Die Aufarbeitung des Verhältnisses der Grünen Partei zu sexuellem Kindesmissbrauch hat die Bündnisse zwischen Schwulen- und Pädobewegung in Erinnerung gerufen. Die heutigen offiziellen Vertreter*innen von Lsbti-Lobby-Organisationen distanzieren sich von dieser Geschichte. Eine Auseinandersetzung, die grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Machtmissbrauch und Sexualität stellt, ist jedoch ausgeblieben. Die meisten Akteure von damals waschen ihre Hände entweder in Unschuld, da sie angeblich immer schon auf der «richtigen» Seite der Pädo-Gegner*innen gestanden hätten, oder sie schweigen beharrlich. Abgesehen von der halbherzigen öffentlichen Entschuldigung eines Volker Beck kenne ich sehr wenige schwule Stimmen, die zu verstehen versuchen, was war und wie es dazu kommen konnte. Der Herausgeber des Onlinemagazins Queer.de, Micha Schmidt, hatte zwar 2015 den Mut, zu seinen damaligen Positionen zu stehen und sie zu revidieren. Außer falsch verstandener Radikalität (die sicher ein Grund war) fand er aber keine Erklärung und kann heute nur unverständlich den Kopf schütteln. Immerhin lautete seine Schlussfolgerung: «Eine schonungslose Aufarbeitung sind wir nicht nur den Opfern, sondern auch der jüngeren queeren Generation schuldig, die wir mit unseren Fehlern aus der Vergangenheit ungewollt in Mitleidenschaft ziehen.» Dazu ist es bisher nicht gekommen.
Männer als Opfer sexueller Gewalt?
Glücklicherweise wurde ich schwulen- und queerpolitisch erst in den Neunzigerjahren sozialisiert, als das Bündnis mit den Pädos zugunsten des Bündnisses mit den Lesben, die ihre Perspektive auf sexuelle Gewalt einbrachten, aufgegeben worden war. Trotzdem werden sexuelle Gewalt und die Sexualisierung von Machtverhältnissen im Zusammenhang mit patriarchaler bzw. «toxischer» Männlichkeit in der schwulen Community nach wie vor tabuisiert. Zu viel steht auf dem Spiel: die Infragestellung schwuler Ikonen des Begehrens und schwuler Selbst-Ideale.
Ganz zu Recht machte die Siegessäule im Juni 2017 mit dem Titel Tabu brechen: Sexueller Missbrauch an schwulen Männern auf. Die Analyse des Autors Jan Großer ist aber enttäuschend: Schwule Männer würden nur dann Opfer sexueller Gewalt, wenn sie Drogen nähmen und nicht mehr in der Lage seien, sexuelle Grenzen zu artikulieren. Männer, so die unterschwellige Botschaft, sind eben keine Opfer, es sei denn, sie machen sich dazu, indem sie ihre Souveränität selbstverschuldet einschränken. Bei einer Zeitschrift, die für sich in Anspruch nimmt, verschiedene queerpolitische Ansätze zu verbinden, überrascht es, dass sich keine Redakteur*in fand, die einwandte: «Moment! Sexuelle Gewalt, Männlichkeit, da brachten politische Auseinandersetzungen noch anderes zur Sprache, sei es seitens der Frauen- und Lesbenbewegung oder seitens von Transsexuellen, Queers of Color oder Behinderten. Deren gesellschaftliche Erfahrung mit Sexualität und Macht ist nämlich nicht nur eine von Ringelpiez mit Anfassen, sondern auch von sexueller Stereotypisierung, Ausbeutung, Grenzüberschreitung, Objektivierung und Unterwerfung. Sie haben darauf hingewiesen, dass sexuelle Gewalt nicht nur individuelles Fehlverhalten ist, sondern eingebettet ist in missbräuchliche Gewalt- und Machtverhältnisse, die die sexuelle Verfügbarkeit der einen zugunsten der sexuellen Verfügungsmacht der anderen herstellen. Diese Verfügungsmacht stützt sich auf Vorstellungen und Privilegien von (weißer, souveräner, patriarchaler) Männlichkeit. Deshalb lassen sich solche Verhältnisse nicht nur durch größere Sensibilität beim Aushandeln sexueller Begegnungen ändern. Es müssen Machtstrukturen geändert werden, die sexuelle Gewalt begünstigen und Täter*innen schützen. Dies ist eine gesellschaftliche Aufgabe.»
«Das begeisterte Bejahen und Ausleben der eigenen Sexualität ist so sehr emanzipatorisches Fundament schwuler Identität, dass die nicht so schönen Seiten der Sexualität ausgeblendet werden. Tief sitzt die Überzeugung, dass Männer nicht Opfer sein können und dürfen.»
Eine solche Reflexionsgrundlage fehlt der schwulen Community. Es steht kein Diskurs bereit, mit dem sich Erfahrungen sexueller Gewalt oder auch nur Grenzverletzungen verhandeln ließen. In den Neunzigerjahren gab es zwar vereinzelt Auseinandersetzungen mit dem feministischen Diskurs zu sexueller Gewalt, doch diese hatten keine nachhaltigen Folgen für die breite schwule Community. Das begeisterte Bejahen und Ausleben der eigenen Sexualität ist so sehr emanzipatorisches Fundament schwuler Identität, dass die nicht so schönen Seiten der Sexualität ausgeblendet werden. Tief sitzt die Überzeugung, dass Männer nicht Opfer sein können und dürfen. Viele schwule Männer sind überzeugt, dass sexuelle Gewalt unter Schwulen nicht vorkommt.
Schwuler Gleichheitsmythos
Grund dafür ist die Annahme, schwule Verhältnisse seien durch den Wegfall heterosexueller Machtdynamiken egalitär. Diese Vorstellung hat Christian Klesse als «Gleichheitsmythos» kritisiert. Dem steht die Allgegenwart von Machtungleichheiten in schwuler Literatur, Kunst, Pornografie und Szene gegenüber. Hierarchien des Alters, des unterschiedlichen Grades von Männlichkeit, der sozialen Klasse, der Hautfarbe, des militärischen Ranges, der sexuellen Rolle durchziehen schwule Erfahrungs- und Imaginationswelten. Warum wird sexuelle Machtausübung, Grenzüberschreitung und Gewalt in der Geschichte schwuler Kulturen und Bewegungen einerseits so häufig sexualisiert, aber so selten zum Problem gemacht? Warum sind Stimmen der Opfer solcher Erfahrungen nicht Teil des kollektiven schwulen Gedächtnisses? Welche Männlichkeitsnormen und Machtstrukturen sorgen dafür, dass solche Stimmen kein Gehör finden oder erst gar nicht das Wort ergreifen?
Im Gespräch auf queer.de mit dem Archivar des Schwulen Museums*, Wolfgang Cortjaens, reduzierte der Produzent schwuler Pornofilme, Felix Kamp, die Sexualisierung von Differenzen, wie der von Hautfarbe oder Alter, auf reizvolle «Kontraste». Das aktuelle Phänomen von Daddy/Twink-Pornos, also von Konstellationen von Männern um die 50 mit Männern um die 20, habe nichts mit pädosexuellen Fantasien zu tun: «Ist man pädophil, wenn man 50 ist und auf 20-Jährige steht? Ich weiß es gesetzlich betrachtet nicht, aber trotzdem wird man da in der Schwulenszene sehr negativ angesehen, wenn man das zugibt. Derweil in der Heterowelt niemand mit der Wimper zuckt, wenn ein 60-jähriger Kerl ein geiles blondes Mädel von 20 Jahren am Arm hat. Vermutlich wirken da noch die endlosen Pädophilie-Debatten aus der deutschen Aktivistenszene der Achtzigerjahre nach?» Um die Frage zu beantworten: Nein, das ist keine Pädophilie, und der erhebliche Altersunterschied ist erst problematisch, wenn mit ihm ein Machtgefälle einhergeht, das der Mächtigere ausnützt. Eine solche Situation wäre allerdings nicht ungewöhnlich.
Entpolitisierung sexueller Verhältnisse
Ich möchte nicht die Sexualisierung der Inszenierung von Machtdifferenzen als solche dämonisieren. Als jemand, der lange in der schwulen und queeren Bdsm-Community aktiv war, erlebe ich sie als eine lustvolle Möglichkeit, Erfahrungen und Fantasien von Macht und Ohnmacht in einem intimen Rahmen kreativ zu bearbeiten und umzuarbeiten. Bdsm-Communitys haben häufig kritisch über sexuelle Machtverhältnisse nachgedacht und Verhaltensweisen und Codes entwickelt, die gewaltfreies sexuelles Handeln ermöglichen sollen. Kritisieren möchte ich die Entpolitisierung sexueller Verhältnisse, Handlungen und Fantasien, die so tut, als würden sich, wenn die grundsätzliche Bereitschaft aller Beteiligten einmal vorausgesetzt werden kann, im Sexuellen alle Machtkonflikte in Lust auflösen.
Was sexuell fetischisiert wird, soll nicht entzaubert werden, indem es politisch angefochten wird. Die schwulen Ikonen normativer Männlichkeit werden so zu einer sexuellen Geschmacksfrage. Ihre Verbindung zu patriarchaler, militaristischer und faschistischer Männlichkeit, zu sozialer Klasse sowie zu Rassismus und Antisemitismus wird nicht problematisiert. Die Identifikation mit und das Begehren nach Männlichkeit verteilen Empathie und Solidarität ungleich. Die darüber transportierte sexuelle Politik verfolgt eine einseitige, männlich-sexuelle Handlungssouveränität. Sexuelle Gewaltverhältnisse werden so legitimiert und normalisiert.
«Innerhalb des Gefüges hegemonialer Männlichkeit können schwule Männer einerseits die patriarchale Dividende kassieren, sind andererseits aber in Abhängigkeit von übrigen sozialen Merkmalen in ihrer Männlichkeit mal mehr, mal weniger beschädigt.»
Innerhalb des Gefüges hegemonialer Männlichkeit können schwule Männer einerseits die patriarchale Dividende kassieren, sind andererseits aber in Abhängigkeit von übrigen sozialen Merkmalen in ihrer Männlichkeit mal mehr, mal weniger beschädigt. Völlig ausgeschlossen aus dem sexuellen Imaginären sind meistens Machtunterschiede, die auf einer Ungleichheit des Geschlechtsausdrucks beruhen, zum Beispiel durch die gelingende oder mangelnde Erfüllung von Männlichkeitsnormen. Gleichwohl sind sie in schwulen Lebenswelten allgegenwärtig, und sei es in der Abgrenzung: «Tunten zwecklos».
Weiblichkeit, Tuntigkeit, Effeminiertheit und Unmännlichkeit werden entsexualisiert, entwertet und unartikulierbar gemacht.
Begehrensmuster lustvoll umbesetzen
Das Besondere des schwulen Umgangs mit sexueller Gewalt besteht in der widersprüchlichen Gleichzeitig von Identifikation mit übergriffiger Männlichkeit einerseits und Stigmatisierungs- und Entmännlichungserfahrungen andererseits. Dieser Widersprüchlichkeit muss man Rechnung tragen. Bedürfnisse nach Schutz und Sicherheit vor sexueller und homophober Gewalt müssen gleichwertig neben solchen nach sexueller Handlungsfähigkeit und verantwortetem Risiko stehen. Begehrensmuster lassen sich schwer ändern. Sie müssen aufgegeben werden, indem andere lustvoller werden. Moralische Urteile heizen das Begehren eher an. Wichtig wäre zunächst ein aufrichtiges Interesse an den sexuellen Gewalterfahrungen schwuler Männer und Jugendlicher, das diese als Stein des Anstoßes begreift, um Community-Strukturen zu ändern. Gerade ist mit Edouard Louis‘ Im Herzen der Gewalt die literarische Schilderung eines schwulen Erlebnisses sexueller Gewalt erschienen. Mit Kevin Spacey sind auch schwule sexuelle Übergriffe Gegenstand der Diskussion um Machtstrukturen in Hollywood geworden. Anlässe gibt es also genug.