit Sekt anstieß, nur eine Apologie des Bestehenden. Die Wirklichkeit wurde mit der Vernunft versöhnt. Dem hielten die Junghegelianer entgegen, dass die Existenz sowohl des Staates als auch der gesellschaftlichen Verhältnisse sich nicht mit der Vernunft decke. Vielmehr sei die Verwirklichung der Philosophie, also der Vernunft, die politische Aufgabe. Hier liegt die Grundlage des frühen Marxschen Denkens. Der Modus war die Kritik: Religionskritik, Kritik der Politik und des Staates. „Es ist die Kritik, die die einzelne Existenz am Wesen, die besondere Wirklichkeit an der Idee misst.“ (MEW Bd.40: 327) Die Theoriematrix von Marx war der Widerspruch zwischen Wesen und Existenz, Idee und Wirklichkeit. Die Kritik sollte dazu dienen, den Wesensbegriffen einen realen Inhalt zu geben. In seinen frühen Jahren teilte er die an Hegel anknüpfende Vorstellung eines über den Klassen stehenden, nur dem Allgemeininteresse verpflichteten Vernunftstaats, in dem sich das Wesen des Menschen, die Freiheit, verwirklichen soll. Ganz euphorisch spricht er von der Demokratie als „das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen“ (MEW Bd.1: 231). Die Entdeckung der Objektivität der gesellschaftlichen Verhältnisse brachten Marx dazu, sich mit Ökonomie zu beschäftigen (Debatte um die Landesstände über das Holzdiebstahlgesetz). Damit setzte Marx’ erste große theoretische Krise ein. Die Ideen mussten an der Wirklichkeit scheitern. Als Feuerbacherianer, als welcher Marx sich nach dieser Krise verstand, sollte der Staat jetzt nicht einfach die Verwirklichung der menschlichen Freiheit herbeiführen, sondern die Verwirklichung des menschlichen Wesens. Marx’ Anthropologie (vor den Thesen über Feuerbach) ging davon aus, dass über die Reform des Bewusstseins das wirklich Vernünftige hervorgebracht werden könnte. Später formuliert Marx es allgemeiner: Es müsse darum gehen, den Menschen von der Entfremdung zu befreien.
Für eine heutige Staatskritik ist außer dem Gestus der radikalen Kritik der bestehenden Verhältnisse nicht weiter daran anschließbar - am ehesten noch in tagespolitischen Auseinandersetzungen, wobei auch hier nicht unmittelbar. Auch darf nicht der Fehler gemacht werden, für konkrete Situationen gefällte Urteile, die Marx meist selbst revidierte, zu allgemein gültigen theoretischen Sätzen zu erheben. So reduzieren Marx und Engels im Manifest der kommunistischen Partei die „moderne Staatsgewalt“ auf einen „Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“ (MEW Bd.4: 464), wobei sich darüber streiten ließe, in wie weit der Begriff des „Ausschlusses“ wörtlich zu verstehen ist oder vielmehr eine metaphorische Anspielung auf die Wohlfahrtsausschüsse in Frankreich ist.
In der Auseinandersetzung um den Staatsstreich vom Dezember 1851 in Frankreich zeigt sich eine Differenzierung des Bildes. Hier geht Marx in der Analyse der konkreten Verhältnisse von einem Gleichgewicht sozialer Kräfte aus. Die Bourgeoisie verzichte, um ihre soziale Macht zu erhalten, auf die politische Macht. Dadurch verselbständige sich die Exekutive unter Louis Bonaparte als Diktator. Eine Analyse, die die KPO als Folie für die Analyse des Faschismus heranzog. Bei der Analyse der Pariser Kommune (März bis Mai 1871) hebt er den historischen Verdienst hervor, die politische Form der Klassenherrschaft zerschlagen zu haben. Hier taucht auch der Begriff der „Diktatur des Proletariats“ auf, der in der Geschichte des Marxismus als formelhafte Phrase tiefere theoretische Reflexion ersetzt. Marx macht in seiner Auseinandersetzung die Unmittelbarkeit der Räte stark, die „endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte“ (MEW Bd.17: 342). Dies macht deutlich, dass Marx eine einfache Übernahme des Staatsapparats ausschloss.
Im Kapital finden sich nur sporadisch Äußerungen zum Staat, so im achten Kapitel zur englischen Fabrikgesetzgebung zur gesetzlichen Verkürzung des Arbeitstages („erste bewusste und planmäßige Rückwirkung der Gesellschaft auf die naturwüchsige Gestalt ihres Produktionsprozesses“ (MEW Bd.23: 504)) oder im 24. Kapitel zur Rolle staatlicher Zwangsgewalt bei der ursprünglichen Akkumulation. Im dritten Band äußert sich Marx zu Staatspapieren und darüber, aus welchem gesellschaftlichen Verhältnis die spezifisch politische Gestalt entspringt (vgl. MEW Bd.25: 799f.). In den "Grundrissen" finden sich längere Passagen zur Rolle des Staates bei der Entwicklung der Infrastruktur eines Landes (vgl. MEW Bd.42: 437ff.). Zu einer zusammenhängenden Analyse des bürgerlichen Staates kam es nicht mehr. Daran führen auch keine eklektizistischen Zitatensammlungen vorbei, die der Linken immer wieder Selbstvergewisserung stiften mussten.
Friedrich Engels (1820-1895), Marx’ langjähriger Freund, verfasste gegen seinen eigenen Willen den Anti-Dühring, der später zu einer Art „marxistischen Bibel“ wurde. In dieser Schrift und in „Zum Ursprung der Familie“, die er nach Marx Tod schrieb, äußert er sich expliziter zum Staat als Marx. Hier sind auch die verkürzten Vorstellung von Staat und Sozialismus im allgemeinen „der“ ArbeiterInnenbewegung und später von Lenin angelegt. Nach Engels hat der Staat die Funktion, die Klassengegensätze im Zaum zu halten. Er sei Instrument der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die mittelst ihm auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse. „So war der antike Staat vor allem Staat der Sklavenbesitzer zur Niederhaltung der Sklaven, wie der Feudalstaat Organ des Adels zur Niederhaltung der leibeignen und hörigen Bauern und der moderne Repräsentativstaat Werkzeug der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital“ (MEW Bd.21: 166f.) ist. Damit geht die Spezifik des bürgerlichen Staates als „subjektlose Gewalt“ (Gerstenberger) verloren. Gleichzeitig müsse der Staat die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechterhalten, gegen alle Klassen als „ideeller Gesamtkapitalist“. Der Staat wird mit weiterer Vergesellschaftung von Produktivkräften und Staatseigentum zum realen Gesamtkapitalist: Ein Stichwort, das Lenin wieder aufnimmt. Bei Engels ist der Hauptwiderspruch der von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung auf der Grundlage der juristischen Eigentumsverhältnisse, was sich in der marxistischen Tradition ab der Zweiten Internationalen durchhalten wird. „Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum.“ (MEW Bd.20: 261) Mit dem Ende der Klassen gibt es auch keinen Staat mehr. „Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen“. (MEW Bd.20: 262) Ausgeblendet wird die Frage nach der Organisationsform und damit das Problem, dass aus der Verwaltung selbst Herrschaft entspringen kann. Dies zeigte später Max Weber.
Sozialdemokratischer Vernunftstaat, das Rad der Geschichte und Klassenkampf
Auf Ferdinand Lassalle (1825-1864), den Begründer der Deutschen Sozialdemokratie, geht die Staatszentriertheit und der Umverteilungsdiskurs zurück, den schon Marx in der Kritik des Gothaer Programms kritisierte. Im sich noch nicht vollständig durchgesetzten Kapitalismus wird Kritik an demselben, so auch bei Lassalle, aus vorkapitalistischen Vorstellung gespeist: Angegriffen werden persönliche Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse, ständische Schranken und unrechtmäßige Bereicherung5. Dem Staat schreibt Lassalle eine sittliche Natur, die „sittliche Idee des Arbeiterstandes“ zu, dessen Funktion es sei, zur Freiheit zu erziehen. Staatsmacht wird so zum Metasubjekt des gesellschaftlichen Prozesses. Das parlamentarische Wahlrecht bezeichnet er als soziales und als Grundprinzip des demokratischen Kampfes.
Für Eduard Bernstein (1850-1932) war eine Abkehr von der Verelendungs- und Zusammenbruchstheorie von August Bebel (1840-1913) und Karl Kautsky (1854-1938) notwendig. Es dürfe nicht darum gehen, auf den großen „Kladderadatsch“ (Bebel) zu warten oder in einen „revolutionärer Attentismus“ (Groh), wie Kautsky mit seinem ökonomistischen Determinismus, zu verharren. Vielmehr müsse eine evolutionäre Gesellschaftsumwälzung stattfinden. Diese sei gerade aufgrund der Stärke der ArbeiterInnenklasse möglich. Im Mittelpunkt steht die immer weitergehende Demokratisierung und Teilhabe an der Gesellschaft. Dies sei über eine plurale demokratische Gegenmacht qua Stimmzettel und Selbstverwaltung zu erreichen. Die von Marx vorgelegte Demokratiekritik, die Freiheit und Gleichheit gerade als Formprinzip des Kapitalismus dechiffriert, wird für Bernstein Medium und Mittel der Emanzipation.
Rosa Luxemburg (1870-1919) dagegen formulierte eine Theorie des Klassenkampfs. Nicht durch Wahlen, sondern durch die „Ausweitung und Radikalisierung der Massenkämpfe soll die etatistische Integration der Arbeiterbewegung noch einmal aufgebrochen werden und ein systemtranszendierender, kollektiver Lernprozess initiiert werden.“ (Heidt 1998: 405) Gerade durch die Fokussierung auf die politische Form (Staat) sei eine organisatorische und kämpferische Trennung in Partei und Gewerkschaft erfolgt. Das Parlament sei auch durch die Verallgemeinerung von politischen Beteilungsrechten kein Medium der Gesellschaftsveränderung, vielmehr Tribüne für klassenbewusste Aufklärung der Massen. Im Mittelpunkt müsse – im Gegensatz zu Lenins Vorstellungen – die proletarische Autonomie der Bewegung und die Notwendigkeit der Überwindung von Staatlichkeit in der neuen Gesellschaft stehen. Luxemburg betont hierbei immer den postpolitischen Charakter der sozialen Emanzipation.
Imperialismus, Staatsmonopolistischer Kapitalismus und Revisionismus
Obwohl auch W. I. Lenin (1870-1924) in der bürgerlichen Demokratie nichts anderes als einen Betrugscharakter zu erkennen glaubt, kommt er aufgrund seiner Analyse des konkreten Kapitalismus zu anderen Einschätzungen in bezug auf den Staat: nämlich Imperialismus. Die These ist, dass Marx nur den Kapitalismus der Manufakturperiode und den Konkurrenzkapitalismus analysiert hätte und erst Lenin den „gegenwärtigen“ Monopolkapitalismus als das höchste und letzte Stadium des Kapitalismus. Über die Herausbildung von Monopolen verwandele sich die freie Konkurrenz in eine monopolistische Konkurrenz. Diese These war innerhalb der Sozialdemokratie weitverbreitet und auch Lenin bezog sich in seinen Ausführungen wesentlich auf Rudolf Hilferdings’ (1877-1941) These des Monopolkapitals - wobei dieser von einem geradezu automatischen Hinübergleiten zum Sozialismus ausging. Lenin dagegen teilte zwar die Aussagen zu den strukturellen neuen Qualitäten und damit neuen Voraussetzungen für einen Übergang zum Sozialismus, hielt aber an einem gewaltsamen und revolutionären Umsturz fest. In dieser Phase des monopolistischen Kapitalismus ist die Warenproduktion, „obwohl sie nach wie vor ‚herrscht‘ und als Grundlage der gesamten Wirtschaft gilt, in Wirklichkeit bereits untergraben“. (LAW Bd.2: 666) An die Stelle des Wertgesetzes treten unmittelbare Herrschaftsverhältnisse und die damit verbundene Gewalt (ebd: 667) als Vermittlung der Reproduktion. Damit verschmelze politische und ökonomische Macht in einer spezifischen Weise, die ein neues Verhältnis von Politik und Ökonomie bedeute und eine Steuerungs- und Planungsmöglichkeit freisetze, die es zu erobern gilt. Nicht ohne Grund sah Lenin in der Deutschen Post der damaligen Zeit ein Vorbild für die sozialistische Wirtschaft. Dieser Neutralitätsgedanke der technischen Organisation der Produktion spiegelt sich in der Vorstellung zum Staat wider. Im Anschluss an Engels Ausführungen ist für Lenin in "Staat und Revolution" (1916) der Staat Werkzeug und Organ der Klassenherrschaft, unabhängig von seiner politischen Form.
Der ambivalente Charakter der Leninschen Theorie resultiert daraus, dass die Texte sich meist auf konkrete und strategische Handelungskontexte bezogen, die im Marxismus-Leninismus dagegen zu allgemeingültigen Formeln wurden. In aller erster Linie war Lenin Revolutionstheoretiker. Erst mit der Notwendigkeit aus der Praxis heraus machte sich Lenin Gedanken zum Verhältnis von Staat und Revolution. Während er vor der Oktoberrevolution durchaus von der Zerschlagung des Staates sprach, was er selbstkritisch als anarchistische Entgleisung bezeichnete, rückte mit den praktischen Erfordernissen der instrumentelle Charakter in den Vordergrund: „Die Sozialisten treten für die Ausnutzung des modernen Staates und seiner Institutionen im Kampf für die Befreiung der Arbeiterklasse ein sowie für die Notwendigkeit, den Staat als die eigentümliche Form des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus auszunutzen. Eine solche Übergangsform, ebenfalls ein Staat, ist die Diktatur des Proletariats.“ (LW Bd.23: 165f.)
Die Debatten in der Weimarer Republik waren – nicht zuletzt auf Grund des Drucks, den die Oktoberrevolution ausübte – geprägt von Kontroverse um die parlamentarische Demokratie und deren Integrationsleistung. Diese Debatten wurden nicht nur innerhalb der radikalen Linken geführt, sondern auch in sozialdemokratischen und linksliberalen Kreisen, die besonders nach der Zerschlagung der ArbeiterInnenklasse im Nationalsozialismus zu Anfang der Bundesrepublik eine wesentliche Rolle spielte, da eine radikale Kritik des Parlamentarismus nicht mehr sozial verankert werden konnte. Stattdessen wurde die Hoffnung auf eine politische und soziale Transformation der Gesellschaft auf der Grundlage des Grundgesetzes gesetzt. So bei Wolfgang Abendroth (1906-1985), der einige Überlegungen von Hermann Heller (1891-1933) aufnahm. Der demokratische Verfassungsstaats wird hier verstanden als Wirkungseinheit der Konfliktaustragung und -veränderung, als Einheit durch Repräsentanz der Interessensgegensätze. Das Verständnis eines „sozialistischen Rechtsstaates“ sollte eine gerechte Ordnung der Wirtschaft und die Einschränkung des Privateigentums garantieren. Kapitalismus und Demokratie seien nicht vereinbar. Auch hier fand eine Reduzierung des Privatcharakters der kapitalistischen Produktionsweise auf die juristischen Eigentumsverhältnisse statt. „Die von der modernen Gesellschaft hervorgebrachten demokratischen Verkehrsformen werden in Widerspruch gesetzt zu der ihnen vorausgehenden, der konstituierenden ökonomischen Basisstruktur. In der Verkennung des inneren Zusammenhangs von politischer Freiheit und ökonomischer Zwangsgesetzlichkeit entsteht die illusionäre Hoffnung, durch die Ausweitung der demokratischen Diskursformen und Kontrollmöglichkeiten den Selbstlauf des marktwirtschaftlichen Prozesses durchbrechen zu können.“ (Heidt 1998: 414)
Die Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus (StaMoKap) schloss nach dem Zweiten Weltkrieg an Lenin an. Allerdings wurde der Begriff erst auf einem Treffen der KPs 1960 in der UdSSR offiziell eingeführt und nach und nach Allgemeingut des Marxismus-Leninismus jeglicher Couleur. Auch in der Bundesrepublik war es ein breites Spektrum, das sich affirmativ, wenn auch unterschiedlich auf diesen Ansatz bezog. Von der DKP und ihren SympathisantInnen, über die Jungsozialisten bei der SPD bis hin zur akademischen Linken wie Jörg Huffschmid, Stichwortgeber in der Re-Regulierungsdebatte und Mitbegründer von ATTAC Deutschland (vgl. Huffschmid 1995). Selbst der Antonio Negri der siebziger Jahre kann in gewisser Weise hier hinzugezählt werden, wobei als Schlussfolgerung nicht die Eroberung des Staates, sondern mit dem Angriff auf das Herz des Staates zugleich das Gravitationsfeld der ganzen Gesellschaftsverhältnisse getroffen werden sollte. Nach dem Niedergang der westlichen KPs und dem Kollaps des realexistierenden Sozialismus sind weitere intensive Auseinandersetzungen ausgeblieben. Wenn auch heute immer noch implizit Vorstellungen des StaMoKap bei politischen Gruppen vorherrschen, ohne dass diese sie bewusst reflektieren. Nicht nur die unterschiedlichste Auslegung, sondern auch dass die Theorie immer wieder modifiziert wurde und werden musste, macht es schwierig, von einem kohärenten Paradigma zu sprechen. Um an Lenins’ Konzeption der „Fäulnis“ und des Niedergangs festhalten zu können, wurde von einer immer noch anhaltenden allgemeinen Krise ausgegangen. Kurz: Mit der zunehmenden Monopolisierung kann der Kapitalismus nur noch über politische Herrschaft aufrecht bzw. funktionsfähig gehalten werden. Damit tritt der Staat als „ökonomische Potenz“ auf. Es geht aber nicht einfach nur um die subjektive Steuerungsfähigkeit des Staates, sondern um eine qualitativ neue Form der kapitalistischen Regulierung und letztendlich um ein qualitativ neues Verhältnis von Ökonomie und Politik. Diese schreiben wieder die strukturellen Ausgangsbedingungen für politische Strategien vor: Zum einen entstehen neue Bündnisformen, die sich allein in Opposition zu monopolistischen Kapitalien formieren (antimonopolistische Bündnisse), zum anderen ist in das neue Verhältnis von Ökonomie und Politik der Übergang zum Sozialismus bereits eingeschrieben, da der staatsmonopolitische Kapitalismus ungewollt und objektiv bereits die materielle Vorbereitung des Sozialismus leistet. Damit ist die Eroberung durch die Arbeiterklasse und seine Instrumentalisierung für deren langfristige sozialistische Ziele prinzipiell möglich. Mit der diskursiven Dominanz des Marxismus-Leninismus wurden aus einigen strategisch-taktischen Aussagen verschiedener Autoren ein kanonisiertes Dogmengebäude. Unklar bleibt das Spezifische des kapitalistischen Klassenstaates gegenüber anderen „Staaten“ und damit die Begründung des Staates als einer Instanz neben und außerhalb der Gesellschaft. Des weiteren wird der bürgerlichen Wissenschaft die Trennung von Politik und Ökonomie, weil einfach vorausgesetzt reproduziert, die Vorstellungen vom Staat als Instrument und einer voluntaristischen Vorstellung staatlicher Macht Vorschub leistet, vorgeworfen.
Die Staatsableitungsdebatte
Die sogenannte Staatsableitungsdebatte begann Anfang der siebziger Jahre und ist Ausdruck sowohl des Beginns der ökonomischen Krise, als auch der sich transformierenden sozialen Bewegung nach dem Ende der Studentenrevolten. Nach dem Ende des ersten Weltkriegs setzte nicht nur in der BRD ein vermeintlich grenzenloses Wirtschaftswunder ein und die bürgerlichen Wirtschaftstheorie hatte „im keynesianischen Staat ihr Ei des Kolumbus entdeckt“ (Kostede 1976: 151). Nach dem scheinbaren Ende der Klassengesellschaft war die Verblüffung über die repressiven Qualitäten des bundesdeutschen Rechtsstaats und die Grenzen der staatlichen Steuerungsfähigkeit im Zuge der Verschärfung der Krise groß. Die Verschärfung der sozialen Kämpfe und das Ende der StudentInnenbewegung verschoben das politische Terrain. Die parlamentarische Demokratie war in der Lage disziplinierend in die sozialen Widersprüche einzugreifen. Selbst den Demokratietheorien, die einen sukzessiven Übergang von der parlamentarischen Demokratie vorsahen (zum Beispiel Abendroth) waren mit der Notstandgesetzgebung und dem Ausbau der repressiven Herrschaftsinstrumente objektive Grenzen gesetzt6. „Wo die staatlich garantierten Grenzen gesellschaftlicher Konkurrenzen und Kämpfe nicht mehr zu erweitern waren, wo die Grenzen überschritten wurden und – auf dem Hintergrund erster gravierender ökonomischer Krisen – militante Klassenkämpfe antizipierbar wurden und ihrer Entfaltung vorzubeugen war, war die Staatsgewalt zum Einschreiten gezwungen. Der Tanz der Staatsgewalt regt bekanntlich die Geister an. Jedenfalls war es – entgegen allem Anschein – nicht gelehriges wissenschaftliches Interesse, das erneut die Frage nach jenem dubiosen Charakter des bürgerlichen Staates stellen ließ.“ Kostede 1976: 153f.)
Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund und der Abwesenheit einer Marxschen Staatstheorie, an der kritisch hätte angeschlossen werden können, wurden viele Fragestellungen mit einem politischen Erkenntnisinteresse formuliert, die aber bald in sehr abstrakten akademischen Debatten versanden sollten. Die Trennung von Politik und Ökonomie (= Staat und Gesellschaft), die die Form einer offiziellen, subjektlosen staatlichen Herrschaft annimmt, sollte nicht einfach hingenommen, sondern selbst als erklärungswürdig erkannt werden. Eine Frage, die sich schon der sowjetische Rechtstheoretiker Paschukanis stellte. Auch die immer wiederkehrende Hoffnung innerhalb emanzipatorischer Bewegungen in den Staat als regulierende neutrale Instanz und Garant des Allgemeinwohls sollte als objektive Bewusstseinsform des Kapitalismus begründet werden. Nicht zuletzt die Frage, wie das Verhältnis von Rechtsstaat/Sozialstaat und Klassenstaat zu fassen sei. Auch wenn kein „offizielles“ Ende der Debatte zu verzeichnen ist und die sehr intensiven Auseinandersetzungen sich kaum auf einen Nenner bringen lassen, sind doch einige Ergebnisse der Debatte festzuhalten. Diese lassen sich allerdings auf einer sehr allgemeinen und abstrakten Ebene verorten. Damit sind sie aber nicht unwichtig, vielmehr beanspruchen sie aufgrund der Abstraktheit Allgemeingültigkeit für jeden Staat in einer kapitalistischen Gesellschaft: In einer Gesellschaft, in der die kapitalistische Produktionsweise herrscht, verhalten sich die Menschen als Warenbesitzer und damit als Privateigentümer zueinander. Frei von persönlichen Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnissen wird ihr Eigentum von einer dritten Instanz garantiert - dem Staat. Das betrifft sowohl die Reproduktion der Ware Arbeitskraft als auch die private Verfügungsgewalt über Produktionsmittel. In diesem Sinne sind die WarenbesitzerInnen als vereinzelte Einzelne vor der »subjektlosen Gewalt« frei und gleich. Klassenstaat ist dieser also nicht, weil er Instrument einer herrschenden Klasse ist, sondern gerade weil sich unter der Form der Neutralität die Ungleichheit rechtmäßig reproduziert.
Analog zu der Vergesellschaftung der privaten Warenbesitzer über den Markt in Bezug auf das Geld nehmen die isolierten StaatsbürgerInnen erst in Bezug auf den Staat eine Form von Gesellschaftlichkeit an. In diese ist das „Allgemeininteresse“ „Freiheit und Gleichheit“ eingeschrieben - als ideologische Form. Herrschaft hat sich somit verdoppelt: sie ist einerseits ökonomische und andererseits politische. In diesen Formen reproduziert sich das Kapitalverhältnis und mit ihm Herrschaft und Ausbeutung. Damit ist die Funktionsbestimmung des Staates, die kapitalistische Akkumulation aufrecht zu erhalten, zugleich notwenige Grundlage seiner eigenen Existenzgrundlage: ausreichende Steuereinnahmen, begrenzte Sozialausgaben und ein „stabiles“ Geld.
Erst in dieser Form entsteht so etwas wie ein allgemeines Interesse des Kapitals, steht es doch als Klasse jenseits des Aushandlungsprozesses der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ und dem Diskurs ums „Allgemeinwohl“ in Konkurrenz zueinander. Dieses wird nicht nur gegen, sondern auch mit der Zustimmung der ausgebeuteten Klasse durchgesetzt, weshalb Johannes Agnoli davon spricht, dass eine wesentliche Funktion des Staates die Herstellung des Konsenses der Subalternen zu ihrer Ausbeutung ist (Agnoli 1975).
Mit dieser Formbestimmung wurde gezeigt, dass jeder Staat in einer kapitalistischen Gesellschaft immer „Staat des Kapitals“ (Agnoli) ist. Damit ist er aber kein Instrument einer herrschenden Klasse, sondern ein strukturelles Adäquanzverhältnis ist gemeint. Jeder naiven Variante des Reformismus wurde somit eine Absage erteilt. Staatliche Politik muss sich innerhalb eines in die gesellschaftliche Struktur eingeschriebenen „Handlungskorridors“ vollziehen. Damit kann über die Form Staat überhaupt keine grundlegende Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse vollzogen werden. Über den Spielraum staatlicher Politik ist damit jedoch noch nichts ausgesagt. Deshalb versuchen Staatstheoretiker wie Joachim Hirsch die grundlegenden Überlegungen mit Ansätzen von Gramsci und Poulantzas fortzuschreiben. Gleichzeitig entstanden aber auch Vorstellungen, zum Beispiel bei der Marxistische Gruppe (MG) und dem heutigen Organ „Gegenstandpunkt“, dass diese Formbestimmung des Politischen bereits die Durchsetzung, also konkrete Handlungen der Agenten, beschreibe.
Die Krise des Marxismus und seine Renaissance
1977 rief der französische Marxist Althusser ganz erfreut die „Krise des Marxismus“ aus. Erfreut deshalb, weil er in der Krise die Möglichkeit sah, dass die theoretischen Grundlagen neu reflektiert werden würden. Für die marxistische Staatstheorie war der nicht sich vollziehende Absterbungsprozess des Staates in den realsozialistischen Ländern ein Dorn im Auge, war doch noch immer der Staat ein zentrales Moment für die revolutionäre Strategiediskussion innerhalb der westlichen KPs. Inzwischen war es innerhalb linker Theoriebildung zu einer kritischen Wiederaneignung der Theorie des Leninisten Antonio Gramsci (1891-1937) gekommen. Neben der Kritik des Ökonomismus ging es Gramsci maßgeblich um die Frage, warum es im Gegensatz zu Russland nicht zu einem revolutionären Umsturz der Verhältnisse im westlichen Europa kam. Dies machte er an den „modernen“ Strukturen der Gesellschaft fest, die kein zentrales Machtzentrum wie das zaristische Russland haben. Diesen Umstand versucht er mit der analytischen Kategorie des „erweiterten“ bzw. „integralen“ Staates zu fassen. Den Staat begreift er somit als Einheit einer societá civile („Zivilgesellschaft“) und societá politica („politischen Gesellschaft“). Die Zivilgesellschaft, die nicht mit der neutralen Bedeutung, wie sie heute oft verwandt wird, verwechselt werden darf, wird als „Ensemble der gemeinhin ‚privat‘ genannten Organismen“ (GH Bd.7: 1502) verstanden, als eine Sphäre, in der um Hegemonie gerungen wird. In der politischen Gesellschaft wird die direkte Herrschaft im klassischen Sinn durchgesetzt und „die Disziplin derjenigen Gruppen gewährleistet, die weder aktiv noch passiv ‚zustimmen‘“ (ebd.). Der Staat ist somit „der gesamte Komplex praktischer und theoretischer Aktivitäten [...], womit die führende Klasse ihre Herrschaft nicht nur rechtfertigt und aufrechterhält, sondern es ihr auch gelingt, den aktiven Konsens der Regierten zu erlangen“ (ebd.: 1726). Diese aktive Zustimmung der Subalternen zu ihrer eigenen gesellschaftlichen Stellung vollzieht sich durch die Hegemonie als „das Umkämpfte und das Medium des Kampfes“ (W.F.Haug). Diese konkrete Modalität staatlicher Macht durchzieht alle gesellschaftlichen Organisationen, institutionalisierte Formen und kulturelle sowie ethische Praktiken. Bevor es also um die Eroberung der Staatsmacht in westlichen Gesellschaften gehen könne, so folgert der Leninist Gramsci, müsse es um den Kampf um und die Sicherung der Hegemonie in der Zivilgesellschaft gehen. Der „Bewegungskrieg“ müsse von einem „Stellungskrieg“ abgelöst werden. Aber auch Gramsci, Kind seiner Zeit, bleibt in leninistischen Vorstellungen verhaftet. Der Staat im engen Sinne wird weiterhin als eine neutrale Instanz begriffen, die, ist sie einmal über einen langatmigen Stellungskrieg erobert, einen „sittlichen Staat“ einer „regulierten Gesellschaft“ (GH Bd.4: 783) darstellt.
Im Anschluss an Gramsci spricht Lous Althusser (1918-1990) ca. vierzig Jahre später von ideologischen und repressiven Staatsapparaten und hebt damit die „Materialität“ der Ideologie bzw. Hegemonie in Apparaten hervor. Während der letztere fast ausschließlich auf Gewalt beruhe, funktionieren die ersteren vornehmlich über die herrschende Ideologie – Hegemonie. Der Staat sei die Bedingung der Möglichkeit, dass Teile der ideologischen Staatsapparate qua bürgerlich recht privat organisiert seien. Althusser stellt also die Trennung von „öffentlich“ und „privat“ als solcher in Frage und stellt selbst deren umkämpften Charakter heraus. In Bezug auf den Staat hebt Althusser die Differenz von Staatsapparat und Staatsmacht hervor. Dies ist vor dem Hintergrund der Enttäuschung über den realexistierenden Sozialismus zu sehen, in welchem der Staat, entgegen allem Vorhersagen, keine Anstände machte, abzusterben. Während also ersterer selbst unter dem Umstand, dass die Bourgeoisie die politische Herrschaft verloren habe, fortbestehen könne wie in der Sowjetunion, sei die Staatmacht, „Ziel des politischen Klassenkampfes“ (Althusser 1973: 125), wechselnden politischen Kräften „zugänglich“. Deshalb sei in revolutionärer Perspektive der Apparat zu „zerschlagen“.
Im Anschluss an Louis Althusser und den strukturalen Marxismus sind zwei theoretische Wege eingeschlagen worden. Diese sind mit zwei Theoretikern verbunden: Zum einen mit dem Marxisten Nicos Poulantzas, der erstmals versuchte, eine konsistente marxistische Staatstheorie zu formulieren, zum anderen mit Michel Foucault (1926-1984), der sich der Mikrophysik der Macht und Ökonomie der Macht zuwandte.
Nicos Poulantzas (1936-1979) thematisiert den Staat als gesellschaftliches Verhältnis und holt ihn somit als „Instanz“ wieder zurück in die Gesellschaft. Ausgehend von einer Kritik an Althusser und Foucault kommt er zu seiner berühmten Bestimmung des Staates als „als ein sich selbstbegründendes Ganzes [...], wie auch [dem] ‚Kapital‘, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ (Poulantzas 1978: 119). Die Unterscheidung von repressiven und ideologischen Staatsapparaten nimmt Althusser zurück, da diese rein deskriptiven Charakter haben. Poulantzas führt zwei Gründe an, warum das Kategorienpaar repressiv und ideologisch nicht greift: Zum einen lösen sich ökonomische Funktionen in diesen Apparaten auf und werden unsichtbar und damit auch die dahinterstehenden Klassen. Zum zweiten wird es kategorial unmöglich gemacht, dass Apparate sich verschieben und jeweils andere Funktionen übernehmen. Damit grenzt er sich von zwei, hier bereits aufgeführten, Auffassungen ab: Zum einen von der Vorstellung des Staates als neutralem Instrument einer Klasse. Zum anderen von der Sicht auf den Staat als „vernünftigem Subjekt“. Der ersten hält er die strukturelle Selektionsstrukturen entgegen, die in die Materialität des Staates eingeschrieben seien. Die Staatsform bevorzugt systematisch gesellschaftliche Gruppen gegenüber anderen. Diese Strukturen seien in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung der kapitalistischen Produktionsweise eingelassen. Gegenüber dem instrumentalistischen Kurzschluss unterscheidet er ähnlich wie Althusser Staatsapparate und Staatsmacht: die Staatsapparate können nicht auf die Staatsmacht reduziert werden, die im Kapitalismus die Bourgeoisie innehat. „Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staatsapparates nicht.“ (ebd.: 121) Diesen Vorstellung kann Poulantzas also nur entgehen, weil er den Staat als eine soziale Beziehung begreift, der deshalb keine Macht hat und sie deshalb auch nicht ausüben kann. Vielmehr ist er durchzogen von gesellschaftlichen (bei ihm meist Klassen-)Kämpfen, die sich in ihn in einer transformierten Weise einschreiben. Dieser Gedanke ist auch Ansatzpunkt feministischer Staatstheorien, die diesen nicht als einen „Männerbund“, sondern ebenfalls als eine gesellschaftliches Verhältnis auffassen – eine geschlechtsspezifische komplexe materielle Relation (Demirović/Pühl 1997). Somit ist der Staat trotz seiner „relativen“ Autonomie von den gesellschaftlichen Klassen als soziale Beziehung in die gesellschaftliche Verhältnisse „zurückgeholt“. Deshalb gibt es auch keine Materialität des Staates jenseits von Klassenverhältnissen und deren asymmetrischen gesellschaftlichen Kräftekonstellation.
Michel Foucault (1926-1984) dagegen, dem Poulantzas vorwirft, dass er den Machtbegriff auf eine universelle, nicht weiter fundierte Technik reduziere, versucht, ausgehend von spezifischen Praktiken und diffusen Formen von Machtbeziehungen den Staat zu ergründen. Nicht im Staat oder gar im „Wesen“ des Staates sei die Macht konzentriert, sondern diese sei in allen sozialen Beziehungen allgegenwärtig. Der Staat wird hier thematisiert als eine autonome Form der politischen Rationalität, die sich in politischen und Staatsprojekten manifestiert: zum Beispiel im Polizeistaat oder Sozialstaat. Die Regierungs- oder Staatskunst kann somit konkret als diskursive Praktik thematisiert und analysiert werden. Damit wird der Staat nicht als ein den Subjekten äußerliches, sondern als sie gerade konstituierendes Moment gefasst. „Insgesamt ging es Foucault in seiner Geschichte der Gouvernementalität um den Nachweis einer Ko-Formierung von modernen souveränen Staaten und modernem autonomen Subjekt.“ (Lemke 2000: 33) Die Regierung ist somit die „Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels deren man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung […] Gesamtheit von Prozeduren, Techniken, Methoden, welche die Lenkung der Menschen untereinander gewährleistet“ (Foucault n. Lemke et.al.(2000): 7). Damit wird der Begriff der Regierung Bindeglied von strategischen Machtbeziehungen und Herrschaftszuständen (vgl. Pühl/Schultz u.a. in diesem Heft).
Wie hältst Du es mit dem Staat?
Nachdem seit fast 20 Jahren kaum intensive Debatten um den Staat aus einer politisch-strategischen Absicht geführt wurden, werden mit der zunehmenden Formulierung von Forderungen und Strategiebestimmungen innerhalb der Linken Differenzen offensichtlich, die sich meist an der Debatte um „Reform“ oder „Revolution“ entzünden. Die den Positionen zu Grunde liegenden Differenzen lassen sich jedoch mit der Frage „Wie hältst Du es mit dem Staat?“ offen legen. Während einige den Staat als Garanten eines „Allgemeinwohls“ begreifen, an dessen Adresse die an die Vernunft appellierenden Forderungen gerichtet werden sollten, meinen die anderen, sich jenseits staatlicher Praktiken zu befinden und erkennen in konkreten staatlichen Aktivitäten ein immer bereits bestehendes Interesse des Kapitals.
Politische Beziehungen sind mehr als die Summe der ökonomischen Beziehungen und der Staat ist somit im umfassenden Sinn ein Gebilde, das komplexe soziale Verhältnisse ausdrückt. Das schließt Klassenverhältnisse, auf die Poulantzas seine Analyse beschränkt, ebenso ein wie Geschlechterverhältnisse. Damit der Staat aber nicht als ein form- und lebloses Gebilde konzeptualisiert wird, besteht Poulantzas darauf, dass der Staat auf die Klassen eine formierende und organisierende Wirkung hat. Der Staat besitzt eine eigene Materialität, in welche sich die Kräfteverhältnisse der Klassen einschreiben müssen. Die Form »Staat« ist aber bei Poulantzas trotz aller Betonung einer »asymmetrischen Form« nichts anderes als ein Kräfteverhältnis. Die Form „Staat“, so wie sie die Staatsableitung versucht hat zu konzeptualisieren, ist theoretische Voraussetzung der konkreteren Bestimmung im Sinne Poulantzas. Wird diese Formbestimmung des Politischen nicht vorgenommen, läuft man Gefahr, diese allein in Kräfteverhältnisse aufzulösen.Für eine politische Strategie müsste klar geworden sein, dass Emanzipation nicht über den Staatapparat erreicht werden kann, da „Menschen nicht mittels Herrschaft und Zwang befreit werden können“ (Hirsch) und dass gleichzeitig der Staat nicht einfach Herrschaftsinstrument einer herrschenden Klasse ist. Damit hat aber eine strategische Auslotung von politischen Handlungsmöglichkeiten erst begonnen.