Ursprünge der Sexualunterdrückung?
Anscheinend setzte sich das Klima der Prüderie, das die Sexualität aus dem Alltag verbannte und die Körperlichkeit an und für sich als schmutzig erachtete, in Mitteleuropa um 1700 durch. Danach erscheint es so als ob etwa 200 Jahre lang eine extreme Körperfeindlichkeit die Gesellschaft bestimmte. Erst seit Ende des letzten Jahrhunderts wird diese Sichtweise allmählich wieder in Frage gestellt.
Für die Frauenbewegung scheint das Thema Sex dabei zunächst nicht zentral gewesen zu sein; die hauptsächlichen Anliegen der im 19. Jahrhundert anwachsenden Bewegung waren die rechtliche Gleichstellung, die Bekämpfung der brutalen, frauenspezifischen Ausbeutung in der sich entwickelnden Industrie, sowie die Erlangung ökonomischer und sozialer Selbständigkeit in den Beziehungen. Auch in der sozialistischen Debatte taucht Sexualität kaum auf, obwohl Fourier, Engels und Bebel zum Geschlechterverhältnis durchaus radikale Positionen entwickelten. Engels beispielsweise verwies darauf, daß das Entstehen von Privateigentum und Staatsgebilden ohne die patriarchale Unterwerfung der Frauen nicht vorstellbar gewesen wäre. Als Gegenstück zur bürgerlichen Familie, die ihren Namen vom lateinischen Haussklaven „famulus“ habe, entwarf Engels das Bild der proletarischen Liebesehe,1 die auf der ökonomischen Selbständigkeit der Partner beruhe. Sexualität spielte dabei jedoch keine hervorgehobene Rolle, auch wenn Engels die Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft kritisierte, in der die Monogamie nur für Frauen gilt, und er andere Formen der Sexualbeziehungen darstellte (z.B. die Geschwisterehe auf Hawaii, in der alle Brüder einer Familie mit allen Schwestern einer anderen sexuelle Beziehungen haben können).
Erst die, um die Jahrhundertwende von Freud entwickelte, Psychoanalyse machte Sexualität zum Gegenstand öffentlicher und damit dann auch linker Auseinandersetzungen. Sehr komplex und widersprüchlich erklärte Freud den Umgang mit der Sexualität als Ergebnis psychischer Prozesse in der Kindheit. Die später am heftigsten kritisierte Aussage Freuds in diesem Zusammenhang war seine Theorie des „Penisneids“. Demnach verspürten Mädchen einen biologischen Mangel gegenüber dem männlichen Geschlecht und würden sich deswegen in eine passive, masochistische Geschlechterrolle fügen. Den gesellschaftlichen Hintergrund, warum ein Mädchen den Wunsch empfinden könnte, ein Mann zu sein, blendete Freud völlig aus.
Die Sexualunterdrückung in der bürgerlichen Gesellschaft ist Freud zufolge eine Kulturleistung. Die Libido, die Lust im weiteren Sinne, ist eine Art Energie, die sich auf unterschiedliche Ziele richten läßt. Wenn die menschlichen Triebe nicht direkt befriedigt werden, müssen sie anderweitig „sublimiert“, d.h. umgesetzt werden. Der Mensch lenkt seine Energien in produktives Schaffen um. Mit dieser Theorie wollte Freud sicherlich nicht die extreme Unterdrückung der Sexualität rechtfertigen, aber er machte die bewußte Umlenkung der (unter anderem) sexuellen Triebe zu einem notwendigen kulturellen Prozeß.
Freuds Überlegungen waren für das Verstehen gesellschaftlicher und individueller Entwicklungen von ungeheurer Bedeutung, auch wenn seine Theorien seitdem häufig kritisiert worden sind. Erst auf ihrer Grundlage wurde es nämlich möglich, die im Inneren der Menschen stattfindenden und bis dahin als gegeben geltenden psychischen Prozesse zu hinterfragen.
Ein Teil der Freud-Schülerinnen begann darüberhinaus, die Psychoanalyse mit marxistischer Gesellschaftskritik zu verbinden, wobei sich vor allem die Frankfurter Schule in den 30er Jahren hervortat. Erich Fromm und Herbert Marcuse untersuchten beispielsweise im US-amerikanischen Exil den Zusammenhang von verinnerlichter Unterwerfung unter Autoritäten im Verlauf der Kindheit, sexueller Tabuisierung und dem Entstehen reaktionärer Ideologien. Sie wiesen nach, daß autoritäre Erziehungsmethoden und der repressive Umgang mit Sexualität mit autoritären oder faschistischen Politikvorstellungen einhergingen.
Das war auch die wichtigste These des (im Alter zum Esoteriker gewordenen) Mediziners Wilhelm Reich, der der kommunistischen Bewegung um 1930 vorwarf, den Charakter des Faschismus nicht wirklich zu begreifen. Der Faschismus ließe sich, so Reich, nämlich nicht einfach aus ökonomischen und politischen Tatsachen herleiten, sondern er sei auch ein Produkt psychischer und sexueller Unterdrückung im Alltag. In diesem Punkt widersprach Reich heftigst seinem „Lehrer“ Freud: Reich vertrat, daß die Sexualunterdrückung keineswegs die notwendige Grundlage jeder Kultur sei, sondern nur für jene autoritären Gesellschaften unabdingbar sei, in denen sich Menschen innerlich und äußerlich unterwerfen müssen.
In eine ähnliche Richtung ging auch die Kirchenkritik, die von verschiedensten Seiten vorgetragen wurde und bis heute weit verbreitet ist. So ist oft die These zu hören, daß die Kirche eine repressive Sexualmoral durchsetzte, um die von Schuldgefühlen geplagten Menschen leichter kontrollieren zu können. Die Unmündigkeit der Massen sollte sozusagen durch Komplexe zementiert werden.
In seiner Geschichte der „Sexualunterdrückung“ (1970) widersprach Jos van Ussel dieser Annahme. Er behauptete, daß die Kirche im Mittelalter viel weniger sexualfeindlich gewesen sei als dies normalerweise behauptet wird. Die Sexualunterdrückung habe sich stattdessen mit dem Aufstieg des Bürgertums verschärft, zu einer Zeit also, als die Kirche bereits an Macht verlor. Ussel erklärt dies mit den Notwendigkeiten der kapitalistischen Entwicklung: sowohl das Bürgertum als auch die Fabrikarbeiterschaft mußten diszipliniert werden. Die ab 1700 mit den unglaublichsten Mitteln erzwungene Unterdrückung der kindlichen Selbstbefriedigung habe zum Ziel gehabt, die Heranwachsenden für ihre Arbeitsaufgaben zuzurichten. Aber auch diese These ist umstritten. Michel Foucault entwickelte in den 70er Jahren ein Konzept, wonach sich Macht nicht eindeutig zuordnen läßt. Demnach waren es nicht einfach herrschende Klassen oder Institutionen, die die Veränderung des Alltags vorgaben. Die Unterdrückung der Sexualität ließ sich dementsprechend auch nicht mit der Notwendigkeit erklären, eine autoritäre Ordnung durch Verbote und Tabus abzusichern. Vielmehr gebe es unterschiedliche Sphären der Macht, die auf verschiedene Weise wirkten. Die Unterdrückung der Sexualität finde, so Foucault, vor allem dadurch statt, daß Sex zum Untersuchungs- und Diskursgegenstand werde. Die Entstehung von Medizin-, Psychatrie- oder Pädagogikfachbereichen, die sich auf das Thema spezialisierten, sei Ausdruck dieser Macht, die Falsches und Richtiges festschreibe. Sexualunterdrückung wäre somit eher die Fortsetzung gesellschaftlicher Machtverhältnisse als das Ergebnis eines klar umrissenen Projekts.
Die feministische Debatte ging darüber noch einmal klar hinaus. Zunächst wies sie auf die Tatsache hin, daß die Sexualunterdrückung nicht erst mit der Körperfeindlichkeit, dem Schamgefühl (z.B. beim Nacktsein oder der Selbstbefriedigung) und der Tabuisierung anfing. Die Sexualität reflektierte schon lange vor der Körperfeindlichkeit das gesellschaftliche Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen. Kate Millett zeigte in „Sexus und Herrschaft“ (1970), wie sich daraus die Doppelmoral und die Zwiegespaltenheit weiblicher Sexualität im Patriarchat entwickeln konnte. Während die Frau sich ihrem Ehemann sexuell „hingeben“ mußte, bestand für den Mann mit der Prostitution immer die Möglichkeit zu polygamer Sexualität. Die Spaltung der Frauen in saubere Muttis und schmutzige Prostituierte war die Folge. Sexuelle Unterdrückung ist dabei sowohl Folge als auch Ursache des vorhandenen Machtverhältnisses. Frauen werden zu asexuellen, passiven oder dienstbaren Objekten gemacht, weil dies ihrer Rolle im Patriarchat allgemein entspricht und gleichzeitig verfestigt diese Rolle ihre psychische Struktur als Unterworfene.
Die sexuelle Unterdrückung trainiert somit die geschlechtsspezifische Rolle, nicht nur der Frauen, an. Die Kölner Soziologin Sauer-Burghard beispielsweise behauptet, daß es „einen Zusammenhang zwischen der abgespaltenen genitalfixierten, an Fortpflanzung gebundenen Sexualität und dem männlichen Onanieverbot“ gebe. Durch die Unterdrückung der Selbstbefriedigung werde den Geschlechtsorganen eine hervorgehobene Bedeutung zugewiesen, die sie vorher nicht besaßen. Leistung und Fortpflanzung gelangten in den Vordergrund, die Sexualität werde vom Menschen abgespalten.
Diese Frage wird von manchen Feministinnen so weit zugespitzt, daß sie bereits den Begriff „Sexualität“ zu einem Ausdruck patriarchaler Ideologie erklären. So zum Beispiel Sarah Lucia Hoagland, die behauptet, daß der Begriff von einer Spaltung des Menschen ausgeht, in der Freundschaft, körperliche Nähe, Zärtlichkeit und Orgasmus voneinander getrennt sind. Dies spiegele das dichotomisch (in 2 Gegensätzen vorgehend) aufgebaute Denken des Patriarchats wieder: Mann – Frau, Vernunft – Gefühl, Arbeit – Natur, Zärtlichkeit – Sex.
Der Hinweis ist nicht falsch, aber es dürfte wenig bringen, den Begriff völlig zu tilgen; so ist es zwar blödsinnig, Hände und Arme als zwei gegenüberstehende Gegensätze zu definieren, aber genauso idiotisch ist es, auf eine Unterscheidung völlig zu verzichten und nur noch von den „Gliedmaßen, die an der Schulter hängen“, zu reden. Zärtlichkeit und sexuelles Empfinden können ineinander überfließen oder sogar das gleiche sein, sie können aber auch voneinander getrennt sein oder sich sogar offen widersprechen.
Sehr umstritten ist in der neueren feministischen Diskussion die sich daran anschließende Frage, inwieweit mit der political correctness eine neue Sexual- und Lustfeindlichkeit entstanden sei. Susie Bright zum Beispiel (‚Liederliche Lesbenwelten...‘) vertritt in ihren Kolumnen in der US-amerikanischen Lesbenzeitschrift ‚On our Backs‘ die Position, daß sich die Sexualunterdrückung im Patriarchat vor allem darin äußert, daß Mädchen und Frauen Sex vorenthalten bleiben soll. Ganz anders als Lucia Hoagland fordert sie deshalb nicht sanfte Ganzheitlichkeit, sondern aktiven Widerstand gegen die erzwungene Abstinenz. In unglaublich lustigen Episoden schreibt sie über die Erfahrungen ihres sexuellen Pionierinnengeists. Sie ruft dazu auf, alles zu entdecken und auszuprobieren, was einer so durch den Kopf geht. Männer spielen dabei nur eine marginale Rolle. Das schöne an ihren Büchern ist, daß sie beim Reden über Sex der vom machistischen Schrott besetzten Sprache einen neuen Inhalt gibt, in der selbst Begriffe wie „ficken“ einen positiven, lustvollen Klang bekommen.
Sheila Jeffreys lehnt in ihrem Buch ‚Ketzerinnen‘ diese Aneignung von Sex durch lesbische Frauen trotzdem vehement ab. Sie schreibt, daß Sadomasochismus, die inszenierte Unterwerfung in Beziehungen oder lesbische Pornographie und Prostitution die Gesetze des Patriarchats nur kopieren würden. Sie unterstreicht, daß Sexualität, also z.B. die Lust von (manchen) Frauen und Männern am Quälen und Gequält-Werden gesellschaftlich geformt sei, vor allem durch Mißbrauchserfahrungen in der Kindheit. Sexualität könne deswegen nicht einfach in der bestehendenen Form hingenommen, sondern müsse verändert werden. Dabei unterscheidet sie eindeutig in „unfeministische“ oder „unlesbische“ und befreiende Sexualität.
Zu der Frage will ich am Ende noch einmal zurückkommen.
Versuche der sexuellen Revolution
In der politischen Praxis dauerte es noch länger als in der theoretischen Debatte, bis Sexualität zum öffentlichen Thema wurde. Die ersten Ansätze scheinen bei den anarcho-kommunistischen Kommuneversuchen zu finden sein, wobei aber auch schon bei einigen mittelalterlichen Sekten ein umfassender Emanzipationsanspruch formuliert wurde. Es gibt sicherlich einige solcher Nadeln im Heuhaufen, aber politisch relevant wird das Thema der sexuellen Befreiung erstmals in der russischen Revolution 1917. Die damalige Volkskommissarin für soziale Fürsorge und erste Ministerin der Welt, Alexandra Kollontai2 setzte sich nicht nur für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Frauen ein, sondern bemühte sich auch um die Revolutionierung des sogenannten Privaten. Um die Gleichberechtigung der Frauen im Alltag zu erreichen, sollte ihre ökonomische und emotionale Eigenständigkeit gefördert werden. Die sowjetische Linke forderte deshalb die Werktätigkeit von Frauen, legalisierte die Abtreibung und vergesellschaftete teilweise die Hausarbeit: Volkskantinen und Kinderkrippen wurden aufgebaut.
Das zweite Element der Befreiung, die emotionale Selbständigkeit jedoch, ließ sich nicht einfach verordnen. Kollontai betrachtete die Veränderung des Alltags deshalb als eine eigenständige (kulturelle) Revolution und verfaßte mit dieser Absicht Erzählungen über die Notwendigkeit und die Probleme sexueller Emanzipation. In ‚Die neue Moral und die Arbeiterklasse‘ schrieb sie: „die ganze heutige Erziehung der Frauen ist darauf gerichtet; daß ihr Leben sich in Liebesbeziehungen erschöpft.“ Dagegen müsse „die Frau lernen, die Liebe nicht als Wesensinhalt ihres Lebens, sondern als eine Stufe, als eine Möglichkeit, ihr ganzes „Ich“ zu offenbaren, anzusehen.“ Kollontai verlangte „Selbstdisziplin statt Gefühlsüberschwang, die Fähigkeit, die eigene Freiheit und Unabhängigkeit zu schätzen, statt der unpersönlichen Ergebenheit; die Behauptung der eigenen Individualität statt der naiven Bemühung, das fremde Bild des Geliebten in sich aufzunehmen und zu reflektieren.“ Sie forderte auch zu neuen Formen der Partnerschaft auf, die die bürgerliche Ehe ablösen sollten: unter anderem Formen „erotischer Freundschaft“, in denen die Frau sich nicht eng bindet. Kollontai war der Meinung, daß Sexualität als Bedürfnis im Kommunismus ähnlich selbstverständlich befriedigt werden solle wie der „Durst durch Trinken gestillt wird“. Für diese Positionen wurde Kollontai heftigst angegriffen. Aus dem Jugendverband war zu hören, daß die neue Sexualmoral zu Lasten der Frauen ginge, da sie sich in den unverbindlichen Affären nicht wiederfinden würden. Tatsächlich empfand einigen Umfragen zufolge die Mehrzahl der russischen Frauen zu Anfang des Jahrhunderts Sexualität als unwichtig oder sogar ekelhaft; die erotische Freundschaft Kollontais war für die meisten Frauen ein ganz unvorstellbares Konzept. Die Heftigkeit der Angriffe gegen Kollontai läßt sich dennoch nur mit den bürgerlichen Moralvorstellungen der meisten Kommunistinnen erklären. So wetterte Lenin wortgewaltig gegen Kollontais Theorie einer Sexualität, die genauso umkompliziert sei wie das ‚Trinken eines Glases Wassers‘. Clara Zetkin gegenüber äußerte sich Lenin empört: „Nun gewiß! Durst will befriedigt sein. Aber wird der normale Mensch unter normalen Bedingungen sich in den Straßenkot legen und aus einer Pfütze trinken?“ In der Partei wurde Kollontais Überzeugung, daß die Veränderung des Moralkodexes notwendiger Bestandteil der sozialen Revolution sei, nicht geteilt.
Mit dem Sieg Stalins kehrte die Sowjetregierung dann endgültig auf die eingetretenen Pfade traditioneller Sexual- und Sozialmoral zurück. Die Abtreibung wurde eingeschränkt und schließlich in der Vorbereitungsphase für den 2. Weltkrieg 1936 ganz verboten, die Ehe erneut zum kulturellen Modell erhoben und die Schriften Kollontais unter Verschluß genommen.
Ähnliche Entwicklungen gab es auch in der deutschen Linken. Dort hatte vor allern der aus Österreich stammende Mediziner Wilhelm Reich dafür gesorgt, daß innerhalb der kommunistischen Jugend eine breite Bewegung für sexuelle Emanzipation entstand. Mit den Instituten für Sexualpolitik, die über Selbstbefriedigung, jugendliche Sexualität und Verhütung aufklärten, sollten Ängste abgebaut und damit die Entfaltung selbständiger, autoritätskritischer Individuen gefordert werden. Interessant ist dabei, daß Reich für unser Verständnis heute in vieler Hinsicht konservativ wirkt. Er war nämlich ein Verfechter der „natürlichen Sexualität der Erwachsenen“, d.h. er wollte mit seiner Aufklärungspolitik monogame Beziehungen zwischen Männern und Frauen fordern. Gegenüber homosexueller Liebe, Selbstbefriedigung oder gar sadomasochistischen Sexualpraktiken hatte Reich ein „medizinisches“ Verhältnis, er wehrte sich zwar gegen ihre Kriminalisierung/Tabuisierung, aber gleichermaßen erschienen sie ihm als „ungesund“. So rechtfertigte er seine Kampagnen u.a. auch mit dem Argument, daß durch die Aufklärung die jugendliche Selbstbefriedigung durch eine „gesunde“ Sexualität unter Erwachsenen abgelöst werde.
Trotz dieser Einschränkungen war Reich, wie Kollontai vor ihm, revolutionär. Mit seiner Position, daß es keine Revolution in Politik und Ökonomie ohne eine Revolution der Sexualität geben könne, war er praktisch marginalisiert. In der KPD erschienen seine Vorstellungen, die mehrfach als überflüssiges, an den Problemen der Arbeiterjugend vorbeigehendes Intellektuellengeschreibe diffamiert worden waren, schließlich als untragbar. 1933 wurde Reich erst aus der deutschen, dann im Exil auch aus der dänischen KP ausgeschlossen. Nach dem Ende der Sexpol (Sexualpolitik)-Bewegung verlor das Thema Sexualität an Bedeutung in der deutschen Linken. Die Durchsetzung der reaktionären Moral im Faschismus, die die Mutterrolle der Frau erneut festschrieb, tat ein übriges. Verglichen mit der sexuellen Liberalität, die es von Anfang des Jahrhunderts bis in die 30er Jahre hinein gegeben hatte, waren die ersten zwei Nachkriegsjahrzehnte wie eine Rückkehr zu viktorianischer Verklemmtheit.
In anderen westlichen Ländern war kein vergleichbarer Rollback festzustellen, im Gegenteil. Die USA, in denen, wie der Sozialwissenschaftler Lewinsohn schreibt, um die Jahrhundertwende „kein amerikanischer Fragonard, Manet oder Toulouse-Lautrec die Moral gefährdet hatte“, waren in extremer Weise von protestantischer Prüderie bestimmt. Mit dem zweiten Weltkrieg jedoch übernahmen, wie Lewinsohn feststellt, „die Sexbomben von Broadway und Hollywood“ die zur Unterhaltung der Frontsoldaten herhalten mußten, „den Platz der Monogamie“. Die amerikanische Sexualmoral begann zu kriseln und wurde 1948 und ’53 dann vollends erschüttert. Mit den Kinsey-Reporten kam zu Tage, daß öffentlich geächtete Formen der Sexualität wie der voreheliche Geschlechtsverkehr, gleichgeschlechtliche Liebe, Sodomie oder andere „Perversionen“ von einer Mehrheit praktiziert wurden oder zumindest weit verbreitet waren. Auch anderswo gab es Umwälzungen der Sexualmoral. In Israel beispielsweise kam es zu vereinzelten Kibbuzgründungen, die darauf abzielten, monogame Beziehungen aufzulösen und durch vermeintlich „sozialistischere“ Formen der Sexualität zu ersetzen.
Dennoch ist weltweit Mitte der 6oer ein Aufbruch, eine Art „sexuelle Revolution“ zu spüren. Vor allem in den industrialisierten Staaten entstand eine Jugendbewegung, die sich nicht ausschließlich (und wahrscheinlich nicht einmal vorrangig) an politischen Fragen entzündete. Die Rebellion richtete sich zwar auch gegen den imperialistischen Krieg in Südostasien und die bestehende politische Ordnung, aber ebenso wichtig war die Bekämpfung biederer Kulturformen und eines repressiven, autoritären Moralkodex, wie er in allen westlichen Gesellschaft zu finden war. In keiner Bewegung zuvor hatte die Revolutionierung des Privaten einen so großen Raum eingenommen wie in der Revolte ab 1967. Die feministischen und antiautoritären Teile der Bewegung machten all das zum Thema, was von der sozialistischen Linken (mit Ausnahmen) bis dahin als normal erachtet, ignoriert oder nur am Rande wahrgenommen worden war: die Vereinzelung im Alltag, die sexistische Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen, die Existenz der patriarchalen Kleinfamilie, Monogamie und Heterosexualität als gesellschaftliche Normen etc.
Das bleibende an diesem Aufbruch war, daß die Aufhebung der bestehenden Verhältnisse nicht als Projektion auf eine ferne Revolution verschoben wurde. Vor allem die feministischen und antiautoritären Teile der Bewegung begannen, Ansprüche im Alltag umzusetzen: Wohngemeinschaften und Kinderläden sollten das Privatleben vergesellschaften und die Kleinfamilie als autoritäre Einheit ablösen. Damit einher ging zumindest die verbale Infragestellung der Geschlechterrollen. Gleichzeitig veränderte sich die Sexualmoral: lesbische und schwule Sexualität befreiten sich von der Aura des Krankhaften. Die Heterosexualität als natürliche Lebensform wurde mehr und mehr in Frage gestellt, und die monogame Treue zerbrach.
Die Auswirkungen dieser Umwälzung sind nicht zu unterschätzen, auch wenn die vielzitierte „sexuelle Revolution“ mit Befreiung in vieler Hinsicht wenig bis gar nichts zu tun hatte. Zum Beispiel die Kommuneexperimente: es ist nicht nur so, daß die meisten damaligen WG-Bewohnerlnnen inzwischen zu quasi-familiären Verhältnissen zurückgekehrt sind, sondern es gab auch Kommunen, deren (unter anderem an Reich orientierten) Versuche, die bürgerliche Sexualmoral zu verändern, in sektenartigen Formen repressiver Gruppensexualität endeten.
Gesamtgesellschaftlich gab es sicherlich noch weniger eine sexuelle Revolution. Die Enttabuisierung der Sexualität änderte zunächst nichts an patriarchalen Rollenverteilungen und führte außerdem zu einem von der Medienindustrie kräftig ausgenützten Boom der Pornographie. Während in den 50er Jahren ein unbekleideter Busen in einem Kinofilm einen republikweiten Skandal auslösen konnte, befinden wir uns heute in einer Gesellschaft, in der selbst Schokoladenriegel mit quasi-pornographischen Darstellungen vermarktet werden. Das hat die Unterdrückung in der Sexualität wahrscheinlich nicht schlimmer gemacht, aber augenscheinlicher, präsenter und penetranter. Nicht mehr die Verdrängung der Sexualität, sondern die Bombardierung mit sexualisierten Bildern schafft eine die Gesellschaft umfassende Frustration, die für die Männer genauso zu spüren ist wie für Frauen. Das Körpergefühl bleibt schambelastet.
Emanzipation und Sexualität
Bei allen positiven Veränderungen hat die „sexuelle Revolution“ also bisher keineswegs stattgefunden. Das reichhaltige Zeitschriftensortiment der Bahnhofskioske, das vom Sexualratgeber in den Frauenmagazinen bishin zu den verschiedenen Varianten der harten Pornographie alles zum Thema zu bieten scheint, normiert das Sexualverhalten nur von neuem. Die Bilder und Schablonen, die dort transportiert werden, schaffen Maßstäbe: die sexuell emanzipierte Karrierefrau mit dem Recht auf Seitensprung und Orgasmus; das Teenager-Pärchen, das schon mit zwölf (sie) und vierzehn (er) „ganz tolle Erfahrungen“ gemacht hat; der dominante Mann, der mit seinen „toleranten Partnerinnen“ all das praktiziert, wovon er in seinen (Ohn-) Machtphantasien nur träumte. Diesen Schablonen müssen wir, dafür sorgt der Konkurrenzcharakter der Warengesellschaft, gerecht werden, wir müssen Leistung erbringen und uns so verhalten, wie es erwartet wird. Emanzipation hat also nicht allein etwas mit Enttabuisierung zu tun, zumal die Körperfeindlichkeit der europäischen Kultur durch die vielen nackten Körper um uns herum keineswegs durchbrochen ist.
Die Befreiung der Sexualität ist nicht denkbar, ohne die Machtverhältnisse anzugreifen, die unsere Geschlechterrollen warengesellschaftlich, sexistisch und heterosexistisch formen. Was ich mit dem Begriff „warengesellschaftlich“ meine, dürfte auf der Hand liegen: es geht um die Vermarktung und Leistungsorientierung des
Sexuellen, wie sie von der antikapitalistischen Linken schon lange kritisiert wird. Die anderen beiden Punkte dagegen sind in der Diskussion neuer und insofern „revolutionärer“. (Hetero-) Sexistische Formierung meint, daß die sozialen und sexuellen Rollen von Männern und Frauen klar unterschieden sind (z.B. in Aktive und Passive), und daß gleichzeitig die Partnerschaft zwischen einem Mann und einer Frau als die normale Struktur unserer Gesellschaft erachtet wird. Beides ist für Männer wie für Frauen unbefriedigend und entwürdigend. Uns allen wird die Wahlmöglichkeit genommen, uns so zu entscheiden, wie es uns gefällt. Wir müssen uns z.B. aktiv und gefühlskalt zeigen, oder empfinden es als unnatürlich, alle Menschen, unabhängig vom Geschlecht, als sexuelle Partnerinnen zuzulassen, auch wenn sie uns gefallen.
Es war vor allem eine Errungenschaft der feministischen Bewegung, bestehende soziale Rollen in Frage gestellt zu haben. Dabei schlug die Diskussion jedoch auch ins Gegenteil um. Das Kritisierte wurde zum Verbotenen, es bildete sich ein Moralkodex, der erneut Rollen festschrieb. So wurde/wird z.B. das Unten-Liegen oder der Sadomasochimus als patriarchalisch angegriffen. Was aber, wenn dieses Muster Lust bereitet, wenn genau diese gesellschaftlich vorgegebene Rolle gefällt?
Mariana Valverde hat in „Sex, Macht und Lust“ darauf hingewiesen, wie oft dieser Widerspruch zu einer Spaltung zwischen öffentlichem und privatem Auftreten geführt hat, wie viele ihrer Mitstreiterinnen aus diesem Grunde versuchten, ihr Intimleben zu verheimlichen.
Die Errichtung neuer, oppositionell formulierter Moralkodexe ist anscheinend keine Lösung. In der Sexualität oder allgemein im Psychischen gibt es keine einfachen Schwarz-Weiß-Konzepte, im Inneren von uns allen überwiegen die Grautöne. In diesem Sinne sind viele linke Diskussionen fragwürdig, sie werden nämlich mit der Absicht geführt, klare Handlungsanweisungen gewinnen zu wollen. Zum Beispiel beim Thema Pornographie: Richtig ist, daß der Großteil der Pornofilme frauenfeindlich ist, andererseits gibt es aber sicher auch Pornos (unabhängig davon, was von Geschlechtsteilen in Großaufnahme zu halten ist), die nicht frauenfeindlich sind. Etwas überspitzt meinte die US-Amerikanerin Sallie Tisdale vor einiger Zeit in einem Interview, viele Familienserien im Nachmittagsprogramm seien frauenfeindlicher als die meisten Pornos.
Die gesellschaftlichen Strukturen, die wir bekämpfen, liegen auf der Hand: wir haben die Schnauze voll von einer Werbung, die Magersucht erzeugt, von Pornos, die ein machistisches Sexualbild verstärken oder von sexuellem Mißbrauch, der Menschen für ihr Leben lang fertig macht. Aber trotzdem sind die einfachen Antworten falsch.
Mariana Valverde hat zu der feministischen Diskussion zwischen Political Correctness und Lustorientierung eine gute Mittelposition formuliert. Sie stellt fest: „Tatsächlich verhielten sich viele frühe Feministinnen wie Tugendwächterinnen, und auf manche trifft das auch heute noch zu. Doch nichts ist damit gewonnen, im Namen einer Laisser-faire-Sexualpolitik alle Versuche abzulehnen, politische und ethische Maßstäbe anzulegen... Sexualität wird (nämlich) keineswegs individuell definiert... Unsere Sexualität wird geformt und sogar begründet in und durch die Beziehungen zu anderen Menschen sowie durch unsere soziale Stellung...(deswegen) ist es naiv, anzunehmen, individuelle Bedürfnisse seien die Meßlatte, die wir an unsere Sexualität anlegen sollten.“ Auf der anderen Seite wehrt sie sich jedoch auch gegen das Entstehen politisch motivierter Schuldgefühle. „Viele Diskussionen über Sexualität beginnen und enden mit moralischen Urteilen, die uns überhaupt nicht helfen, wenn wir begreifen wollen, was eigentlich vor sich gegangen ist.“ Im Anschluß daran beschreibt, daß sie sehr wohl Befriedigung dabei empfinden kann, sich in der Sexualität mit einem Mann hinzugeben, die passive Rolle zu übernehmen. Das Problem ist nicht, daß es solche Rollen gibt, sondern daß sie den sozialen Geschlechtern aufgeschrieben sind. Dagegen müßte sich sexuelle Befreiung richten: Gegen die Festlegung von uns allen auf Rollen und Identitäten. Wirklich erleichternd wäre es, wenn wir die Möglichkeit erlangen würden, im Einvernehmen mit den Geliebten, auszuprobieren, was uns gefällt. Die Veränderung der Sexualität ist jedoch kein einfaches Hinüberwechseln, sondern ein Prozeß, in dem das Verhalten ständig hinterfragbar ist. Wir sollten sowohl unsere Lust entdecken und darüber reden, als auch unsere Vorstellungen mit ethischen und politischen Maßstäben vergleichen. Herauskommen wird dabei sicherlich keine universale, für alle gleiche Moral, die als Maß der Dinge gelten kann.
In diesem Sinne ist es nicht angebracht, daß sich viele Linke seit einigen Jahren darauf beschränken, Diskussionen darüber zu führen, was mit dem Linkssein alles unvereinbar ist. Unsere Sexualität läßt sich nicht darüber verändern, daß wir Pornos ablehnen und dagegen ankämpfen, sondern indem wir uns unsere Erlebnisse, Fehler und Wünsche erzählen, Rollen tauschen, uns reflektieren. Valverde schreibt für eine Auseinandersetzung unter Frauen: „Wir haben uns für nichts, was wir jemals getan haben, zu schämen. Scham und Schuldgefühle hindern uns eher daran, neue Verhaltensweisen zu entwickeln, und bringen uns dazu, genau das Verhalten zu wiederholen, das uns die Schuldgefühle oder die Scham haben empfinden lassen. Uns so zu akzeptieren, wie wir sind, würde uns sehr dabei helfen, miteinander zu sprechen und uns in unseren bis dato privaten sexuellen Auseinandersetzungen beizustehen.“ Ich bin mir unsicher, ob Valverde diesen Satz auch für Männer gelten lassen würde. Natürlich gibt es Handlungen, für die man sich schämen sollte, zumindest in dem Sinne, daß man sich der Schwere von Fehlern bewußt wird. Aber wenn man wirklich die Bereitschaft besitzt, etwas an den Verhältnissen und an sich selbst zu verändern, dann wird der Satz von Valverde wieder gültig. Nicht die Moralisierung, sondern die Auseinandersetzung ist der Schlüssel zur Veränderung.