Transmisogynie

…setzt sich zusammen aus Sex­ismus, Transfeindlichkeit und Femininitätsfeindlichkeit. Sie richtet sich gegen Menschen, die eine weibliche Identität und/oder Performance haben, aber als «eigentlich männlich» gelesen werden. Siehe auch: FaulenzA in dieser Ausgabe.

«Lässt sich unsere Geschlechtersozialisation verlernen?» war eine der Leitfragen dieser arranca! Vor dem Hintergrund meiner Geschichte in linken Zusammenhängen lese ich diese Frage inzwischen eindeutig als Einleitung zu einer Reihe von aufeinander aufbauenden Diskursfragmenten, die in der Summe immer wieder auf die Nicht-Anerkennung der Identität und den Ausschluss von trans* Weiblichkeiten aus feministischen Räumen hinauslaufen.

So wie die Frage formuliert ist, offenbart sich ein ganz bestimmtes, in linken deutschen Diskursen um Geschlecht sehr verbreitetes Verständnis von Geschlechtersozialisation, das zwar im Kontext von cis Geschlechtlichkeit einigermaßen zu funktionieren scheint, aber fatale Auswirkungen zeigt, sobald der Diskurs auf trans* Geschlechtlichkeit erweitert wird.

«Lässt sich unsere Geschlechter­sozialisation verlernen?»

In dieser Frage stecken zwei Schlüsselbegriffe: «Geschlechtersozialisation» und «verlernen». Etwas das verlernt werden kann, muss vorher erlernt worden sein. Die Formulierung lässt sich «verlernen» deutet auf einen aktiven Prozess des Verlernens. Da wir nicht aktiv erlerntes Wissen verlieren können, muss ein Entlernen darüber stattfinden, das bereits Erlernte durch anderes, neu zu lernendes Wissen zu ersetzen. Geschlechtersozialisation ist also als etwas konzipiert, das mensch lernt und das sich (möglicherweise) durch aktive Aneignung alternativen Wissens ersetzen bzw. überschreiben lässt. Oder eben auch nicht.

«Geschlechtersozialisation» ist demnach die Summe dessen, was wir über Geschlecht und Geschlechterrollen lernen. Dazu gehört, dass es die zwei Geschlechter Frau und Mann gibt, dass jeder Mensch einem dieser beiden Geschlechter angehört, dass das Geschlecht in der Körperlichkeit eines Menschen verankert und an bestimmten körperlichen Merkmalen erkennbar und/oder unterscheidbar ist. Darüber hinaus gibt es einen bunten Mix aus Vorgaben und Möglichkeiten in Bezug darauf, welche Eigenschaften Menschen eines Geschlechts teilen, und wie Menschen der beiden Geschlechter zueinander stehen. Dieser Mix ist in den vergangenen Jahrzehnten kräftig durchgeschüttelt worden und das Verständnis davon, wie «natürlich» oder «erlernt» derartige Eigenschaften und Verhaltensweisen sind, hat sich von der Natürlichkeit (Biologie) zum Lernen (Sozialisation) verschoben.

Die Frage nach dem «Verlernen unserer Geschlechtersozialisation» ist die Frage danach, inwieweit wir unserem erlernten Frau-Sein oder Mann-Sein in seiner gegenwärtigen Form entkommen können. Dabei ist wichtig, dass Sozialisation nicht nur aus «Du als Mädchen/Junge»-Botschaften besteht, mit denen Menschen einerseits immer wieder aufs Neue ein Geschlecht zugewiesen wird und mit denen ihnen mitgeteilt wird, was für sie als Angehörige des zugewiesenen Geschlechts angemessen ist oder nicht. Es gibt auch die allgemeinen Botschaften darüber, was es bedeutet Frau/Mädchen bzw. Mann/Junge zu sein, die wir alle lernen, unabhängig davon, welche Geschlechterposition uns individuell zugewiesen wird. «Wissenschaftliche» Erklärungen sind ebenso Teil davon wie soziale Normen. Jungen und Mädchen lernen eben gleichermaßen, dass Rosa bäh und Weinen schwächlich ist, dass Mädchen schwächer und minderwertiger als Jungen sind, dass diejenigen, die Rosa mögen und/oder weinen, Mädchen sind, und dass «richtige Jungs» stark und sportlich sind – um nur einmal ein paar Klischees zu nennen. Zusammen mit dem Geschlechterdualismus lernen wir das hierarchische Verhältnis der Geschlechter und die Kriterien, anhand derer wir Menschen in diese Hierarchie einsortieren.

Allerdings sind die meisten dieser Kriterien nicht klar und eindeutig, sondern widersprüchlich, umstritten und je nach Kontext unterschiedlich. So ist lautes und aufbrausendes, im Gegensatz zu leisem und zurückhaltendem Redeverhalten je nach Kontext ein Geschlechts- oder ein Klassenmarker, und wird entweder verwendet um die Person, die das so bewertete Verhalten zeigt, in eine Gruppe (zum Beispiel der «Männer» oder der «Prolls») einzuschließen, oder von dieser abzugrenzen (zum Beispiel «keine Frau» oder «hat nicht studiert»). Diese kontextbezogene Widersprüchlichkeit macht es auch unmöglich zu definieren, was für ein Bild eine Gesellschaft vom sozialen «Mann-Sein» oder «Frau-Sein» hat, weil zu viele Aspekte ihrem Kontext entrissen und in einem anderen Kontext gegenteilig interpretiert werden können.

Ein Weg aus dem Dilemma der kontextbezogenen Widersprüchlichkeit heraus ist, dass Menschen üblicherweise nur einen Teil der vergeschlechtlichten Aspekte ihrer Person als identitär betrachten. Andere Aspekte wiederum werden als Abweichungen behandelt, die an der eigenen Geschlechtsidentität nichts ändern. Wie identitär bestimmte Aspekte für eine Person werden, ist dabei stark von den eigenen Umfeldern und daran geknüpften Erfahrungen abhängig.

«Sozialisation» ist ein lebenslanger Prozess. Über die bereits beschriebenen Aspekte hinaus ist deswegen auch jeder Versuch, den bisherigen eigenen Sozialisationsverlauf zu beschreiben und aktiv Einfluss auf die ansozialisierten Inhalte zu nehmen, Teil des Sozialisationsprozesses. Aus diesem Grund können Verlauf und konkrete Auswirkungen dieses Prozesses auf eine Person nicht vorhergesagt werden. Es muss immer auch der eigene aktive Anteil an der Verarbeitung und Integration oder Zurückweisung der Erfahrungen als Faktor mitberücksichtigt werden. Bestimmte Eigenheiten, Verhaltensweisen oder Charakterzüge einer Person lassen nicht zwangsläufig Rückschlüsse darauf zu, dass sie Ergebnis von Sozialisationserfahrungen sind. Und noch viel weniger lassen sie Rückschlüsse auf bestimmte, vergangene Sozialisationserfahrungen zu!

Von der verkürzten Analyse zur transmisogynen Praxis

Das Problem an verkürzten Geschlechtersozialisationsdiskursen sind vor allem die Schlussfolgerungen, die aus der verkürzten Analyse gezogen werden. Viele Linke, die über Geschlechtersozialisation sprechen, leiten die Annahme ab, dass sie etwas über die Erfahrungen, Einstellungen und Verhaltensweisen einer Person wüssten, weil diese Person ja als Angehörige*r eines Geschlechts eine entsprechende Sozialisation erlebt hätte. Es ergibt sich so die Konstruktion homogener Kollektive, über die mensch glaubt, für jedes Mitglied des Kollektivs gleichermaßen gültige Aussagen treffen zu können. Dabei kann es entweder darum gehen, von sich auf andere zu schließen (du wurdest demselben Geschlecht zugewiesen wie ich, also haben wir einen geteilten Erfahrungsschatz), sich von anderen abzugrenzen (du wurdest einem anderen Geschlecht zugewiesen, also kannst du meine Erfahrungen nicht gemacht haben) oder Gemeinsamkeiten mit anderen herzustellen (du wurdest demselben Geschlecht zugewiesen wie Person Xy, also habt ihr die gleichen Eigenschaften/Einstellungen…).

In der Praxis wurden aus der allgemeinen Beschäftigung mit Sozialisation und Geschlecht heraus die beiden Konzepte «weibliche Sozialisation» und «männliche Sozialisation» destilliert. Da es mittlerweile einigermaßen Konsens ist, dass Geschlecht in unserer Gesellschaft unter den Bedingungen des Patriarchats existiert, dass Männlichkeit privilegiert, dass «männliche Sozialisation» das Synonym für «Erziehung zum patriarchalen Unterdrücker» ist, während «weibliche Sozialisation» für «Erfahrung patriarchaler Unterdrückung» steht. Über «weibliche Sozialisation» wird Community hergestellt – Frauen beziehen sich aufeinander mit der Vorannahme der geteilten Erfahrungswelt, vom Patriarchat unterdrückt zu werden. Über «männliche Sozialisation» findet die Lokalisierung patriarchaler Unterdrückungsmechanismen in Individuen statt.

‹Männliche Sozialisation› als Konzept ist aber als Argument entwickelt worden um zu begründen, warum FrauenLesbenTrans* (Flt*)-Räume trans* Männlichkeiten ein- und gleichzeitig trans* Weiblichkeiten ausschließen sollten.

Von «Geschlechtersozialisation» zu «männlicher Sozialisation» ist es dabei nur ein kleiner Schritt, der auch noch eine innere Logik besitzt. «Männliche Sozialisation» als Konzept ist aber als Argument entwickelt worden um zu begründen, warum FrauenLesbenTrans* (Flt*)-Räume trans* Männlichkeiten ein- und gleichzeitig trans* Weiblichkeiten ausschließen sollten. Die Logik ist simpel: Trans* Männlichkeiten wurden «weiblich sozialisiert», teilen damit eine Erfahrungswelt mit cis FrauenLesben, und repräsentieren deswegen unabhängig von ihrer Geschlechteridentität die unterdrückte Seite im Patriarchat. Trans* Weiblichkeiten dagegen wurden «männlich sozialisiert», können daher die Erfahrungswelt von cis FrauenLesben nicht teilen, und repräsentieren deswegen die unterdrückende Seite des Patriarchats. Diese Argumentation wird manchmal noch verschärft: Trans* Weiblichkeiten bringen das Patriarchat in FrauenLesben-Räume, die ja explizit als Schutzräume geschaffen wurden. Teilweise wird sogar argumentiert, dass die Forderung von Transfrauen, Teil von Frauenräumen zu sein, ein Ausdruck von «male entitlement» oder gar eine bewusste Grenzverletzung von (cis) Frauen sei. Letztlich geht es bei der Frage um den Ein- oder Ausschluss von Räumen nie ausschließlich um den Zugang zu diesen Räumen, sondern immer auch darum in wie weit trans* Weiblichkeiten ihr Geschlecht zugestanden wird, oder eben auch nicht. Auf die problematische Perspektive auf trans* Männlichkeiten, die in dieser Argumentation enthalten ist, weise ich an dieser Stelle nur hin.

Vereindeutigung der Geschlechternarrative reproduziert normative Zweigeschlechtlichkeit

Das ist die eine Seite des Problems. Aus trans* weiblicher Perspektive sind im derartigen Reden über Geschlechtersozialisation die Argumente immer schon enthalten, mit denen uns unsere Weiblichkeit oder unser Frau-Sein abgesprochen wird. Die andere Seite des Problems ist weniger offensichtlich: Der permanente Druck, die Zuschreibung von «männlicher Sozialisation» zurückzuweisen, führt auch in der Zurückweisung zu Argumenten, die der Komplexität von trans* Identitäten nicht gerecht werden.

Wenn wir uns gegen das «männliche Sozialisation»-Argument wehren wollen, müssen wir die vielen Ebenen betonen, auf denen diese Sozialisierung für uns nicht zutraf oder nicht funktioniert hat. Dies aber führt zu einer Vereindeutigung unserer Geschlechternarrative, die ein Sprechen über die gegen- oder andersgeschlechtliche Vergangenheit nur noch als Fehler und die trans* Gegenwart als Korrektur benennen kann: «Ich war schon immer ein Mädchen, auch wenn ich als Junge erzogen wurde, und jetzt nach meiner Transition kann ich mein wahres Geschlecht leben.» So stimmig dieses Narrativ für viele trans* Weiblichkeiten ist, so wenig Raum lässt es für diejenigen von uns, die entweder ihre Gender-Dysphorie [Störung des emotionalen Erlebens, Anmerkug der Redaktion] nicht schon in der Kindheit benennen konnten, oder sie überhaupt erst zu einem späteren Zeitpunkt entwickelt haben, unser geschlechtliches Gewordensein in seinen unterschiedlichen Facetten zu benennen und uns zu eigen zu machen.

Anders gesagt erzwingt die Idee «weiblicher» und/oder «männlicher Sozialisation» die Annahme, dass Menschen über den gesamten Verlauf ihres Lebens dasselbe Geschlecht haben – was nur, im Fall von trans* Menschen, zunächst falsch zugewiesen wurde. Die Möglichkeit, in unterschiedlichen Abschnitten des Lebens ein unterschiedliches Geschlecht zu haben, wird dadurch undenkbar. Und alle positiven Erinnerungen an unsere «gegengeschlechtliche» Vergangenheit müssen wir zu Fehlern umdeuten, damit sie erzählbar bleiben.

Antifeministische Konsequenzen einer verkürzten feministischen Argumentation

Neben den Ausschlüssen aus Fl- und Flt*-Räumen und der Reproduktion normativer Zweigeschlechtlichkeit in den Anrufungen an trans* Weiblichkeiten, führen die genannten Geschlechtersozialisations-Diskurse gerade, wenn es um Sexualität und Sex geht, auf einer weiteren Ebene zu Transmisogynie: Aus der Vorannahme «männlicher Sozialisation» entsteht sehr häufig die Projektion, trans* Frauen würden sich in ihrer Sexualität «wie Männer verhalten». Trans* Weiblichkeiten, die (cis) Frauen begehren, wird unterstellt sie würden sich diesen gegenüber übergriffig verhalten, weil ihnen dieses Verhalten ja «ansozialisiert» sei. Dies ist der Komplementär-Diskurs zu den unzähligen Auseinandersetzungen um trans* weibliche Genitalien, deren reiner Anblick angeblich triggert, weil sie das Patriarchat symbolisieren.

«Aus der Vorannahme ‹männlicher Sozialisation› entsteht sehr häufig die Projektion, trans* Frauen würden sich in ihrer Sexualität ‹wie Männer verhalten›. Trans* Weiblichkeiten, die (cis) Frauen begehren, wird unterstellt sie würden sich diesen gegenüber übergriffig verhalten, weil ihnen dieses Verhalten ja ‹ansozialisiert› sei.»

Zusammen erzeugen diese beiden Diskurse eine Idee von trans* weiblicher Sexualität, die durchgehend bedrohlich skizziert ist, und auf der Body Shaming, Ausgrenzung und Isolation beruhen – das beginnt bei Debatten um unseren Zugang zu «Frauen-Toiletten» und endet nicht nur bei Sonderbehandlung auf oder Ausschluss von Flt*-Sexpartys, sondern auch bei der Verweigerung des Zugangs zu Frauenhäusern und Isolation in frauenspezifischen Einrichtungen (wie Krankenhaus-Stationen oder Frauengefängnissen). Linke und Feminist*innen machen sich hier – ob beabsichtigt oder nicht – zu Steigbügelhalter*innen einer trans*-, queer- und oft genug frauenfeindlichen Rechten.

Ich bestreite nicht, dass es so etwas wie Geschlechtersozialisation gibt. Ich bestreite noch nicht mal, dass es so etwas wie «weibliche Sozialisation» oder «männliche Sozialisation» gibt. Für cis Menschen gibt es die vermutlich. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Prozessen, denen wir alle ausgesetzt sind und die aber – schon, weil wir an ihnen partizipieren – bei jeder*m von uns unterschiedlich verlaufen, und einem definierten Set an Erfahrungen und daraus abgeleiteten Eigenschaften, Einstellungen und Verhaltensweisen, die sich aus einer «Geschlechtersozialisation» ableiten. Es gibt einen Unterschied zwischen der Wahrscheinlichkeit, bestimmte Erfahrungen im Rahmen der eigenen Geschlechtersozialisation zu machen und der Annahme, dass diese Erfahrungen unumgänglich sind. Es gibt einen Unterschied zwischen «vielen» und «allen» Angehörigen eines Geschlechtes, die bestimmte Erfahrungen machen oder gemacht haben.

Und so lange diese Unterscheidungen in linken Diskursen um Sozialisation und Geschlecht so wenig vorgenommen werden, so lange werden Geschlechtersozialisations-Diskurse für uns als trans* Weiblichkeiten ein Symbol für die Nicht-Anerkennung unserer geschlechtlichen Identität und daraus resultierender Diskriminierung und Gewalt bleiben. Nicht weil sie es zwangläufig sind, sondern weil sie in der Realität noch viel zu oft so geführt werden.