Lacan stellt das Postulat «Il n’y a pas de rapport sexuel!» auf. Auf Deutsch: Es gibt keinen Geschlechtsverkehr. Der Rapport, den es paradoxerweise nicht gibt, verweist auf Praktiken, durch die er erst geschrieben wird. Er verweist darauf, dass das Sexuelle nur in der Praxis des Sex bestimmt ist und ansonsten unbestimmt bleibt.
Die deutsche Übersetzung greift zwar die technokratische und die gesellschaftlich disziplinierende Komponente des Rapports (Bericht, Verhältnis, Verkehr) auf, reduziert jedoch das Sexuelle zu sehr auf das Genital. Darum soll es im Folgenden um Sex im weitesten Sinne gehen. Um Selbstbefriedigung genauso wie um sämtliche Formen der Stimulation in Interaktion mit Anderen, um das Sichberühren und das Sichberührenlassen.
Beide Formen, der Sex mit sich selbst sowie der Sex mit einer oder mehreren Personen, sind gesellschaftlich diszipliniert und diskursiv deformiert. Sie greifen auf Identitätsfolien zurück und konstruieren sie mit. Die Unbestimmtheiten des Sexuellen und der eigenen sexuellen Identität werden im Schreiben des Rapports situativ bestimmt und im sich wiederholenden Rekurs auf diskursive Identitätsfolien auf Dauerhaftigkeit eingestellt.
Die Disziplinierung des Sexuellen
Wurde in der bürgerlichen Gesellschaft lange das Sexuelle über Tabus und Sanktionen diszipliniert, so scheint unter dem heutigen Primat sexueller Aufgeklärtheit alles zulässig, was gefällt und was sich im gegenseitigen Aushandlungsprozess als gewollt herausstellt: authentisches Sprechen als Gebot der Stunde. Der Diskurs ruft dazu auf, das wahre Wesen der eigenen Sexualität zu entdecken. Entsprechend weitet sich das Spektrum der Bezeichnungen von Sexualidentitäten jenseits des Heterosexuellen aus: homo-, bi-, trans-, sapiosexuell, non-binär usw. können mit zahlreichen Präfixen erweitert werden.
In der Kenntnis über die eigene sexuelle Wahrhaftigkeit finde sich schließlich die Erweckung einer Luststeigerung und ihrer Befriedigung. Denn sobald das wahre sexuelle Ich gefunden ist, könne die Lust auf ihr Maximum gesteigert werden. Das darin enthaltene Versprechen deformiert Sex an einem Leistungsprimat.
Es reproduziert sich im Porno genauso wie in den Sexkolumnen der Publikumszeitschriften. Stets auf der Suche nach dem G-Punkt, dem perfekten Blowjob, der besten Performance, normgerechten Körpermaßen usw. imprägnieren sie Vorstellungen darüber, wie Sex praktiziert werden müsse und dass seine Qualität am Orgasmus zu messen sei. Sexualität unterwirft sich der Selbstoptimierung und dirigiert die Disziplinierung der Unbestimmtheit des Sexuellen von Tabu und Sanktionierung auf Identität.
Diskursive Deformationen sexueller Praxis
Das Sprechen, das immer schon einen Appell an die eigene Identität richtet, deformiert die Identität im Rekurs auf den Diskurs. Wird beispielsweise eine heterosexuelle, männliche Folie kopiert, so schließt sie homosexuelles Begehren aus. Die Herstellung von heterosexueller Männlichkeit drückt sich dabei im Reden über Sex oft in einer Objektifizierung der Frau aus, die es gleichsam eines Leistungssports zu befriedigen gilt. Der eigene Körper, der männliche Körper, der dabei insbesondere auf seinen Penis reduziert wird, erscheint als kontrollierbares Instrument der Penetration, dessen Kontrollverlust es selbst wiederum zu kontrollieren gilt: Viagra. Die Frau wird als passives und der Mann als aktives Wesen deformiert, sodass eine Frau, die aktiv Analsex betreibt, in heterosexuellen Kontexten nahezu undenkbar wird.
Die diskursive Deformation der Identität vollzieht sich jedoch nicht in einem reinen Kopieren von Folien, so als ob es kein Jenseits des Diskurses gäbe. Vielmehr müssen sich die Folien an den eigenen Erfahrungen und Reaktionen des eigenen Körpers und der anderen Körper in den jeweiligen sexuellen Praktiken bewähren können.
In der sexuellen Praxis formieren sich körperliche Reaktionen zu Symbolen, indem sie auf gesellschaftlich produzierte Bedeutungszusammenhänge bezogen werden. Die Lust der Anderen ist mit ihrer körperlichen Erregung verbunden, an ihr wird die Situation bewertet, um mögliches Verhalten beizubehalten oder zu verändern. Sexflush, Feuchtigkeit, Erektion etc. formieren sich als symbolische Marker, die es in Bezug auf die eigene Identität zu setzen gilt. In diesem Moment werden Vorstellungen und Normen, die durch Diskurse geprägt worden sind, in den Sex eingespeist. Sie ermöglichen und schließen Handlungen aus. Wird Analsex als vermeintlich homosexuelle Praxis für eine heterosexuelle Identität disqualifiziert, so verhindert der Ausschluss der Praxis, dass erfahren werden könnte, ob in ihr ein jeweiliger Lustgewinn liegt. Der Ausschluss von Praktiken, die nie erprobt wurden, stabilisiert gleichsam die Gültigkeit von kopierten Identitätsfolien.
Das Symbolische des Körpers rückt den Orgasmus, der gleich als Währung des Sexuellen die konkrete sexuelle Erfahrung normiert, in den Fokus des Sexes. Mit ihm werden Vergleiche zu früher, zu anderen Praktiken und anderen Sexualpartner*innen möglich. Durch den Vergleich wird die situative Eigenheit jedes sexuellen Ereignisses auf die generelle Gültigkeit der eigenen Identität bezogen. Gelingt der Orgasmus, dann dient er der Rückversicherung der eigenen Identität und validiert sie. Der Orgasmus avanciert zum Symbol, über das ein Leistungsprimat in die sexuelle Praxis eingeschrieben werden kann.
Bleibt der Orgasmus aus, dann mahnt der Diskurs an, dass etwas nicht stimmen kann. Am Abgleich der Identität mit der zu erwartenden Leistung setzt sich das aktuelle sexuelle Erleben diskursiv unter den Druck besser, authentischer, wahrer sein zu müssen, um die gewählten Identitätstitel als Essenz der eigenen Sexualität zu läutern. Das darin angelegte Scheitern deformiert das Sprechen über Sex. Denn potenzielle Brüche zwischen Identitätstitel, Erleben und Wünschen können nicht ausgesprochen werden, ohne das eigene und das andere Selbstverständnis zu prekarisieren. Um die Gültigkeit der Identität aufrechtzuerhalten, wird identitäre und emotionale Nacktheit gegenüber der Anderen zugunsten körperlicher Nacktheit ausgeschlossen. Wahrhaftigkeit geht dabei nicht nur, wie es sich in der Vice lesen lässt, im immer schon zu erwartenden Vortäuschen des Orgasmus verloren, sie deformiert auch das Sprechen über das eigene Erleben, in der Erwartung dem Identitätstitel gerecht werden zu müssen.
Sobald das Sprechen über Sex im Moment des Orgasmus den Marker erfüllten Sexes stilisiert, findet es sich nicht darin wieder, sich der Körperlichkeit des jeweils Sprechenden zu widmen, ihre gesellschaftliche Konstruktion zu verstehen und sich in gleicherweise auf die*den Andere*n zu beziehen, sondern darin, die Identität zu behaupten, die das Heilsversprechen des Orgasmus liefert. Der Diskurs siegt über das Authentische des Erlebten.
Authentisches Sprechen als Widerständigkeit
Soll über Sex authentisch gesprochen werden, muss das Sprechen sich auf das eigene sexuelle Erleben und Begehren beziehen und sich vom Diskurs und seinen Kategorien emanzipieren. Nur ist das eigene Erleben schon durchzogen von ihm. Durch ihn werden die eigenen und die körperlichen Reaktionen von anderen deutbar. Erst durch den Bezug auf Diskurse lässt sich ein Begriff vom sexuellen Erleben machen.
Im Gegensatz zum authentischen Sprechen droht das emanzipatorische Sprechhandeln, die dadurch errungene und benannte Identität als authentisch gegenüber der diskursiv deformierten Heteronormativität zu zelebrieren. Es konstruiert Gegenidentitäten beispielsweise in der Verkehrung von Symbolen des Sexuellen (queering). Mit ihnen lassen sich zwar tradierte Diskursformationen aufdecken, kritisieren und ihre Deformation markieren. Sie inszenieren sich jedoch als nicht-deformierte Alternativen. Das Erweckungserlebnis des Orgasmus tut sein Übriges und totalisiert die Gültigkeit der gegen Widerstand errungenen Identität, sodass auch sie sich diskursiv zu deformieren beginnt.
Ein authentisches Sprechen hingegen konstruiert die eigene Identität und damit die eigene Sexualität als ein kontingentes Fundament. Judith Butler hat die Figur des kontingenten Fundamentes starkgemacht und damit betont, dass immer Fundamente, die auch anders sein könnten, gesetzt werden müssen, um diskursiv agieren zu können.
Am Anfang steht eine Identität. Sie wird dem Diskurs abgerungen und ermöglicht erst dadurch sich selbst zu positionieren. Sie ist aber nie am eigenen Erleben, Begehren und Handeln ausgerichtet, sondern generalisiert. Sie steuert Handlungen und setzt Selbstverständlichkeiten voraus, ohne sie zu hinterfragen.
Statt beispielsweise den Orgasmus zum Prüfstein der Identität und zum Teil eines Leistungsprimats zu machen, kann ein authentisches Sprechen auf die Einzigartigkeit des Erlebten hinweisen, metaphorisch und ausschweifend sein.
Von Identität authentisch zu sprechen, bleibt ein unlösbares Rätsel. Denn am Ende wartet keine wahre Identität. Das authentische Sprechen selbst verklärt sich, wenn es Identität formuliert. Immer ist das authentische Sprechen als paradoxe Praxis genötigt, sein kontingentes Fundament im nächsten Moment durch Dekonstruktion wieder zu zertrümmern. Daraus kann Widerständigkeit entstehen, weil es Identität verflüssigt und nicht in diskursiven Kategorien erstarren lässt. Es produziert dynamische Identitäten, die sich nicht generell, nur situativ, festzulegen brauchen. Statt beispielsweise den Orgasmus zum Prüfstein der Identität und zum Teil eines Leistungsprimats zu machen, kann ein authentisches Sprechen auf die Einzigartigkeit des Erlebten hinweisen, metaphorisch und ausschweifend sein.
Lasst uns vom Erleben, Begehren, den damit verbundenen Ängsten und dem Unkontrollierbaren des eigenen Körpers sprechen: Nicht auf kontrollierte Identität setzten, Identität nicht an den Formen des Diskurses einschränken, sondern Geschichten über ihre Brüche erzählen. Die diskursive Hoheit von Identitätstiteln kann dann zumindest im eigenen Sprechen erodieren.