Im Jahre 15 von Helmut Kohls Kanzlerschaft und der «geistig-moralischen Wende» erschien die lange Zeit einzige ausverkaufte Ausgabe der arranca! – die Nr. 8 – mit dem Schwerpunktthema «SEXualmoralischer Verdrängungszusammenhang» (Frühling 1996). Das Heft war für eine Publikation aus der (post)autonomen Szene erstaunlich unverklemmt.
Die arranca!-Redaktion begründete den Schwerpunkt im Editorial damit, dass Sex im Leben keine kleine Rolle spiele, aber nicht darüber geredet würde bzw. die radikale Linke sich meist vom Verbotenen (Pornographie, Prostitution, Pädophilie, Vergewaltigung) abgrenze, es ginge «vor allem um die Durchsetzung moralischer Tabus und nicht etwa um ein lustvolles sexuelles Leben». Sie wollten «Tabus hinterfragen, aber […] keinen Tabubruch um des Tabubruchs» willen. Der Artikel Sexuelle Phantasien, Pornographie und Zensur wird als besonders umstritten dargestellt, noch im selben Heft findet sich eine Replik darauf.
Die Redaktion stellt sich ausdrücklich hinter ein Interview mit Cristina Garaizabal unter dem Motto Radikal für die Lust – unnachgiebig gegen Gewalt. Weiter erschienen Artikel über die Linke und die sexuelle Revolution; political correctness, Leidenschaft und Revolutionen; Sex im Altertum; Verhütung; über das Untenliegen und political correctness; Körperbilder und körperlicher Abstand; ein Interview über freie Sexualität in einer Aao-Kommune; ein Kapitel über maskuline Erotik aus Susie Sexperts Liederliche Lebenswelten; zwei Buchbesprechungen, fünf Gedichte, eine Diy-Anleitung zum Basteln eines Vibrators und 34 Bilder.
Kritik an der arranca! Nr. 8
Das Heft löste vielfältige Diskussionen und Reaktionen aus, auch in Infoläden, über die die arranca! vertrieben wurde. Diese waren damals die zentralen Knoten der linksradikalen/autonomen Szene. Überregionale öffentliche Diskussionen verliefen fast ausschließlich in Papierform und außerhalb von Großstädten in wenigen Diskussionsveranstaltungen pro Jahr.
«Die arranca! stellt eine Bedrohung feministischer Inhalte und Politik dar.»
Die arranca! Nr. 8 wurde im Infoladen Schwarzmarkt (Hamburg) nicht verkauft. Dies wurde in der Zeck, das Info aus der Roten Flora (Hamburg), als Zensur kritisiert. Der FrauenLesben-Tag […] und die Frauen aus der gemischten Ladengruppe[…] (d.h. die Frauen, die zu diesem Zeitpunkt im Schwarzmarkt mitarbeiteten, im Folgenden: Hh) bestätigten im April 1996 mit dem Papier Transparenz in der Zensur ihre Zensur und begründeten sie damit, die arranca! Nr. 8 sei «eine reine Heterobeschreibung von Sexualität [… bzw. …] ein Ausdruck vom rollback inklusive Demontage feministischer Positionen und Geschichte». Die Frage sei nicht ob, sondern wer zensiere; sie forderten Vertrauen in ihre Zensur ein. Die Hh beschreiben die Bilder in der arranca! Nr. 8 als pornographisch, sexistisch, die Texte als Angriff auf den Feminismus, feministische Organisierung und Identität und als Geschichtsverfälschung.
Der Zensur durch die Hh schlossen sich mehrere Infoläden im Bundesgebiet an. Ein Jahr später verlässt die FrauenLesbenInfogruppe den FrauenLesben-Tag im Schwarzmarkt und begründet dies einerseits mit männlicher Dominanz und Sexismus im Schwarzmarkt und andererseits insbesondere mit der arranca! Nr. 8 und der nachfolgenden Debatte in der interim (verdeckt produziertes und vertriebenes autonomes Fachblatt, Berlin), in der die Zensurbegründung kritisiert worden war.
Die Paul und Paula -Debatte
Die Mehrheit im Infoladen Daneben (Berlin/Friedrichshain) veröffentlichte anderthalb Jahre nach dem Papier der Hh unter dem Pseudonym Die Unglücklichen eine Generalabrechnung: «Die Legende von Paul und Paula. autonome Politikunfähigkeit […]» (im Folgenden: Pp) am Beispiel eben dieses Papiers der Hh. Wir kritisierten autonome Identitätspolitik, damit einhergehende Denkverbote, Konfliktunfähigkeiten und daraus folgende Zensur als Ausdruck antiemanzipatorischer Machtpolitik innerhalb der Szene: Wem nützt es, wenn die Hh einem gemischt-geschlechtlichen linksradikalen Zusammenhang (dem Infoladen Schwarzmarkt und seiner Kundschaft) eine Ausgabe einer Zeitschrift eben dieser gemischt-geschlechtlichen Szene vorenthalten, um nicht «an eine gemischt-geschlechtliche Zeitung anzuknüpfen, in der es um das Lustempfinden von Frauen und Männern gehen soll[…]. Wir wollen uns nicht mit der Lust der Männer auseinandersetzen […]»? Die Zensur der Hh gegenüber ihrer eigenen Szene trägt nichts zu den gesellschaftlichen Entwicklungen der Geschlechterverhältnisse bei, sie könnte lediglich der relativen Machtposition identitätsfeministischer FrauenLesbengruppen in der Szene nützen.
«Die arranca! zu verkaufen, weil sie die Diskussion um Sexualität anregen könnte, fanden wir problematisch, weil wir uns nicht mit der Sexualität der Männer auseinandersetzen, sondern Sexualität für uns als Frauen neu füllen wollen.»
In Pp stellten wir dem damals in der autonomen Szene hegemonialen Identitätsfeminismus, der Geschlechterverhältnisse ausschließlich als Täter-Opfer-Verhältnisse beschrieb, einen de/konstruktivistischen Ansatz entgegen. Frauen nicht ausschließlich als Opfer wahrzunehmen, ist spätestens seit 1983 mit Christina Thürmer-Rohrs Begriff der Mit-täterschaft möglich. Die Mittäterschaftsthese war in den 1980ern noch heftig umstritten und musste damals mit Verweis auf die Beteiligung und den Einbezug von Frauen in die nationalsozialistische Herrschaftsausübung begründet werden.
Als besonders provozierend erwies sich unsere These, Gefühle – die in identitären Diskursen als authentisch hervorgehoben und zur Begründung politischer Interventionen eingesetzt werden – seien gesellschaftlich konstruiert und deswegen kritisierbar (Pp 150ff). Diese These greift den subjektivistischen Begründungszusammenhang der autonomen Politik in der ersten Person an und wurde in der Diskussion heftig kritisiert.
Das späte Erscheinen und der Umfang unseres Textes erklären sich daraus, dass der Infoladen Daneben und die Mehrheit von uns in ihm, prominent an den in Pp kritisierten Praktiken beteiligt waren (Pp 23, 27). Den Text zu schreiben war ein mühsamer Prozess der Selbstkritik und -verständigung. So kam Pp zu spät um nachspiel. FelS-Antwort auf die Kritik an der Arranca! Nr. 8 Sexualmoralischer Verdrängungszusammenhang (arranca! Nr. 12) zu verhindern. In dieser Antwort warf sich FelS vor der Kritik (vor allem der Hh) auf den Boden und übernahm deren identitätsfeministische Argumentation. Da FelS den Zensurvorstoß der Hh entnannte, blieb uns nur, die arranca! Nr. 8 nun auch gegen die FelS-Antwort in Schutz zu nehmen und diese unsererseits kritisch auseinander zu nehmen (Pp 308-326).
Die Genauigkeit und Umfänglichkeit unserer Arbeit am Text der Hh ist erstens Ausdruck der damaligen Kräfteverhältnisse. Zweitens ein Ausdruck von Feigheit: Wir hätten uns früher deutlich positionieren und die Energie für ein eigenes, konkretes Projekt nutzen können, statt unsere Gegenspieler*innen überzeugen zu wollen. Drittens gleichzeitig ein bewusst eingesetztes Machtmittel, diese Gegner*innen auf eine argumentative Ebene zu zwingen, statt sie mit einem weiteren Ausschluss davonkommen zu lassen.
The Empire Strikes Back
Ausschlüsse gab‘s trotzdem mehr als genug. Der Infoladen Daneben ist Kind der zweiten Häuserbesetzungsbewegung. Wir lebten alle in (ex-)besetzten Häusern, die ein einigermaßen abgeschottetes Dorf in Berlin Friedrichshain bildeten, mit viel Klatsch und Tratsch. Alles Politische wurde persönlich, weil politische Zusammenhänge gleichzeitig Freundschaftsnetze waren und soziale Kontakte vor allem innerhalb dieser gesucht und gefunden wurden. Bereits vor der Veröffentlichung von PP begann soziale Meidung (die gemeinsam betriebene Kneipe verlassen, wenn welche von uns auftauchten), Rufmord (Tratsch über die Sexsucht einer von uns in ihrem unmittelbaren Umfeld; Spekulationen über die Dominanz von männlichen Gruppenmitgliedern über die weiblichen), Repression (Öffnen und Lesen verschlossener Post), Projektplena, an denen Personen teilnahmen, die nie im Projekt gearbeitet hatten, um gewichtiger gegen uns aufzutreten. In den mündlichen Auseinandersetzungen war es häufig schwer, Differenzierungen einzufordern, denn die Vorwürfe gegen uns reichten von Anti-Anti-Sexismus, Anti-Feminismus, Chauvinismus bis zu Neoliberalismus und Nazi-Vergleichen («Wir diskutieren doch auch nicht mit Nazis»).
Die Veröffentlichung in der interim, die den Anspruch hatte, im Wesentlichen einfach abzudrucken, was aus der autonomen Szene eingereicht wurde, zog sich über Wochen hin, weil verschiedene Redaktionen sich nicht einigen konnten und ein Kritiktext, der unserem vorangestellt werden sollte, nicht fertig wurde. Für die interim löste ein angeblicher Leser das Problem, indem er Pp als Sondernummer der interim druckte und verteilte, was dazu führte, dass einige Infoläden wiederum diese interim-Ausgabe nicht vertreiben wollten.
Im Anschluss an Pp entwickelte sich eine der umfangreichsten Debatten der Autonomen. Gegen viele Versuche, Pp als Ausdruck des anti-feministischen Rollbacks zu denunzieren und die Debatte wegzudrücken, wurden auch jede Menge produktive Beiträge veröffentlicht. Dabei wurden Argumente aus Pp aufgegriffen und mit inhaltlichen Verschiebungen weiterentwickelt. Begriffe und Denkformen wurden auf andere Erfahrungsbereiche angewendet und Suchbewegungen unternommen, wie politische Alternativen zur kritisierten Identitätspolitik aussehen könnten. Beispiele sind die Überlegungen der Mutlosen, die darüber nachdenken, ob das unnachgiebige Setzen auf Identitätspolitik weniger Ausdruck einer hegemonialen Machtpolitik, sondern eine Reaktion der autonomen Restbewegung auf ihre eigenen Erosionsprozesse ist (interim 438). Oder die von Fliegenpilz vorgelegte Beschreibung des Infragestellens der Identität der autonomen Männer durch feministische Politik und gleichzeitiger Verstetigung der positiven Identität der autonomen Frauen in den 1980er Jahren (interim 440). Oder der Vorschlag von My.T., jenseits der Herausbildung einer identitätsstiftenden autonomen Subkultur sachorientierte Politik in wechselnden Bündnissen zu machen und dafür aus strategischen Gründen auf frei flottierende politische Identitäten zu setzen (interim 440).
«...Demontage feministischer Politik, legitimiert mit Zitaten einer zumindest sehr umstrittenen Feministin...»
Es fanden auch szene-öffentlich angekündigte Diskussionen statt – insofern sie von uns organisiert waren ohne Zugangsbeschränkung. Andere Treffen waren nur für Frauen, oder aber ausdrücklich für alle außer uns offen. Weitere Veranstaltungen, in denen wir zeigen wollten, dass man auch anders politisch auftreten kann (zum Beispiel zu sozialen Fragen), wurden durch Raumverbote ver- oder behindert.
Heute teilen wir die Einschätzung von Sebastian Haunss, dass diese Debatte «den inhaltlichen Endpunkt einer bis dahin hegemonialen Spielart autonomer Sexismus-Auseinandersetzungen […] und eine Umorientierung bei der Betrachtung der Geschlechterverhältnisse» bedeutete. Gegen die ehemals hegemoniale identitätsfeministische Position konnte sich aber keine neue hegemoniale Position durchsetzen. Das liegt unter anderem daran, dass wir – im Unterschied etwa zur Heinz-Schenk-Debatte, aus der FelS hervorgegangen war – keinen eigenen Organisationsansatz propagierten. Unsere Versuche, die gewonnenen Einsichten in politische Organisierung umzusetzen, versandeten, oder wurden nicht von uns als Gruppe, sondern als politische Individuen in neuen Zusammenhängen umgesetzt.
Was lernt uns das?
Eine derart heftige und breite Auseinandersetzung um die weitgehend harmlosen Bilder und Texte in der arranca! Nr. 8 wäre heute so nicht vorstellbar. Die Möglichkeiten, moralisierenden Druck auszuüben sind mit der, auch in linken Zusammenhängen weiter fortschreitenden, Individualisierung gesunken.
Die Produktion und Verbreitung von Veröffentlichungen hat sich technisch wesentlich verändert: Pornos sind überall jederzeit zugänglich; Zensur funktioniert selbst innerhalb enger Zusammenhänge nicht mehr auf gleiche Weise, weil zentrale Verteilstellen für Informationen oder Ideen nicht mehr unter Szenekontrolle stehen: Der nächste Wordpressblog ist nur ein Klick weit weg.
Einige Diskursverschiebungen sind mit Verzögerung auch in linksradikalen Zusammenhängen angekommen: Die Debatte um Pornographie und Prostitution ist mit der Legalisierung von Prostitution um die Frage der Arbeitsbedingungen der Sexarbeitenden bereichert. Frauen werden nicht mehr in erster Linie als Opfer von Männern dargestellt. Queere Interventionen dekonstruktruieren binär-polare Geschlechtervorstellungen. Die Vorstellung in die Macht/ Wissenspraxen der Gesellschaft verwoben zu sein, verbreitet sich gegenüber der Vorstellung, das ganz Andere als außen darzustellen.
Zwar fällt klare Zensur aus oben genannten technischen Gründen heute schwer, trotzdem hören die Versuche, Freiräume sauber zu halten, nicht auf. Sie nehmen die Form sprach- und sittenpolizeilich durchzusetzender Benimmregeln an.
Beispiele dafür sind die moralisch anklagenden Maulkorberlasse für nicht-Poc durch reclaim society und die Ausgrenzung Fleisch grillender Rom*nija beim no-border camp in Köln 2012, das Dreadlock-Verbot für Weiße durch den Wagenplatz Schwarzer Kanal während des Konzerts der kumbia queers (Berlin 2015) oder das Verbot des Herumlaufens mit nacktem Oberkörper für Männer bei bisher allen Klimacamps in Deutschland.
Wir haben die Hoffnung, dass es mit dem Schrumpfen der Szenefreiräume leichter fällt, die Frage zu stellen, wem solche sprach- und sittenpolizeilichen Interventionen nützen: Geht es darum, einen gesellschaftlichen Widerspruch zu artikulieren – oder nützt es den Akteur*innen im politischen Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit und Einfluss in möglicherweise sehr kleinen Kreisen?
In Bezug auf nackte Männeroberkörper wird zum Beispiel argumentiert, die Männer sollten auf ein Privileg verzichten. Ein Privileg ist ein nicht verallgemeinerbares Vorrecht Einzelner oder einer kleinen Gruppe. So sind häufige Langstreckenflüge ein nicht verallgemeinerbares Privileg von Metropolenbewohner*innen, weil die ökologischen Grenzen des Planeten eine Verallgemeinerung auf alle Erdenbewohner*innen nicht zulässt, geschweige denn die ökonomischen Unterschiede dies hergeben. Warum aber sollten nicht alle bei heißem Wetter ohne Strafzettel, unbegafft und unbegrabscht mit nacktem Oberkörper herumlaufen können? Es handelt sich also um ein im Prinzip verallgemeinerbares Recht. Dieses Recht für alle zu erkämpfen ist sicher nicht einfach, wäre aber emanzipatorisch; es allen zu verbieten ist einfacher aber repressiv. Es ist eine rein machtpolitische Intervention zur Sicherung der Vorherrschaft im Freiraum, einer Gruppe diese Möglichkeit abzusprechen.
Versuche, auf gesellschaftliche Widersprüche durch sauber halten der Szenefreiräume zu reagieren, scheitern damals wie heute: Entweder gelingt es nicht, den Freiraum sauber zu halten, oder der moralisierende Verdrängungszusammenhang ist stark genug, den Freiraum auf ein kleines Häufchen Aufrechte*r zu schrumpfen, der ganz sicher gesellschaftlich einflusslos bleibt.
Leider ist es verdammt schwer, gesellschaftliche Widersprüche anzugehen, Symbolpolitik dagegen ist oft einfacher und Viele lernen dieses Spiel schon in der (Hoch)schule: So müssen Studierende an der Alice-Salomon-Hochschule für Soziale Arbeit ihre Abschlussarbeiten in geschlechtsneutraler Sprache abgeben. Was ehedem ein Kampf- und Aufklärungsmittel war, wird nun zur Vorgabe eines staatlichen Apparates gegenüber den von ihm abhängigen Studierenden.
Don‘t Shoot The Messenger
Die Studierenden spielen dasselbe Spiel, wenn der Asta derselben Hochschule (erfolgreich) die Änderung der Fassadengestaltung einfordert, weil dort ein Gedicht steht, in dem neben Alleen und Blumen auch Frauen und ein Bewunderer erwähnt werden:
avenidas
avenidas y flores
flores
flores y mujeres
avenidas
avenidas y mujeres
avenidas y flores y mujeres y
un admirador
Laut Asta reproduziert das Gedicht «eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren» (Asta Ash, 12. April 2016). Wir stimmen dem Asta zu, dass wir beim Lesen des Gedichts auch zuerst daran dachten, dass der Bewunderer Frauen wie Blumen bewundert. Liegt das aber an dem Gedicht, das, weil ohne Verben, formal interpretationsoffen ist, oder an einer patriarchalen Gesellschaft (samt ihren Kunsttraditionen), denen wir uns nur schwer entziehen können? Jede Interpretation fällt zunächst auf die Interpretierenden zurück. Wer Handlungen aus einer Interpretation ableitet, sollte vorher auf deren Bedingtheit reflektieren. Die klassisch patriarchale Kunsttradition reproduziert hier der Asta, im Gedicht steht nichts von Musen oder Künstlern, andere Lesarten sind genauso möglich: Frauen pflügen Blumen und Alleen unter, deren Bewunderer weint? Nun «erinnert» das Gedicht den Asta «unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt sind». Spricht das aber gegen das Gedicht oder sogar dafür, es von der Fassade zu nehmen? Der Asta erwähnt, dass die Entfernung des Gedichts an der Tatsache, dass sich Frauen* auf dem Vorplatz der Hochschule zu später Stunde nicht immer wohl fühlen können nichts ändert, fordert aber dennoch die Entfernung des Gedichts, statt einer Umgestaltung des Vorplatzes. Das Gedicht ist in dieser Auseinandersetzung Überbringer der unangenehmen Nachricht, dass und wie sehr die gesellschaftlichen Verhältnisse die Wahrnehmung und Argumentation auch sich selbst fortschrittlich Wähnender bestimmen. Dies mag gerade bei denen, die auf die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse drängen, ein Gefühl der Ohnmacht auslösen, das durch das Töten des Boten übersprunghaft abgewehrt wird. Über die Forderung nach Fassadenneugestaltung wird diese Ohnmacht durch ein Gefühl eigener Handlungsfähigkeit ersetzt. Unseres Erachtens zeigt der Asta hier, dass er die Machtspiele in den Gremien an der Hochschule beherrscht. Ob das vielen Studierenden oder anderen Hochschulangehörigen, Vorplatzbenutzer*innen oder Betrachter*innen der Südfassade der Ash hilft, ist fraglich.